Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 19. Jg. Heft 1 - Mai 2012
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Streiflichter


Studium Integrale Journal
22. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2015
Seite 53 - 62




Im Hinterleib der Wale und Delfine stecken paarige Knochen, die gewöhnlich als evolutionär bedingte Reste eines früheren Beckens von Landsäugetieren interpretiert werden. Dass diese Abdominalknochen nicht funktionslos sind, weil sie die Muskulatur der Geschlechtsorgane unterstützen, ist schon lange bekannt. Eine neue Studie offenbart darüber hinaus artspezifische Anpassungen, aus denen geschlossen werden kann, dass diese Knochen nicht als bloße Rückbildungen interpretiert werden können – erneut das Ende eines rudimentären Organs.

„Rudimentäre Organe“ spielen traditionell eine wichtige Rolle als Indizien für Evolution. Solche Organe gelten als rückentwickelt und funktionsschwach (oder sogar funktionslos) und werden einerseits als Belege für eine degenerative Evolution gewertet, andererseits vor allem als Argumente gegen eine planvolle Schöpfung ins Feld geführt: Ein Schöpfer würde keine unnützen Organe erschaffen; gibt es sie doch, spreche das gegen einen Schöpfer und damit für Evolution. Bereits Darwin hat auf diese Weise argumentiert. Dieses Argument ist aus mehreren Gründen fragwürdig (Junker 2002, Kapitel 6); es verliert aber besonders dann an Kraft, wenn eine für die vorhandene Struktur angemessene Funktion nachgewiesen werden kann. Denn spätestens dann ist die Behauptung hinfällig, es gebe „Pfusch am Bau“.

Ein Klassiker unter den rudimentären Organen sind die Abdominalknochen der Walartigen. Dabei handelt es sich um paarige Knochen, die sich ohne Verbindung zur Wirbelsäule im Hinterleib der Wale und Delfine befinden. Es wird gemeinhin argumentiert, dass auf dem evolutiven Weg vom Land ins Wasser die Knochen des ehemaligen Beckens und der Hinterbeine ihre Funktion verloren und sich zum heute noch vorhandenen Rest in Form der Abdominalknochen zurückgebildet hätten.

Dass die Abdominalknochen nicht funktionslos sind, ist schon länger bekannt (Yablokov 1974; Arvy 1976, Behrmann 1994). Sie unterstützen unter anderem die Muskeln, die den sehr beweglichen Walpenis kontrollieren, und sind daher überlebenswichtig. Entsprechend zeigen sie einen Sexualdimorphismus, d. h. sie sind bei Männchen und Weibchen unterschiedlich ausgebildet.

Eine neuere Untersuchung (Dines et al. 2014) unterstützt bisherige Befunde. Die Forscher untersuchten bei 130 Wal-Individuen aus 29 Arten Größe und Form der Abdominalknochen im Zusammenhang mit dem Paarungsverhalten. Dabei fanden sie heraus: 1. Männchen von Arten, bei denen es eine starke sexuelle Selektion gibt (die aus der relativen Größe der Hoden abgeleitet wird), besitzen einen relativ großen Penis und entsprechend einen relativ großen Abdominalknochen im Vergleich zur Körpergröße. 2. Die Form der Abdominalknochen zweier Arten ist umso verschiedener, je unterschiedlicher ihr Paarungsverhalten ist. Bei Rippenknochen, die als Referenz ebenfalls untersucht wurden, fanden sich diese Zusammenhänge nicht. Die Abdominalknochen können somit nicht als Reste bzw. Rudimente interpretiert werden, denn sie zeigen artspezifische Unterschiede und teilweise sogar eine relative Vergrößerung, was die Forscher evolutionär auf eine unterschiedlich stark ausgeprägte sexuelle Selektion zurückführen. Sie weisen am Ende ihres Artikels die Einstufung der Abdominalknochen der Wale als funktionslose Reste zurück; vielmehr seien sie eine kritische Komponente für die Fitness der Männchen und evtl. auch der Weibchen (Dines et al. 2014).

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Abb. 1: Skelettanatomie des Großen Tümmlers (Tursiops truncatus) und Muskulatur im Bereich des Abdominalknochens und des Penis. Nach Dines et al. (2014); Zeichnung: Carl Buell.

Angesichts dieser Befunde macht es keinen Sinn mehr, die Abdominalknochen der Wale als Rudimente zu klassifizieren – es sei denn, man ändert die Definition für „rudimentäres Organ“: So schlägt Stephanie Keep vor, dann von Rudimentation zu sprechen, wenn die ursprüngliche Funktion verloren gegangen ist (http://ncse.com/blog/2014/09/well-said-carl-zimmer-persistence-whale-hip-bones-0015864). Das aber führt zu einem inflationären Gebrauch des Begriffs „Rudiment“; selbst die Arme und Beine von Vierbeinern wären dann „rudimentär“. Vor allem aber ist die geänderte Definition nur anwendbar, wenn man Evolution und einen bestimmten Evolutionsverlauf voraussetzt; das Organ selber liefert keinen objektiven Anhaltspunkt für eine Rückbildung.

Das Beispiel der Abdominalknochen der Walartigen zeigt einmal mehr, dass zunehmende Kenntnisse über Form-/Funktions-Zusammenhänge die Liste mutmaßlicher rudimentärer Organe verkleinern. Aus dieser Liste musste kürzlich auch der Wurmfortsatz des Blinddarms endgültig gestrichen werden (vgl. Ullrich 2013). ­

R. Junker

[Arvy L (1976) Some critical remarks on the subject of the cetacean „girdles“. In: Pilleri G (ed) Investigations on Cetacea. Vol. VII. Bern • Behrmann G (1994) Die Bewegungskoordination des Penis während der Kopulation beim Schweinswal Phocoena phocoena (Linné 1758). Säugetierkd. Inf. 3, 611-616 • Dines JP, Otárola-Castillo E, Ralph P, Alas J, Daley T, Smith AD & Dean MD (2014) Sexual selection targets cetacean pelvic bones. Evolution, doi: 10.1111/evo.12516 • Junker R (2002) Ähnlichkeiten, Rudimente, Atavismen. Design-Fehler oder Design-Signale? Studium Integrale. Holzgerlingen • Ullrich H (2013) Der Wurmfortsatz: Vom Nichtsnutz zum Mysterium. Stud. Integr. J. 20, 111-115 • Yablokov AV (1974) Variability of mammals. Amerind Publishing Co. Pvt. Ltd., New Delhi.]


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Unter den Insekten finden sich viele Arten, die in der Lage sind, aktiv zu fliegen. Die dabei zum Einsatz kommenden Flügel weisen erstaunliche Größenunterschiede auf; so gibt es Wespen mit Flügeln mit einer Spannweite vom Bruchteil eines Millimeters und andererseits Falter, deren Flügelspitzen bis zu 30 cm voneinander entfernt sind. Je kleiner die Flügel sind, desto häufiger muss das Insekt mit den Flügeln schlagen, um sich mit der entsprechend geringeren Tragfläche in den Luftraum aufschwingen zu können. Bei kleinen Insekten wurden Frequenzen von über 100 Hz gemessen.

Obwohl der Insektenflug schon lange Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen ist, sind viele Aspekte zu dessen Biomechanik bisher nicht genau verstanden. Moderne Untersuchungsmethoden wie z. B. der Einsatz von Hochgeschwindigkeitskameras machen neue Fragestellungen für die Forschung zugänglich.

Die Zweiflügler (Diptera) – dazu gehören die Insekten, die wir in der Alltagssprache als Fliegen und Mücken bezeichnen – besitzen neben ihrem namensgebendem einen Flügelpaar als notwendige und typische Struktur noch ein Paar Schwingkölbchen. Dabei handelt es sich um keulenförmige bewegliche Anhänge, die auch als Halteren bezeichnet werden und den Insekten zur Bestimmung und Kontrolle der Lage des Körpers im Raum dienen. Dipteren bewegen die Halteren synchron zu den Flügeln.

Eine indische Arbeitsgruppe hat nun die biomechanischen Grundlagen der Koordination von Halteren und Flügeln an Soldatenfliegen (Hermetia illucens) untersucht (Deora et al. 2015). Dabei stellten die Wissenschaftler fest, dass die Synchronisierung des Flügelschlags durch eine mechanische Kopplung über das sogenannte Scutellum, einer verhärteten (sklerotisierten) Struktur am Rücken des Brustbereichs (Thorax) erfolgt. Bei manchen Käfern ist das Scutellum als kleiner Keil zwischen den Flügeldecken erkennbar. Durchtrennt man das Scutellum bei Soldatenfliegen, so schlagen der rechte und der linke Flügel nicht mehr gleichzeitig auf und ab; klebt man die beiden Scutellumhälften wieder zusammen, ist der synchrone Flügelschlag wieder möglich. Mit Hochgeschwindigkeitsaufnahmen konnte demonstriert werden, dass die Halteren antizyklisch mit den Flügeln schlagen und zwar exakt synchron. Auch diese Kopplung hat eine mechanische Grundlage, die mikroskopisch lokalisiert werden konnte, deren genaue Funktion derzeit aber noch nicht verstanden ist.

Der Flügelschlag selbst erfolgt indirekt über muskuläre Aktivität im Thorax. Dabei fanden die Autoren heraus, dass die Flügel an ihrer Aufhängung über eine Kupplung und ein 4-Stufen-Getriebe mit dem muskulären Antrieb verbunden werden können. Diese Zusammenhänge sind bereits zuvor von anderen Autoren beschrieben worden (Miyan & Ewing 1985), aber Deora et al. konnten diese bestätigen, detaillierter darstellen und so zu einem vertieften Verständnis der biomechanischen Grundlagen beitragen.

Die Autoren der Studie stellen abschließend fest, dass die von ihnen beschriebenen biomechanischen Strukturen für die schnelle Koordination von Flügelschlag und Halteren von grundlegender Bedeutung ist und vermutlich auch bei anderen Insekten vorkommt. Die beschriebenen biomechanischen Strukturen stellten auch wichtige Design-Prinzipien für die Entwicklung von Mikrorobotern nach dem Vorbild von Insekten dar.

H. Binder

[Deora T, Singh AK & Sane SP (2015) Biomechanical basis of wing and haltere coordination in flies. Proc. Nat. Acad. Sci. USA, doi/10.1073/pnas.1412279112 • Miyan JA & Ewin AW (1985) How Diptera move their wings: A re-examination of the wing base articulationand muscle systems concerned with flight. Phil. Trans. R. Soc. London B 311, 271-302.]


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Abb. 1: Von zwei Seiten kann der Kurzflügler Cafius vestitus durch seinen sehr beweglichen Hinterleib seine übereinandergelegten Flügel in unterschiedlicher Weise entlang entsprechender Faltlinien zusammenfalten. (Aus Saito et al. 2014; Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

Viele geflügelte Insekten können ihre Flügel falten und damit in Ruhestellung deren Platzbedarf reduzieren. Ameisen und Bienen als Vertreter der Hautflügler (Hymenoptera) falten ihre Vorderflügel in Längsrichtung, während die Faltung bei Heuschrecken (Orthoptera) fächerförmig erfolgt. In beiden Fällen ist die erzielte Platzersparnis gering. Ohrwürmer (Dermaptera) falten ihre Flügel in erweiterter, komplexer fächerförmiger Faltung, wobei die geschlossenen Fächer weiter gefaltet werden, so dass sie unter den kleinen Deckflügeln (Elytren) verstaut werden können. Die komplex gefalteten Flügel müssen zuverlässig gefaltet und für den Einsatz auch schnell entfaltet werden können. Trotz der im Flügel vorhandenen Falten müssen die beim Flug entfalteten Flügel die beim Flügelschlag auftretenden Kräfte, aufnehmen können, d. h. eine entsprechende Stabilität aufweisen. Aufgrund dieserEigenschaften sind Insekten mit faltbaren Flügeln sowohl für Entomologen (Insektenkundler) als auch für Ingenieure von außerordentlichem Interesse.

Die komplexesten bekannten Faltmuster und -mechanismen finden sich bei einer Gruppe von Käfern, die als Kurzflügler (Staphylinidae) bezeichnet werden. Die Elytren dieser Käfer sind auffällig kurz und lassen einen großen Teil des Hinterleibs (Abdomen) unbedeckt (Abb.1). Dadurch sind diese Käfer extrem beweglich, was ihnen die Besiedlung anspruchsvoller Lebensräume ermöglicht. Kurzflügler weisen in ihren Flügeln zwei verschiedene, asymmetrische Faltungen auf. Wie die Flügel unter Zuhilfenahme des Abdomens gefaltet werden, war bisher nur sehr oberflächlich bekannt. Nun haben Saito et al. (2014) die Faltung und Entfaltung der Flügel beim Kurzflügler Cafius vestitus mit Hochgeschwindigkeitskameras dokumentiert und analysiert. Das symmetrische Flügelpaar wird teilweise übereinandergelegt, wobei jeder der beiden Flügel wahlweise über dem andern liegen kann, um beide gemeinsam dann asymmetrisch zu falten. Bei anderen Insekten werden typischerweise die gefalteten Flügel übereinandergelegt. In beiden Flügeln sind also zwei Faltmuster angelegt und die Flügel werden dann durch das Abdomen zunächst wahlweise entweder von links nach rechts oder umgekehrt gefaltet und anschließend durch Anheben des Hinterleibs weiter kompakt zusammengelegt. Die Faltungen erfolgen entlang definierter Faltlinien, wobei auch Flügeladern mit einbezogen sind. Diese werden aber den bisherigen Kenntnissen zufolge nicht gefaltet, sondern unter Spannung gebogen und speichern so Energie, die für eine schnelle Entfaltung genutzt werden kann.

Die Autoren deuten in ihrer Veröffentlichung an, dass die asymmetrische komplexe Faltung von symmetrischen Flügeln sowie die energiespeichernde Krümmung von Flügeladern nach weiteren Studien und einem besseren Verständnis für technische Entwicklungen von großem Nutzen sein könnten. Sie nennen die Optimierung von Solarzellenpanels und Antennensystemen für Satelliten oder auch Alltagsgegenstände wie Schirme und Fächer.

Es ist wieder einmal erstaunlich, wie durch genaue Beobachtung von Lebewesen, hier kleine unscheinbare Käfer, Impulse für die Konstruktion und Entwicklung von hochtechnisierten Systemen gewonnen werden können.

H. Binder

[Saito K, Yamamoto S, Maruyama M & Okabe Y (2014) Asymmetric hindwing foldings in rove beetles. PNAS, www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1409468111]


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Auch in der Pflanzenwelt werden manchmal „Versicherungen“ abgeschlossen, d. h. es werden Vorkehrungen gegen bestimmte Risiken getroffen. Zu solchen Risiken gehört beispielsweise das Ausbleiben der Bestäubung, wodurch die Pflanze keine Samen bilden kann. Um dies zu verhindern, ist bei einer Pflanze in Afrika ein ausgeklügeltes System verwirklicht, das im Notfall trotz ausbleibender Fremdbestäubung den Bestand der Art sichert.

Zum Erhalt der Vitalität einer Pflanzenart ist Fremdbestäubung, also die Übertragung von Pollen von einem Individuum zum anderen wichtig. Für die Fremdbestäubung sind Pflanzen auf Transporteure angewiesen, die den Pollen einer Pflanze auf die Narbe einer anderen Pflanze derselben Art übertragen: Meist sind das Tiere (in der Regel Insekten), oft der Wind oder manchmal auch Wasser. Bei Tierbestäubung ergeben sich oft Engpässe, z. B. wenn die Bestäuber selten sind oder etwa bei anhaltend schlechtem Wetter nicht zur Verfügung stehen. Manche Arten sind in der Lage, gegen Ende der Blühzeit auf Selbstbestäubung umzuschalten, was eine Art Versicherung im Notfall ist. Selbstbestäubung ist zwar nur zweite Wahl, aber immer noch besser als gar keine Bestäubung.

Jonathan Kissling von den Universitäten Neuenburg und Lausanne und Spencer Barrett von der University of Toronto untersuchten den ungewöhnlichen Bestäubungsmechanismus der Art Sebaea aurea aus der Familie der Enziangewächse (Gentianaceae), die im Südwesten Afrikas vorkommt (Kissling & Barrett 2013). Dabei konnten sie feststellen, dass die kleine krautige Pflanze ein erstaunliches Notfallsystem eingebaut hat. Sie untersuchten fünf dichte Bestände von je 1000 Individuen. Dabei entdeckten sie eine anatomische Besonderheit: Die Pflanze verfügt über zwei Typen von Narben, die prinzipiell beide bestäubt werden können. Eine Gruppe von Narben befindet sich wie üblich am Ende des Griffels (siehe Abb. 1 links), die zweite – ganz ungewöhnlich – in dessen Mitte (Abb. 1 unterer Pfeil). Zu Beginn der Blütezeit sind nur die oberen Narben empfängnisbereit, d. h. in der Lage, Pollen aufzunehmen und auskeimen zu lassen. Die Reifung der unteren Narben erfolgt einige Tage später.

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Abb. 1: Blüte von Sebaea aurea; links Detailaufnahme von Griffeln und Staubgefäßen. Die Pfeile zeigen auf die obere und untere Narbengruppe. Fotos: Jonathan Kissling, Universität Neuenburg, http://www2.unine.ch/unine/14_aout
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Abb. 2: Elektronenmikroskopische Aufnahme des Stempels von Sebaea aurea. Foto: Jonathan Kissling.

Die Forscher untersuchten den Samenansatz bei naturbelassenen Blüten und verglichen ihn mit dem Samenansatz bei Pflanzen, bei denen die oberen Narben und/oder die Staubgefäße entfernt wurden. Es zeigte sich, dass die Entfernung der Staubgefäße keinen bedeutsamen Einfluss auf die Samenbildung hatte. Der Samenbestand entsprach dem von intakten Blüten, deren obere Narben nicht entfernt wurden. Diese Pflanzen konnten nur fremdbestäubt sein. Wurden jedoch die oberen Narben entfernt, reduzierte sich die Anzahl der Samen um mehr als die Hälfte und 60 % der entstandenen Samen waren selbstbefruchtet. Wurden außerdem auch noch die Staubgefäße entfernt, ging die Samenbildung noch weiter auf nur 30 % zurück. Außerdem beobachteten die Forscher, dass die unteren Narben deutlich größer wurden, wenn die oberen entfernt wurden, wodurch die Aufnahmefähigkeit für den Pollen verbessert wird. Solange die oberen Narben intakt waren, blieben die unteren Narben deutlich kleiner.

Die Ergebnisse zeigen, dass Sebaea aurea über ein ausgeklügeltes Backup-System verfügt. Der Ausfall des normalen Bestäubungssystems (über die oberen Narbenlappen) wird durch ein zweites (untere Narbenlappen) abgesichert: Wenn die oberen Narbenlappen fehlen bzw. wenn sie nicht bestäubt werden, kann die Bestäubung durch Selbstbestäubung der unteren Narben erfolgen, und es kann dadurch zur Samenbildung kommen. Dies wird durch die Position der zweiten Narben unterstützt. Sie liegen – anders als die normalen Narben – deutlich unterhalb der Staubbeutel und können daher gut vom eigenen Pollen erreicht werden.

Im natürlichen Lebensraum ist das Backup sinnvoll, wenn es aufgrund von regnerischem Wetter nicht zu einer Fremdbestäubung kommen kann, weil die Blüten dann geschlossen bleiben. Regenzeiten können in den Gebieten, in denen Sebaea aurea vorkommt, bis zu 14 Tage lang andauern. Das Backup-System greift auch dann, wenn es von der betreffenden Art nur noch wenige Exemplare z. B. aufgrund eines Flächenbrandes gibt, weil dann die Zufuhr von Fremdpollen stark verringert ist. Durch das Backup-System mit den unteren Narben ist die Vermehrung auch unter solchen Bedingungen gewährleistet.

Eine Befruchtung ist also fast immer garantiert, denn wenn es aufgrund von äußeren Umständen nicht zu einer Fremdbestäubung kommen kann, ist immer noch die interne gewährleistet. Dieses System ist im Lebensraum von Sebaea aurea besonders zweckmäßig. Sie ist ein Pionier, der sich beispielsweise nach Waldbränden unwahrscheinlich schnell ausbreiten kann, was die Effizienz dieses Systems belegt. Erst nach einiger Zeit wird sie von anderen nachwachsenden Pflanzen verdrängt, so dass sie zahlenmäßig wieder etwas zurückgeht. Diese Form eines flexiblen Bestäubungssystems ist also für Sebaea ökologisch besonders sinnvoll und bisher einzigartig in der Pflanzenwelt.

M. Noe

[Kissling J & Barrett SCH (2013) Diplostigmaty in plants: a novel mechanism that provides reproductive assurance. Biol. Lett. 9: 20130495.]


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Abb. 1: Blütenstand des Gewöhnlichen Wasserschlauchs (Utricularia vulgaris). Foto: Christian Fischer, CC BY-SA 3.0

Fleischfressende Pflanzen (Karnivoren) haben seit jeher das Interesse aufmerksamer Beobachter auf sich gezogen (vgl. Barthlott et al. 2004). Die Pflanzen sind im Einzelnen sehr verschieden, haben aber gemeinsam, dass sie mit Hilfe von raffiniert gestalteten Einrichtungen Tiere fangen, festhalten, enzymatisch abbauen (oder abbauen lassen, z. B. durch Bakterien) und die Verdauungsprodukte in den Pflanzenkörper aufnehmen.

Je nach Fangmethode unterscheidet man Klebfallen (z. B. Sonnentau, Fettkraut), Klappfallen (z. B. Venusfliegenfalle), Saugfallen (Wasserschlauch), Fallgruben (z. B. Kannenpflanze) und Reusenfallen (z. B. Genlisea).

Tierfangende Pflanzen verteilen sich auf 17 Gattungen in 9 Familien mit insgesamt etwa 600 Arten. Dabei ist bemerkenswert, dass einerseits ähnliche Prinzipien in ganz unterschiedlichen Familien zur Anwendung kommen können, andererseits innerhalb einer Familie auch zwei oder gar drei verschiedene Fallentypen nebeneinander vorkommen können.

Karnivoren sind zwar nicht unbedingt auf den Tierfang angewiesen, die gefangenen und schließlich verdauten Tiere dienen aber als willkommene Ergänzung der Nahrung, wobei Stickstoff- und Phosphorverbindungen, seltener auch Mineralien von besonderer Bedeutung sind.

Bei den bisherigen Untersuchungen stand die Art und Weise des Tierfangs im Vordergrund. Es ist aber schon länger bekannt, dass bei z. B. Sonnentau- und Fettkraut-Arten auch angewehter Pollen festgehalten und verdaut wird und bis zu 50 % der Proteinnahrung auf den aufgenommenen Pollen zurückgehen kann (Harder & Zemlin 1967).

Auch beim Wasserschlauch (Utricularia) wurde immer wieder auch pflanzliche Kost, vor allem Algen, in den Fangblasen gefunden. Utricularia ist mit etwa 200 Arten die größte Gattung karnivorer Pflanzen, einige davon kommen auch in Mitteleuropa vor. Die meisten Arten sind untergetaucht lebende Wasserpflanzen, die in ihren Saugfallen kleine Tiere, überwiegend Kleinkrebse wie Wasserflöhe und Hüpferlinge fangen. Die Bedeutung der in den Fallen nachgewiesenen Algen war lange Zeit unklar. Oft wurden sie als nutzloser Beifang gedeutet, aber es mehrten sich die Stimmen, dass ihnen doch eine größere Bedeutung zukommen dürfte.

Nun haben Koller-Peroutka et al. (2014) in überwiegend in österreichischen Kleingewässern durchgeführten Untersuchungen gezeigt, dass die Algen tatsächlich einen deutlichen Anteil an der Ernährung ausmachen können. Und auch beim Wasserschlauch gehört Blütenpollen, der oft in großen Mengen von benachbarten Nadelbäumen verweht wird, zum Nahrungsspektrum. Vermutlich sind hier besonders Phosphor-Verbindungen von Bedeutung, evtl. auch Spurenelemente oder Wuchsstoffe. Die untersuchten Wasserschlauch-Arten hatten dann den besten Allgemeinzustand, wenn sie sowohl Algen und Pollen als auch Tiere gefangen hatten.

Die Autoren stellten außerdem fest, dass etwa ein Drittel, u. U. auch noch mehr Saugfallen keine Tiere enthielten. Das war insofern überraschend, als bisher die Meinung vorherrschte, die Öffnung der Fallen würde ausschließlich durch die Berührung durch Tiere ausgelöst werden. Offensichtlich können sich die Fallen aber auch spontan öffnen, wenn sie längere Zeit nicht gereizt wurden, und saugen dann das Umgebungswasser mitsamt Algen usw. auf. Dies hatte man bisher nur in Kultur beobachtet und Bedeutung und Umfang des Phänomens waren unklar.

Auf jeden Fall gehören die Fangeinrichtungen des Wasserschlauchs unbestritten zu den raffiniertesten Konstruktionen des Pflanzenreichs. Das hat immer wieder neu die Frage aufgeworfen, ob solche fein aufeinander abgestimmten Abläufe das Ergebnis schrittweiser Zufallsprozesse sein können oder ob dahinter eher ein Plan (Design) steht. Wie wir kürzlich in dieser Zeitschrift im Rahmen einer Buchrezension berichteten (Kutzelnigg 2013), hat sich der Genetiker W. E. Lönnig ausführlich mit dieser Thematik beschäftigt und die Diskussion über das Für und Wider im Internet und neuerdings auch in Buchform veröffentlicht. Es sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass die von Verfechtern der Zufallsentstehung gerne angeführten denkbaren, aber nicht beobachteten Zwischenstufen als solche noch keine Beweiskraft haben, solange nicht gezeigt wurde, dass diese Zwischenstufen in einer konkreten Entwicklungslinie auch tatsächlich existiert haben und durch bekannte Prozesse überbrückbar sind.

H. Kutzelnigg

[Barthlott W, Porembski S, Seine R & Theisen I (2004) Karnivoren. Biologie und Kultur fleischfressender Pflanzen. Stuttgart: Ulmer • Harder R & Zemlin I (1967) Blütenbildung von Pinguicula lusitanica in vitro durch Fütterung mit Pollen. Planta 78, 72-78 • Koller-Peroutka M, Lendl T, Watzka M & Adlassing W (2014) Capture of algae promotes growth and propagation in aquatic Utricularia. Ann. Bot. doi: 10.1093/aob/mcu236 • Kutzelnigg H (2013) Rezension: Wolf-Ekkehard Lönnig (2012) Die Evolution der karnivoren Pflanzen: Was die Selektion nicht leisten kann: Das Beispiel Utricularia (Wasserschlauch). 3. Aufl. Stud. Integr. J. 20, 127-129.]


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Viren haben einen schlechten Ruf, wir kennen sie als Krankheitserreger unterschiedlichster Organismen. Sie infizieren den Wirt, integrieren ihr Erbgut in dessen DNA und vermehren sich auf dessen Kosten. Virale Infektionen verursachen verschiedene, jeweils charakteristische Krankheitsbilder. In einer Untersuchung zeigten Viren im Darm von keimfreien Mäusestämmen positive Auswirkungen. Der Darm dieser Mäuse weist keine Darmflora auf, d. h. der Darm enthält nicht wie üblich eine komplexe Vielfalt von Bakterien. Eine Behandlung mit Antibiotika bewirkt eine ähnliche Verarmung und Reduktion der Darmflora. Fehlen die Mikroben im Darm von Mäusen, hat das nachteilige Folgen. So ändert sich die Struktur des Darmgewebes, die Darmzotten sind dünner ausgebildet, die Blutzellen der Immunabwehr, Lymphocyten (B- und T-Zellen) werden in viel geringerer Konzentration ausgebildet, dadurch sind die Mäuse anfälliger für Verletzungen und bakterielle Krankheitserreger (Wang & Pfeiffer 2014). Kernbauer et al. (2014) infizierten solche keimfreien Mäuse und solche, die mit Antibiotika behandelt worden waren, mit Noroviren (RNA-Viren ohne Hülle). Sie konnten zeigen, dass in den infizierten Mäusen aufgrund der Vireninfektion sowohl die korrekte Gewebestruktur der Darmschleimhaut als auch die Immunabwehr wiederhergestellt werden. Die Autoren diskutieren, dass unter normalen Umständen die positiven Effekte von Viren durch die im Organismus vorhandenen Bakterien überdeckt werden und bisher aus diesem Grund nur selten aufgefallen sind. Möglicherweise könnte man durch gezielte Verabreichung von Viren Patienten Linderung verschaffen, deren Darmflora durch Antibiotikatherapien in Mitleidenschaft gezogen worden sind.

Roosinck hatte bereits 2011 in einem Überblicksbeitrag Viren beschrieben, die unterschiedlichste Lebewesen wie Bakterien, Insekten, Pilze, Pflanzen und Tieren infizieren und für die jeweiligen Wirtsorganismen nützliche Funktionen erfüllen. Die Autorin schreibt auch, dass die Entwicklung dieser positiven Wirkung von Viren in den meisten Fällen ein Rätsel ist.

Überhaupt ist die mögliche Entstehung von Viren Gegenstand von Diskussionen. Einerseits erinnern mobile Elemente im Genom, sogenannte springende Gene, an den Replikationszyklus von Viren; andererseits sind Megaviren beschrieben, Riesenviren, die hinsichtlich ihrer Größe und ihres Genoms an Bakterien heranreichen.

Die jüngsten Untersuchungen an Viren bestätigen jedenfalls, dass sie lohnende Studienobjekte sind und auch zukünftig noch überraschende Erkenntnisse liefern können.

H. Binder

[Kernbauer E, Ding Y & Cadwell K (2014) An enteric virus can replace the beneficial function of commensal bacteria. Nature 516, 94-98 • Wang Y & Pfeiffer JK (2014) A backup for bacteria. Nature 516, 42–43 • Roossinck MJ (2011) The good viruses: viral mutualistic symbioses. Nature Rev. Microbiol. 9, 99-108.]


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Abb. 1: Das rechte Fußskelett des Menschen.

In der Diskussion um die vermutete Evolution des zweibeinigen menschlichen Ganges spielt die Beweglichkeit des Midfoot* (vorderer Fußwurzelbereich) eine große Rolle (Abb. 1).

Seit Jahrzehnten wird der sogenannte „midtarsale break“ – das ist eine Beugung des Midfoot nach plantar (zur Fußsohle hin) – als wesentliches Merkmal nichtmenschlicher Primaten bei zweibeiniger Fortbewegung angesehen. Dieser „Bruch“ wird typischerweise während der Standphase des Gehens beschrieben, wenn der Midfoot nach dorsal (fußrückenwärts) beugt, der Hacken vom Erdboden abgehoben ist und der Vorfuß noch Kontakt mit dem Erdboden hat (Abb. 2).

Im Gegensatz zum Schimpansen besitzt der Mensch nach klassischer Vorstellung keinen mobilen Midfoot, sondern einen starren Midfoot mit Längsfußgewölbe. Dieses wird als wichtige Struktur für ein effizientes Gehen auf zwei Beinen angesehen. Das Auftreten des Längsfußgewölbes mit Verlust der midtarsalen Beweglichkeit wird deshalb als ein Schlüsselereignis im Rahmen der Entstehung des zweibeinigen menschlichen Ganges interpretiert.

Folgerichtig versuchen Paläanthropologen, knöcherne Merkmale bei frühen fossilen Homininen* zu identifizieren, die auf die Entstehung des Längsfußgewölbes und den Verlust der Midfoot-Beweglichkeit hinweisen. Es wurden jedoch schon einige Studien publiziert, die diese Vorstellungen stark in Frage stellen (Übersicht bei Brandt 2014). Greiner & Ball haben nun im American Journal of Physical Anthropology 2014 eine weitere interessante Untersuchung zu diesem Thema vorgelegt.

In der Studie von Greiner & Ball (2014) wurden an Fußknochen von menschlichen Leichen und Kadavern von Schimpansen, Pavianen und Makaken Anheftungen („pins“) vorgenommen und die Lage dieser Anheftungen während Beuge-Streck-Bewegungen überwacht. Das Schienbein wurde dabei von den Forschern über den Fuß bewegt. Es wurden die Flexion-Extensions-Muster und die damit verbundene Ausrichtung der Drehachsen des talonavicularen, calcaneocuboidalen und lateralen cubometatarsalen Gelenkes* (Abb. 1) untersucht.

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Abb. 2: Rechter Fuß des Schimpansen in der Ansicht von außen mit midtarsalem „Bruch“ (Pfeil). (Nach Susman 1983)

Die Ergebnisse von Greiner & Ball (2014) zeigen, dass die Midfoot-Beweglichkeit primär im talonavicularen und lateralen cubometatarsalen Gelenk und nicht im calcaneocuboidalen Gelenk stattfindet. Noch überraschender ist jedoch, dass sowohl das Ausmaß der Bewegung als auch die Ausrichtung der Gelenkachsen bei Schimpanse und Mensch ähnlich sind. Welche funktionellen Konsequenzen ergeben sich daraus für Mensch und Schimpanse und welche Bedeutung haben diese Ergebnisse für die Interpretation fossiler homininer Fußknochen?

Entgegen klassischer Vorstellungen ist sowohl beim Menschen als auch beim Schimpansen das Potential für einen midtarsalen „Bruch“ und für einen „Sperrmechanismus“ zur Erhöhung der Fußsteife im Midfoot vorhanden. Die Fähigkeit zum midtarsalen „Bruch“ nicht nur beim Schimpansen, sondern auch beim Menschen ergibt sich aus der ähnlichen Beuge- und Streckfähigkeit im talonavicularen und lateralen cubometatarsalen Gelenk.

Beide Gelenke zeigen bei Mensch und Schimpanse auch eine ähnlich divergierende Ausrichtung, die einen „Sperrmechanismus“ im Midfoot bewirkt. Dieser „Sperrmechanismus“ verwandelt den menschlichen Fuß in einen steifen Hebel, der beim zweibeinigen Gehen ein effektives Abstoßen des Fußes vom Erdboden bewirkt. Dieser Mechanismus wird seit Jahrzehnten als wichtige Entwicklung im Rahmen der Entstehung des menschlichen zweibeinigen Ganges angesehen. Der „Sperrmechanismus“ wird mit Zunahme der Divergenz der Ausrichtung der Gelenkachsen effektiver, da mit größerer Divergenz die Wahrscheinlichkeit einer simultanen Beugung-Streckung des medialen und lateralen Fußes geringer wird. Die unterschiedliche Achsenausrichtung des Innen- und Außenfußes wird als verantwortlich für die Verhinderung einer größeren Beweglichkeit im talonavicularen und lateralen cubometatarsalen Gelenk während der Fußabdruckphase angesehen, auch wenn jedes Gelenk für sich allein stärker mobil ist.

Überraschend ist, dass Schimpansen nicht nur eine ähnlich divergierende Ausrichtung der inneren talonavicularen zur äußeren cubometatarsalen Gelenkachse zeigen, sondern dass die Variabilität der Ausrichtung sogar geringer als beim Menschen ist. Greiner & Ball (2014) wollen daraus allerdings nicht schließen, dass der „Sperrmechanismus“ des Midfoot beim Schimpansen noch effektiver als beim Menschen ist.

Greiner & Ball (2014) haben mit ihrer Untersuchung nachgewiesen, dass der Midfoot von Mensch und Schimpanse trotz unterschiedlicher Morphologie eine ähnliche Flexibilität mit der Fähigkeit zum midtarsalen „Bruch“ und zur Fußversteifung besitzt. Diese Fähigkeiten werden bei Mensch und Schimpanse im Leben aber in verschiedener Weise in Anspruch genommen, denn sie praktizieren eine sehr unterschiedliche Fortbewegung.

Die Studienergebnisse von Greiner & Ball (2014) haben große Konsequenzen für die Interpretation der Fußknochen fossiler Homininen. Entgegen z. B. Lovejoy et al. (2009), Ward et al. (2011), Zipfel et al. (2011) und Proctor (2013) können auf der Basis der Knochenmerkmale des Fußes früher fossiler Homininen keine Schlüsse auf die Fußbeweglichkeit und auf ein äußeres Längsfußgewölbe und damit auf bipede Fähigkeiten gezogen werden (siehe auch Brandt 2014).

frühe Homininen: Übergangsformen zwischen großaffenähnlichen und menschlichen Wesen („Vormenschen“ oder „Affenmenschen“). Midfoot oder midtarsaler Fuß (vorderer Fußwurzelbereich): Os cuboideum, Os naviculare, Ossa cuneiformia. talonaviculares Gelenk: Gelenk zwischen dem Talus und dem Os naviculare. calcaneocuboidales Gelenk: Gelenk zwischen dem Calcaneus und dem Os cuboideum. laterales cubometatarsales Gelenk: Gelenk zwischen dem Os cuboideum und dem Os metatarsale 5.

M. Brandt

[Brandt M (2014) Wie sicher sind Deutungen in der Paläanthropologie? Australopithecus sediba und sein merkwürdiges Merkmalsmosaik. W+W Special Paper B-14-3 ; www.wort-und-wissen.de/artikel/sp/b-14-3-sediba.pdf (Zugriff am 20.4.2015) • Greiner TM & Ball KA (2014) Kinematics of primate midfoot flexibility. Am. J. Phys. Anthropol. 155, 610-620 • Lovejoy CO, Latimer B, Suwa G, Asfaw B & White TD (2009) Combining prehension and propulsion: the foot of Ardipithecus ramidus. Science 326, 72e1-72e8 • Proctor DJ (2013) Proximal metatarsal articular surface shape and the evolution of a rigid lateral foot in hominins. Journal of Human Evolution 65, 761-769 • Susman RL (1983) Evolution of the human foot: evidence from Plio-Pleistocene hominids. Foot & Ankle 3, 365-376 • Ward CV, Kimbel WH & Johanson DC (2011) Complete fourth metatarsal and arches in the foot of Australopithecus afarensis. Science 331, 750-753 • Zipfel B, DeSilva JM, Kidd RS, Carlson KJ, Churchill SE & Berger LR (2011) The foot and ankle of Australopithecus sediba. Science 333, 1417-1420.]


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In der Paläanthropologie schließen Forscher bei fossilen Homininen von der Größe und Struktur der Knochenansatzstellen für die Muskulatur (Enthesis) auf den Ausbildungsgrad der Muskeln und interpretieren diesen dann im Rahmen der Manipulationsfähigkeiten und des Fortbewegungsverhaltens. Ein neueres Beispiel für solch einen Schluss findet sich bei DeSilva et al. (2013).

Bei Australopithecus sediba ist der Ansatz für den M. biceps femoris am oberen Teil des Wadenbeins stark ausgebildet (deutlicher Knochenanbau), was nach DeSilva et al. (2013) auf eine hohe Belastung dieses Muskels hinweist. Die Autoren deuten dieses Merkmal bei diesem frühen Homininen im Rahmen eines hypothetischen hyperpronatorischen zweibeinigen Ganges. Bei der Hyperpronation dreht sich das ganze Bein während der Standphase nach innen und belastet besonders Muskeln, die seitlich am Bein ansetzen wie den langen Kopf des M. biceps femoris. Diese Haltung findet sich heute nur als krankhafter Gang beim Menschen. Ist es aber möglich, vom Ausprägungsgrad der Knochenansatzstelle auf die Stärke des ansetzenden Muskels zu schließen wie dies DeSilva et al. (2013) praktizieren? Ann Zumwalt (2006) hat zu diesem Thema eine interessante Untersuchung vorgelegt.

Sie quantifizierte und verglich die Morphologie des Knochenansatzes und die ansetzende Muskelmasse von zwei Gruppen erwachsener weiblicher Schafe. Die eine Gruppe lief auf einem Laufband eine Stunde pro Tag, fünf Tage in der Woche, 90 Tage lang, während die andere Gruppe sesshaft lebte.

Nach Trainingsabschluss wiesen ungeachtet deutlicher Unterschiede der Muskelmasse beide Schafgruppen keine Unterschiede in der Enthesismorphologie an den sechs untersuchten Ansatzstellen (M. spinodeltoideus, M. acromiodeltoideus und M. pectoralis superficialis) auf. Das Training hatte also einen deutlichen Einfluss auf das Muskelwachstum, jedoch keine sichtbare Wirkung auf den Knochenansatz der Muskeln. Zumwalt (2006) schlussfolgerte daraus, dass es keine direkte Beziehung zwischen der Muskelgröße oder Muskelaktivität und der Knochenansatzmorphologie gibt. Die Forscherin meinte aber, dass das Fehlen von knöchernen Reaktionen darin begründet sein könnte, dass die Untersuchung an erwachsenen Tieren durchgeführt wurde. Sie empfahl deshalb Untersuchungen an noch wachsenden Tieren mit noch sehr plastischen Knochen. Diese Empfehlung haben Rabey et al. (2014) mit einer Studie an subadulten Mäusen umgesetzt. Für diese Art von Studien sind Mäuse sehr geeignete Untersuchungsobjekte, denn die Ergebnisse können auf den Menschen übertragen werden. Das ist möglich, weil die innere Architektur der untersuchten oberen Extremitätenmuskeln der Mäuse der des Menschen ähnlich ist. Das subadulte Alter ist auch von Vorteil, weil Mäuse die höchste Knochendichte ungefähr im Alter von vier Monaten vor dem Epiphysenschluss (Abschluss des Wachstums) erreichen. Der Experimentalzeitraum der Studie umfasste die rascheste Phase des Skelettwachstums und die Reife der Mäuse. Bei Mäusen und anderen kleinen Säugetieren sind Reaktionen des Knochengewebes auf erhöhte Belastungen gut belegt. Untersuchungen an diesen Tieren haben deshalb viel zum Verständnis der Knochenbiologie des Menschen beigetragen.

Die Studie von Rabey et al. (2014) hat zwei Ergebnisse erbracht. Sie zeigte einerseits, dass unterschiedliche Muskelaktivitäten im normalen physiologischen Rahmen die Muskelfaserarchitektur (Muskelfaserlänge, Muskelquerschnitt) und das periostale Knochenwachstum beeinflussen. Dieses Ergebnis steht in voller Übereinstimmung mit Ergebnissen früherer Studien, nach denen unterschiedliche Muskelaktivitäten signifikante Unterschiede am Knochen (Querschnitt, Architektur) und an der Muskelfaserarchitektur hervorrufen. Andererseits ergab die Studie von Rabey et al. (2014), dass die Größe und Struktur des Knochenansatzes der Muskeln nicht durch unterschiedliche Muskelaktivitäten beeinflusst wird. Es konnte damit gezeigt werden, dass keine Rückschlüsse von der knöchernen Muskelansatzmorphologie auf die Muskelstärke gezogen werden können. Viele Schlüsse in der Paläanthropologie bei fossilen Homininen sind damit unbegründet und reine Spekulation.

M. Brandt

[DeSilva JM, Holt KG, Churchill SE, Carlson KJ, Walker CS, Zipfel B & Berger LR (2013) The lower limb and mechanics of walking in Australopithecus sediba. Science 340, doi:10.1126/science.1232999 (Zugriff am 15. 4. 2013) • Rabey KN, Green DJ, Taylor AB, Begun DR, Richmond BG & McFarlin SC (2015) Locomotor activity influences muscle architecture and bone growth but not muscle attachment site morphology. J. Hum. Evol. 78, 91-102 • Zumwalt A (2006) The effect of endurance exercise on the morphology of muscle attachment sites. J. Exp. Biol. 209, 444-454.]


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Populäre Medien verbreiten nicht selten irreführende Meldungen über aktuelle Forschungsergebnisse. Ein jüngeres Beispiel ist die Behauptung, man habe Leben in den Tiefen des Weltalls gefunden. Tatsächlich wurden nur relativ kleine organische Moleküle nachgewiesen, die allenfalls indirekt in einem Zusammenhang mit Leben stehen könnten. Auch aus dem interstellaren Raum sind derzeit keine chemischen Prozesse bekannt, die die nötigen Bausteine für lebende Zellen bereitstellen.

Über chemische Vorgänge im Kosmos haben wir vergleichsweise wenig empirische Erkenntnisse. Auf der Erde gefundene Überreste von Meteoriten können untersucht werden, außerdem sind durch menschliche Aktivitäten im Weltraum von dort Proben verfügbar und wir können elektromagnetische Strahlung, die die Erde aus dem Kosmos erreicht, spektroskopisch analysieren und die Spektren interpretieren.

Gosses Bild
Abb. 1: vIn der B2-Wolke im Sternbild Schütze wurde iso-Propylcyanid nachgewiesen. (Bild: ESO/APEX & MSX/IPAC/NASA; Molekülbild: Physikalisches Institut der Universität Köln)

Aus dem Interstellaren Raum sind derzeit etwa 180 organische Moleküle aufgrund ihrer Spektren dokumentiert. Das Physikalische Institut der Universität Köln präsentiert auf einer Internetseite eine Zusammenstellung der Moleküle (www.astro.uni-koeln.de/cdms/molecules) sowie der Literaturzitate, in denen ihr Nachweis beschrieben wird. Mit dem derzeit weltgrößten Radioteleskop (Atacama Large Millimeter/submillimeter Array, ALMA) haben Belloche et al. (2014) in einer Region mit der Bezeichnung Sagittarius B2(N) erfolgreich nach weiteren Molekülen gesucht. Diese Region befindet sich nahe des Zentrums unserer Galaxie und fällt durch massive Sternenproduktion auf.

Bereits zuvor hatten Belloche et al. (2009) in dieser Region den Nachweis für Propylcyanid erbracht. Dieses und weitere vergleichsweise kleine Moleküle werden häufig hinsichtlich ihres Potentials zur Synthese komplexerer Moleküle diskutiert, die dann in einen Zusammenhang mit biologischen Systemen (Astrobiologie) gestellt werden. Bisher sind das rein hypothetische Konzepte, es wurden im interstellaren Raum noch keine biologischen Systeme gefunden.

In ihrer jüngsten Arbeit dokumentieren Belloche et al. (2014) den spektralen Nachweis von iso-Propylcyanid. Dies gelang durch Vergleich von Spektren aus dem oben genannten interstellaren Bereich und modellierten (berechneten) Spektren. Die Autoren diskutieren, dass i-Propylcyanid ein geeigneter Baustein zur Synthese von Aminosäuren mit verzweigter C-Kette wie z. B. Valin und Leucin sein könnte und damit eventuell einen bedeutsamen Beitrag zur Astrobiologie leisten könnte.

Mit großem Erstaunen kann man dann allerdings in populären Medien von „Biomoleküle in der Milchstraße“ (Der Tagesspiegel, 26. 9. 2014) lesen oder gar „Deutsche Forscher entdecken Leben in den Tiefen des Alls“ (BILD 26. 9. 2014). Titel dieser Art mögen zwar Leser animieren, haben aber mit wissenschaftlichen Befunden nichts zu tun.

Das im interstellaren Raum spektroskopisch identifizierte i-Propylcyanid ist kein biologisch relevantes Molekül. Der astrobiologische Aspekt kommt erst durch die entsprechende Diskussion ins Blickfeld und damit wird ein eigentlich wenig spektakulärer Befund popularisiert. Wenn das aber von der Tagespresse noch ins Extreme getrieben wird, ist das irreführend.

H. Binder

[Belloche A, Garrod RT, Müller HSP & Menten KM (2014) Detection of a branched alkyl molecule in the interstellar medium: iso-propyl cyanide. Science 345, 1584-1587 • Belloche A, Garrod RT, Müller HSP, Menten KM, Comito C & Schilke P (2009) Increased complexity in interstellar chemistry: detection and chemical modeling of ethyl formiate and n-Propyl cyanide in Sagittarius B2(N). Astron. Astrophys. 499, 215-232.]


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Ein fossiles Unterkieferbruchstück wird als Beleg für die Existenz eines Zwischenwesens zwischen Menschenaffen und Menschen interpretiert und öffentlichkeitswirksam mit dieser Deutung präsentiert. Doch es gibt gute Gründe dafür, dass der neue Fund nicht zwischen Affen und Menschen anzusiedeln ist, sondern zu einer Variante der ausgestorbenen Großaffengattung Australopithecus gehört.

Ein internationales Forscherteam hat im Wissenschaftsmagazin Science ein neues fossiles Unterkieferbruchstück aus Äthiopien vorgestellt, das ein radiometrisches Alter von ca. 2,8 Millionen Jahren hat. Die Forscher stellten das Fundstück zur Gattung Homo, zu der auch der moderne Mensch gehört. Die menschliche Linie sei mit diesem neuen Fossil 400 000 Jahre älter als bisher gedacht (Villmoare et al. 2015).

Laut den Forschern besitzt der Unterkiefer eine Reihe von Eigenschaften, die ihn zwischen Australopithecus und den jüngeren Homo habilis stellt (Villmoare et al. 2015). Die Australopithecinen werden im Evolutionsmodell als „Vormenschen“ oder „Affenmenschen“, im Grundtypmodell der Schöpfungslehre dagegen als ausgestorbene Großaffen gedeutet. Im Evolutionsmodell stellt der neue Unterkiefer somit ein Bindeglied zwischen „Affenmenschen“ und echten Menschen dar. Der Fund hat zwar große publizistische Resonanz gefunden, der wichtigste Punkt im Zusammenhang mit der Einordnung des neuen Fossils wurde aber weder im Originalartikel noch in der populären Verbreitung gestellt: War Homo habilis wirklich ein Mensch?

Seit Aufstellung der Art Homo habilis im Jahre 1964 gibt es daran berechtigte Zweifel. Erst in neuerer Zeit haben Paläanthropologen wieder für eine Ausgliederung der Art habilis und auch der Art rudolfensis aus der Gattung Homo mit sehr guten Argumenten plädiert (Übersicht bei Brandt 2012). Trotz der guten Argumente halten jedoch fast alle Urgeschichtsforscher an der alten Zuordnung zur Gattung Homo fest. Was könnten Gründe dafür sein?

„Homo“ habilis/rudolfensis wird seit Jahrzehnten als eine evolutionär vermittelnde Fossilgruppe zwischen den Australopithecinen und dem frühesten unbestritten echten Menschen (Homo erectus) verstanden. Mit ihrer Rückstufung erscheint die Lücke zwischen den recht großaffenähnlichen Australopithecinen und dem echten Menschen (Homo erectus und spätere Homo-Formen) größer. Auch für den Laien erkennbar ergibt sich damit eine Unterteilung der fossilen Formen in zwei Gruppen: echte Menschen, zu denen Homo erectus, Neandertaler u. a. gehören, die in der Schöpfungslehre dem Grundtyp Mensch zugeordnet werden, und großaffenähnliche Tiere wie die Australopithecinen (Brandt 2012).

Das neu entdeckte Unterkieferbruchstück aus Äthiopien gehört somit zu keinem neuen Bindeglied zwischen „Vormenschen“ und echten Frühmenschen, sondern wahrscheinlich zu einem weiteren Vertreter der Gattung Australopithecus. Der Paläanthropologe Christoph Zollikofer aus Zürich meint sogar, dass der Unterkiefer gar nicht zu einer neuen unbekannten Art, sondern zu den bekannten Australopithecinen gehört (www.nzz.ch/wissenschaft/medizin/bindeglied-zwischen-homo-und-australopithecus-1.18495357; Zugriff am 5.3.2015).

M. Brandt

[Brandt M (2012) „Homo“ habilis war kein Mensch. Stud. Integr. J. 19, 4-11 • Villmoare B, Kimbel WH, Seyoum C, Campisano CJ, DiMaggio E, Rowan J, Braun DR, Arrowsmith JR & Reed KE (2015) Early Homo at 2.8 Ma from Ledi-Geraru, Afar, Ethiopia. Science 347, 1352-1355]



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Studium Integrale Journal 22. Jg. Heft 1 - Mai 2015