Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 9. Jg. Heft 1 - Mai 2002
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Streiflichter


Studium Integrale Journal
9. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2002
Seite 48 - 56





Ursprünglich waren die Evolutionstheoretiker in der Paläanthropologie davon ausgegangen, daß die Entstehung des aufrechten Gangs (Bipedie) im Sinne der Savannentheorie durch folgenden starken Selektionsdruck angetrieben wurde: die baumlebenden Hominiden (Menschenartigen) mußten aufgrund des klimatisch bedingten Rückgangs des Regenwaldes vom Baum absteigen und sich in der Savanne in möglichst effektiver und sicherer Weise fortbewegen. Der angenommene Vorteil lag vor allem auf der „Befreiung“ der Hände, was das Tragen von Nachkommen, den Transport von Nahrungsmitteln oder von Werkzeug ermöglichte. Andere gingen davon aus, daß die Hominiden durch das Aufrichten im hohem Savannengras frühzeitig Räuber entdecken und Beute ausmachen konnten. Wieder andere sahen in der zweibeinigen Position eine Reduktion der sonnenexponierten Körperoberfläche.

Im Laufe der letzten Dekade mußten die Forscher jedoch zunehmend feststellen, daß sich die Lebensräume, in denen diese frühen Hominiden (Australomorphe) gefunden wurden, durch relativ ausgeprägte Bewaldung auszeichneten und daß die Hominiden ihre Art von aufrechtem Gang also schon beherrschten, ohne daß sie die Bäume hätten verlassen müssen. Der Verlust dieses Selektionsdrucks zwingt die Wissenschaftler, nach anderen Gründen zu suchen, die diese umfassende morphologische Veränderung angetrieben haben könnte.

Aus naheliegendem Grund sucht man nun die Entwicklung des aufrechten Ganges notgedrungen im Lebensstil auf den Bäumen. Robin CROMPTON behauptet sogar, daß Bäume der absolut ideale Entstehungsort für den aufrechten Gang gewesen sei. Durch die Möglichkeit, dort oben balancieren zu lernen, wurde alles perfekt vorbereitet für den Abstieg, den dann das Klima zwei Millionen Jahre später erzwang.

Besonderes Interesse für diese Hypothese zeigen die Finder des 6 Millionen Jahre alten Hominiden Orrorrin (HARTWIG-SCHERER 2001), denn sie behaupten, daß ihr Fund Orrorrin ein Beispiel für eine solche „Baumbipedie“ sei. Die gebogenen Fingerknochen und Fußphalangen und das außergewöhnlich affenähnliche Armskelett seien der Hinweis, daß wir es hier mit einem hangelnden Zweibeiner zu tun hätten. Die Vorstellung, daß eine solche Form die Durchgangsform für den späteren menschlichen Gang darstellt, ist jedoch schwierig, da bislang für eine solche Mosaikform sämtliche überleitenden Zwischenstufen fehlen. Deshalb hat man ja auch alle anderen australopithecinen Formen kurzerhand zur Seite geschoben (HARTWIG-SCHERER 2001). Aus der Sicht der Grundtypenbiologie wäre es jedoch nicht weiter problematisch, sich einen hangelnden zweibeinigen Grundtyp vorzustellen.

Viele Wissenschaftler verhalten sich der Hypothese der Baum-Bipedie gegenüber recht ablehnend. Sie bleiben vorläufig bei der altbewährten Savannen-Vorstellung, auch wenn die relativ dichte Bewaldung für das Absteigen wenig Grund mehr für diese Sicht liefert.

Noch wesentlich kritischer wird die neuerdings wiederbelebte „aquatische Theorie“ aus der Mitte des 20. Jahrhunderts beurteilt. Danach sollen alle wesentlichen Schritte während des Lebens im Wasser geschehen sein: nur so ließe sich der Verlust der Körperbehaarung, die subkutane Fettschicht, die Tauchvermögen der relativ schweren Neugeborenen u.v.m. verstehen. Eine moderate Abwandlung davon – die „amphibische Generalistentheorie“ – wurde unlängst von Carsten NIEMITZ von der Freien Universität Berlin vorgestellt. Da der Mensch sich nicht durch eine hohe Laufgeschwindigkeit auszeichnet (Sprinter im Tierreich können um ein Vielfaches schneller sein), habe ihm die Savanne vor allem während der Trockenzeit Beutetiere vorenthalten, so daß er im Uferbereich nach Schnecken und Krebse suchen mußte, um so seine Nahrung mit tierischen Protein anzureichern. Dabei soll der Menschenvorfahre laut NIEMITZ beim Waten im kniehohen Uferwasser gezwungen gewesen sein, sich länger aufzurichten.

Ob nun Land, Luft oder Wasser: Der Evolutionsbiologie fehlen in jedem Fall plausible Selektionsdrücke. Auf welches Medium sich die Evolutionsbiologen in Zukunft einigen werden, bleibt abzuwarten.

[HARTWIG-SCHERER S (2001) Haben die Australopithecinen ausgedient? Kenyanthropus und Orrorin rütteln am Stammbaum. Stud. Int. J. 8, 85-88; NIEMITZ C (2001) A Theory on the Evolution of the Habitual Orthograde Human Bipedalism – Die ‘amphibische Generalistentheorie‘. Anthropol. Anzeiger; ca. 80 Seiten.]

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Abb. 1: Die Höhle Kebara in Israel,in welcher Neadertaler gefunden wurden. Weniger Kilometer südlich davon liegen die Qafzeh-Höhlen, in welchen Fossilien von Homo sapiens entdeckt wurden.

Relativ einig scheint man sich inzwischen darüber, daß der Neandertaler alle typischen menschlichen Eigenschaften besaß, bis dahin, daß religiöse und altruistische Aspekte diskutiert werden. So soll ein zahnloser Kiefer (200 000 rJ) demonstrieren, daß alte Individuen nach Verlust ihrer Zähne nicht einfach dem Tod preisgegeben, sondern durchgefüttert worden seien (LEBEL et.al. 2001).

Viel umstritten dagegen ist die Frage, ob der Neandertaler eine andere Art war, und ob sie mit dem anatomischen Menschen Hybride bildeten oder nicht.

Drei konkurrierende Hypothesen zur Entstehung des modernen Menschen bewerten mögliche Hybridmerkmale von Neanderthalern und anatomisch modernen Menschen entsprechend ihren Grundannahmen: Die „Out-of Africa“-Hypothese sieht in den beiden menschlichen Formen zwei getrennte Arten, die nicht oder nur minimal miteinander hybridisierten, während die Multiregionalisten (viele Ursprungsorte) ein genetisches Kontinuum zwischen verschiedenen Arten der Gattung Homo sehen und Kreuzungen sogar erwarten. Nach der Grundtypenhypothese, die generell Kreuzungen zwischen Arten aus demselben Grundtyp, nicht jedoch zwischen Arten verschiedener Grundtypen erlaubt, ist Hybridisierung zwischen Neandertaler und anatomisch modernen Menschen möglich.

Der Multiregionalist Andrew KRAMER aus Tennessee deutet die Ergebnisse seiner Schädelvergleiche bei Neandertalern und modernen Menschen des Nahen Ostens als Folge von Hybridisierung. Die beiden Formen lebten vor ungefähr 90.000 rJ Seite an Seite (vgl. Abb. 1). Während man die beiden Formen aus Westeuropa anhand dieser 12 ausgewählten Merkmale gut unterscheiden kann, zeigten die beiden Menschengruppen des Nahen Ostens ein Kontinuum ohne diese klare Unterscheidung. Die genetische Vermischung im Nahen Osten sei Folge der vielen Wanderungswellen, die auf dem Weg nach und von Afrika die Levante (heute Israel und angrenzende Staaten) überfluteten.

PONCE DE LÉON und ZOLLIKOFER, zwei Forscher aus Zürich, sehen dagegen an kindlichen Schädeln beider Formen so große Unterschiede, daß sie von zwei verschiedenen Spezies ausgehen und eine Hybridisierung eher für unwahrscheinlich halten.

Mit der Frage, ob Hybridisierung stattgefunden hat oder nicht, ist auch die Frage des weiteren Schicksals des Neandertalers verbunden. KRAMER glaubt, daß der Neandertaler nicht einfach verdrängt wurde, und einfach ohne Einfluß auf nachfolgende Formen um 25.000 rJ von der Bildfläche verschwand, sondern im genetischen Bestand des anatomisch modernen Menschen aufging. Andere dagegen halten minimale, aber signifikante Anpassungsunterschiede der beiden Arten als Grund für das Aussterben. So hält Wesley NIEWOEHNER (University of New Mexico in Albuquerque) den Neandertaler aufgrund seiner anscheinend etwas geringeren Fingerfertigkeit für unterlegen (vgl. Abb. 2). Er fand bei frühen anatomisch modernen Menschen von Skhul und Qafzeh aus Israel eine bessere Anpassung an die Feinmotorik, während die Hände der Neandertaler muskulärer gewesen seien. Doch selbst eine hochkarätige Konferenz in Gibraltar (siehe BALTER 2001), die ausschließlich dieser Frage gewidmet war, konnte keine Einigkeit erzielen, welche und ob überhaupt Anpassungsdiffe-renz(en) zum Aussterben geführt haben.

Abb. 2: Die Herstellung von Replikas von Homo sapiens- und Neandertaler-Werkzeugen durch Dodi Ben-Amin. Die Werkzeuge belegen die Geschicklichkeit beider Menschenformen.

Diese Datenbasis, die vor dem Hintergrund der beiden genannten Hypothesen zu widersprüchlichen Schlußfolgerungen führt, läßt sich auf dem Hintergrund der dritten Hypothese durchaus vereinen: Laut Grundtypenvorstellung waren beide Menschenformen zwei getrennte Arten, die zum Grundtyp Homo gehören und an einigen geographischen Orten (z.B. im Nahen Osten, Portugal und am Balkan) bei günstiger Gelegenheit Hybride bilden konnten. Aufgrund des mit der Zeit sich reduzierenden Polyvalenz der Grundtypen ist es zwar möglich, daß auch in heutigen menschlichen Populationen Neandertal-Allele zu finden sind. Sie könnten aber genauso gut der genetischen Drift zum Opfer gefallen sein – wie andere Vorfahrengene ebenfalls.

[BALTER M (2001) What – or who – did in the Neanderthals? Science 293, 1980-1981; KRAMER A, CRUMMETT TL & WOLPOFF MH (2001) Out of Africa and into the Levant: replacement or admixture in Western Asia? Quaternary International 75, 51-63; LEBEL S, TRINKAUS E, FAURE M, FERNANDEZ P, GUERIN C, RICHTER D, MERCIER N, VALLADAS H, AND WAGNER GA (2001) Comparative morphology and paleobiology of Middle Pleistocene human remains from the Bau de l’Aubesier, Vaucluse, France. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 98, 11097-11102; NIEWOEHNER WA (2001) Behavioral inferences from the Skhul/Qafzeh early modern human hand remains. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 98, 2979-2984; PONCE DE LEON MS & ZOLLIKOFER CP (2001) Neanderthal cranial ontogeny and its implications for late hominid diversity. Nature 412, 534-538.]

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Die besondere Eigenschaft einer verlängerten Jugendzeit, die den Menschen vor anderen Menschenaffen auszeichnet, ist laut Evolutionstheorie weit nach der Entstehung des aufrechten Gangs entstanden. Die längere Entwicklungszeit wird möglicherweise benötigt für die volle Entwicklung der kognitiven und sozialen Fähigkeiten. Um die Entwicklungsdauer bei Fossilien feststellen zu können, versucht man die Zahnschmelzzuwachsrate mit der Entwicklungsgeschwindigkeit zu korrelieren und dies auf Fossilien anzuwenden. Die langsamere Rate, mit der beim Menschen Zahnschmelz angelagert wird, unterscheidet sich deutlich vom wesentlich schnelleren Zuwachs bei den Menschenaffen. Bei einer solchen vergleichenden Analyse (DEAN et al. 2001) liegt wie erwartet das Entwicklungsmuster, das man von Zähnen der Australopithecinen ableitete, nahe der großen Menschenaffen.

Allerdings weist Homo erectus, der in der Schöpfungsforschung zum Grundtyp Homo gerechnet wird, eine Entwicklungsdauer auf, welche intermediär zwischen Menschenaffen und Menschen zu liegen scheint. Aus dem Vergleich des Zahnschmelzzuwachses von Front- und Backenzähnen errechneten DEAN und Mitarbeiter, daß der erste Backenzahn bei H. erectus im Alter von 4,5 Jahren und der zweite im Alter von 7.5 Jahren durchbricht – beim heutigen Menschen ist dies im Alter von 6 bzw. 12 Jahren und bei Menschenaffen bei 3 bzw. 5 Jahren. Homo erectus sei also in diesem Merkmal als intermediär zu betrachten. Erst mit dem Auftreten von späteren Homo-Formen ab frühestens 800.000 rJ soll das menschliche Muster voll vorhanden gewesen sein. Die Autoren, die sich darüber erstaunt äußern, vermuten, daß das Gehirn, das doch noch nicht so groß war, keine solch verlängerte Wachstumsperiode benötigt habe.

Zuwachsraten von Zahnschmelz haben seit den 80er Jahren sehr umstrittene Ergebnisse geliefert (zusammengestellt in MANN et al. 1990). Zuerst wurde behauptet, daß die Australopithecinen eine völlig menschliche Zahnschmelzwachstumsrate besaßen. Heute besteht anscheinend komplette Einigkeit darüber, daß sie in diesem Merkmal fast vollständig den Menschenaffen ähneln. Der intermediäre Status von Homo erectus könnte eventuell auch durch andere biotische oder abiotische Faktoren mit beeinflußt worden sein. Ob das Klima einen Einfluß hatte, könnte unter Zuhilfenahme einer repräsentativen Stichprobe heutigen Menschen getestet werden, die in sehr unterschiedlichen biologischen und klimatischen Bedingungen aufwachsen.

[DEAN D, LEAKEY MG, REID D, SCHRENK F, SCHWARTZ GT, STRINGER CB & WALKER A (2001) Growth processes in teeth distinguish modern humans form Homo erectus and earlier hominis. Nature 414, 628-631; MANN A, LAMPL M & MONGE J (1990) Patterns of ontogeny in human evolution: Evidence from dental development. Yb. Phys. Anthropol. 33, 111-150.]

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Abb. 1: Lemur catta (Staatliches Museum für Naturkunde, Karlsruhe)

Lemuren (Abb. 1) kommen heute nur in Madagaskar vor und ihre Fossilgeschichte lag bis vor kurzen fast völlig im Dunkeln. Diese Gruppe der Halbaffen zeichnet sich u. a. durch einzigartige Zahnmerkmale aus: die Frontzähne des Unterkiefers sind verlängert und bilden einen nach vorne stehenden Zahnkamm. Die Wissenschaftler gingen bislang davon aus, daß die Lemuren die Insel auf schwimmenden Baumstämmen und Vegationsmatten von Afrika her besiedelt hätten und nur dort bis heute überleben konnten. Doch bislang gab es keinerlei nennenswerte Lemur-Fossilien, die tatsächlich Auskunft über ihre Entstehungsgeschichte geben könnten. Kürzlich wurde jedoch ein auf 30 MrJ (Millionen radiometrische Jahre) geschätztes Fosssil mit dem Namen Bugtilemur mathesoni im Bugti Gebirge, Pakistan, gefunden. Der neue Fund ähnelt am ehesten dem Zwerglemur Cheirogaleus. Dieses bislang älteste Lemurfossil veranlasste die Beschreiber dazu, den Ursprung der Lemuren im asiatischen Raum zu lokalisieren. Das allerdings birgt ein schwerwiegendes biogeographischs Problem: Die Entstehung der ersten Lemuren überhaupt wird auf frühestens 62 MrJ und der Ursprung der Cheirogaleiden laut Evolutionsbiologie auf höchstens 46 MrJ angesetzt. Gleichzeitig muß man davon ausgehen, daß sich Madagaskar vor mindestens 88 MrJ vom Indische Subkontinent getrennt hat. Der Abstand zwischen Madagaskar und Pakistan war demnach für eine potentielle Besiedlung unrealistisch groß.

Entsprechend kritisch reagieren einige Kollegen und bezweifeln, daß es sich bei den Funden wirklich um Lemurenzähne handelt. Die Identifikation von Lemurfossilien sei sehr schwierig, vor allem wenn der charakteristische Zahnkamm nicht erhalten ist.

Da man neben den angeblichen Lemurenzähnen auch Fossilien von echten Affen gefunden hat, wird Asien wieder mehr Aufmerksamkeit zuteil, was die Entstehung der Halbaffen und Affen betrifft. Es ließe sich die Wanderungsstrecke zwischen Pakistan und Madagaskar etwas reduzieren, wenn man sich dem von der Grundtypenbiologie als möglich angesehenen generellen Ausbreitungszentrum „Vorderasien“ anschließt. Von dort wanderten die Grundtypen einerseits nach Afrika und Madagaskar ein und besiedelten andererseits Asien, wovon u.a. die verschiedenen Affenfossilien Pakistans zeugen.

[MARIVAUX L, WELCOMME JL, ANTOINE PO, METAIS G, BALOCH IM, BENAMMI M, CHAIMANEE Y, DUCROCQ S & JAEGER JJ (2001) A fossil lemur from the Oligocene of Pakistan. Science 294, 587-591.]

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Durch Magnetospinresonnanz-Untersuchungen an Gehirnen von Menschenaffen wurde ein Merkmal entdeckt, das eng mit der Sprachfähigkeit gekoppelt ist. Die Brodman Region 44, ein Teil der Brocaschen Region, ist typischerweise beim Menschen auf der linken Gehirnhemisphäre etwas vergrößert und ein Hinweis auf das Sprachvermögen. Nun ist diese Region bei Schimpansen, Bonobos und Gorillas ebenfalls links leicht größer als rechts – obwohl diese nicht über eine artikulierte Sprache verfügen. Die beiden Forscher Claudio CANTALUPO und William HOPKINS versuchen dies damit zu erklären, daß diese Region, die auch für kommunikative Gesten verantwortlich ist, sich links deswegen vergrößert habe, weil die gemeinsamen Vorfahren sich zunehmend durch Gesten mit der rechten Hand zu verständigen versuchten. Sie hatten nämlich beobachtet, daß sich Menschenaffen in Zoohaltung etwas mehr mit der rechten als mit der linken Hand verständigten. Warum die Menschenaffen – im Gegensatz zum Menschen – jedoch nicht das Sprachvermögen erworben hätten, bleibt unerklärt.

Auch die Paviane denken möglicherweise menschlicher als gedacht: in Laborexperimenten zeigen sie Hinweise auf ihre Fähigkeit zu abstraktem Denken, indem sie nach einem bestimmten Gesichtspunkt Bilder auswählten. Joel FAGOT, Edward WASSERMAN und Michael YOUNG zeigten, daß sie zum analogen Vergleich – „etwas verhält sich zu etwas anderen wie ...“ – fähig sind. Eine solche Denkleistung wurde im Tierreich bislang nur bei Schimpansen beobachtet. Allerdings haben an diesem Experiment nur zwei Paviane teilgenommen und dazu noch solche, die früher an anderen kognitiven Test beteiligt waren – also sozusagen alte Hasen. Abstraktes Denken war bislang Menschen vorbehalten.

Manchem mögen solche Ergebnisse ein Dorn im Auge sein, weil er dadurch die menschliche Besonderheit anscheinend in Frage gestellt sieht. Doch biologisch betrachtet ist der Mensch eine Art unter vielen anderen. Inwieweit sich seine Besonderheit in anatomischen oder physiologischen Merkmalen festmachen läßt, sei dahingestellt und sollte nicht von vornherein dogmatisch festgelegt (auch nicht ausgeschlossen) werden. Aus christlicher Perspektive ist nur der Bezug des Menschen zu Gott, d.h. seine göttliche Ebenbildlichkeit, entscheidend. So stellt eine noch so besondere Gehirnleistung bei den Affen keine Bedrohung dar, sondern kann als ein Hinweis auf die schöpferischen Größe Gottes gewertet werden.

[CANTALUPO C & HOPKINS WD (2001) Asymmetric Broca’s area in great apes. Nature 414, 505; WASSERMAN EA, FAGOT J & YOUNG M (2001) Same- different conceptualization by baboons (Papio papio): the role of entropy. J. Comp. Psychol. 115, 42-52.]

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Schlangensterne (Ophiuroideae) bilden zusammen mit Seesternen, Seeigeln, Seewalzen und Haarsternen die Familie der Stachelhäuter (Echinodermata). Sie weisen im Außenskelett am oberen, dem körpernahen Bereich ihrer fünf Arme Kalkplättchen (Calciumcarbonat, Calcit) auf. Diese Ossikel genannten Strukturen schützen den oberen Teil jeder Verbindung der Arme. Jedes dieser Skelettelemente setzt sich aus Calcit-Einkristallen zusammen, die ein dreidimensionales Gitter (Stereom) bilden. Unter den Schlangensternen gibt es Arten, die nicht auf Lichtreize reagieren und solche, die auf z.B. plötzlich auftretende Schatten (Freßfeinde) durch Flucht in dunkle Nischen in der unmittelbaren Umgebung reagieren. Bei Vertretern der ersten Gruppe treten in deren äußerem Erscheinungsbild keine zeitlichen Farbänderungen auf, während Ophicoma wendtii, ein Vertreter der zweiten Gruppe, eine ausgesprochen photosensible Art, bei Tageslicht eine dunkelbraune und bei Nacht eine grau-schwarz gebänderte Färbung zeigt.

AIZENBERG et al. (2001) haben bei Untersuchungen an O. wendtii festgestellt, daß deren Stereom an der Oberfläche mit auffällig großen Calcit-Einkristallen bedeckt sind, die im Querschnitt die Form von Doppellinsen aufweisen. Durch Belichtung einer photosensitiven Unterlage mit unterschiedlichem Abstand zu den Kalk-Doppellinsen von präparierten Ossikeln konnte der fokussierende Effekt nachgewiesen werden. Durch mikroskopische Aufnahmen von Präparaten, in welchen die Kalklinsen herausgelöst worden waren, konnten die Autoren zeigen, daß sich unter den Linsen im Bereich ihres Brennpunkts Nervenbündel befinden. Die Durchmesser dieser Nervenbündel (etwa 2 - 4 µm) stimmen gut mit den experimentell ermittelten fokussierten Abbildungsflächen überein. Den Farbwechsel in O. wendtii interpretieren Aizenberg et al. als Filter, die Farbstoffe regulieren die Lichtintensität, die auf die Linsen trifft.

Die Autoren vermuten aufgrund ihrer Ergebnisse, daß die Felder aus Calcit-Mikrolinsen mit ihrem einheitlichen fokussierenden Effekt zusammen mit den darunterliegenden neuronalen Rezeptoren ein besonderes Photosystem mit Eigenschaften von Komplexaugen darstellen.

In faszinierender Weise sind bei diesen Geschöpfen mechanische Strukturen und optische Elemente aus ein und demselben Material, Calcit, aufgebaut. Diese Beobachtungen liefern staunenswerte Hinweise auf ökonomisch optimierten Einsatz von Materialien in diesen Stachelhäutern und gleichzeitig Impulse und Herausforderungen für technische Entwicklungen.

[AIZENBERG J, TKACHENKO A, WEINER S, ADDADI L, & HENDLER G (2001) Calcitic microlenses as part of the photoreceptorsystem in brittlestars. Nature 412, 819-822.]

HB


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Das Strukturprotein Resilin zeichnet sich aufgrund seines molekularen Aufbaus durch hohe Elastizität aus und ist dadurch in der Lage, Energie aufzunehmen, zu speichern und auch wieder freizusetzen. Untersuchungen an Libellenflügeln haben gezeigt, daß Resilin an flexiblen Verbindungen der Flügeladern dazu beitragen, daß die Flügel, deren Profil die Insekten nicht durch Muskelkraft aktiv beeinflussen können, sich verschiedensten aerodynamischen Situationen anpassen und so Libellen zu beeindruckenden Flugmanövern befähigen (Binder 2001).

In einer weiterführenden Arbeit wurden nun Hinterflügel von zwei verschiedenen Käfern (Coleoptera) auf die Verteilung und Funktion von Resilin untersucht (Haas F et al. 2000). Die Hinterflügel bei Käfern dienen nicht nur dazu, deren vergleichsweise große Masse durch die Lüfte zu tragen, sondern sie müssen auch bei krabbelnder Fortbewegung unter den (Vorder- =) Deckflügeln zusammengefaltet verstaut werden können. Bei Blatthornkäfern (Scarabaeidae; dazu gehören z.B.: Mai- und Junikäfer) zeigten fluoreszenzmikroskopische Aufnahmen, daß Resilin in Bereichen mit erhöhter Beweglichkeit und in Bereichen, die bei der Faltung (mehrere fächerförmige und eine quer Faltung) vorkommt. Die Flügel des Siebenpunkt-Marienkäfers (Coccinella septempunctata, Coccinellidae) weisen fächerförmigen Falten zwei Querfalten auf, entlang derer die Flügel z-förmig zusammengelegt werden können. Auch hier kann Resilin an beweglichen Verbindungsstellen und in Bereichen hoher Beweglichkeit nachgewiesen werden.

So bewirkt Resilin einen besondere Elastizität in bestimmten Bereichen der Käferhinterflügel und ermöglicht dynamische Verformungen der Flügelprofile während des Flügelschlags. Der Einbau von Resilin verleiht den Flügeln entlang der Faltungsbereiche eine erhöhte Stabilität und verhindert Materialermüdung durch häufige Vorgang von Falten und Entfalten. Während andere Flügelbereiche bei älteren Insekten typische Verschleißerscheinungen (z.B. ausgefranste Flügelränder) zeigen, sind gerade die besonders belasteten Strukturen durch das Resilin sehr robust. So tragen nicht nur die Flügeladern, sondern auch die Materialkomposition der Käferflügel dazu bei, den unterschiedlichsten und z.T. einander zuwiderlaufenden Anforderungen (hohe Stabilität und Belastbarkeit bei hoher mechanischer Flexibilität) zu genügen.

Die Autoren vermuten, daß die Flügeldeformation während des Flügelschlags zu einer elastischen Energiespeicherung in den Flügelbereichen führt, deren Profil nicht aktiv manipuliert werden kann. Die Flügel nehmen dann wieder ihre ursprüngliche Form annehmen, indem das Resilin wie gespannte Federn, die gespeicherte Energie wieder freisetzt. Ersten Hinweis dafür konnten die Autoren in Videosequenzen eines Flügelschlags vorlegen. Solche elastischen Elemente wie das Resilin in Käferflügeln stellt nach Ansicht der Autoren eine essentielle Anpassung für den Flügelschlag von Insekten dar. Staunenswert sind sie auf jeden Fall.

[Binder H (2001) Libellen - urtümliche, perfekte Flugkünstler. Stud. Int. J. 8, 33-34; Haas F, Gorb S, Blickhan R (2000) The function of resilin in beetle wings. Proc. R. Soc. Lond. B 267, 1375-1381]


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Eine kürzlich veröffentlichte Studie (BADYAEV et al. 2002) hat bei einer nordamerikanischen Finkenart eine rasche, an äußeren Merkmalen sichtbare Anpassung an einen neuen Lebensraum nachgewiesen. Die ursprünglich in Kalifornien und in den Wüstengebieten des Südwesten der USA beheimatete Finkenart Carpodacus mexicanus breitete sich in die angrenzenden Staaten aus. Vor ungefähr 25 Jahren hat sie den Staat Montana erreicht, zeitgleich begann sie auch die Besiedelung des Staates Alabama. Die Finken in Alabama haben sich von New York aus bis dorthin ausgebreitet. In New York waren sie vor etwa 60 Jahren durch den Menschen eingeführt worden. Heute sind Unterschiede Größe und Form sowie in der Fortpflanzung feststellbar: Männliche Finken in Alabama sind größer als Weibchen, haben größere Schnäbel und längere Schwänze, während in Montana Weibchen größer sind. Diese Unterschiede rühren von unterschiedlichen Wachstumsmustern in der Jugendphase her. Als ursächliche Selektionsdrücke werden Unterschiede in Klima und Lebensweise angenommen.

Unmittelbare Ursache sind unterschiedliche Reproduktionsmuster: Es ist bekannt, daß Vögel das Geschlecht ihrer Nachkommen kontrollieren können. Weibchen aus Alabama legen zuerst männliche Eier, das letzte Ei eines Geleges ist weiblich. In Montana ist dies umgekehrt. Es wird etwa ein Ei pro Tag gelegt. Da die zuerst gelegten auch zuerst schlüpfen, wäre die „klassische“ Erklärung, daß diese einen Wachstumsvorteil haben, weil sie auf Kosten ihrer Geschwister mehr Futter von den Eltern erlangen könnten. Die Befunde von BADYAEV et al. (2002) werden von den Autoren allerdings eher durch eine unterschiedliche Menge von mütterlichen Wachstumshormonen im Ei erklärt, die von der Legeposition abhängt.

Die von BADYAEV et al. geschilderte Studie reiht sich ein in eine Reihe ähnlicher Beobachtungen, die zeigen, daß mikroevolutive Änderungen sehr viel schneller ablaufen könen, als früher vermutet worden war.

[BADYAEV V, HILL GE, BECK ML, DERVAN AA, DUCKWORTH RA, MCGRAW KJ, NOLAN PM, WHITTINGHAM LA (2002) Sex-biased hatching order and adaptive population divergence in a passerine bird. Sciene 295, 316-318.]

WL


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Rickettsien sind intrazellulär lebende Bakterien, die durch Läuse und Zecken übertragen werden. Rickettsia prowazekii (natürlicher Wirt: Läuse) verursacht Fleckfieber, R. conorii (natürlicher Wirt: die Hundezecke Rhipicephalus sanguineus) die Mittelmeerform des Fleckfiebers. R. prowazekii und R. conorii sollen vor 80 bzw. 40 Millionen Jahren aus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgegangen sein, der heute ausgestorben sein soll (Couzin 2002). Nachdem das R. prowazekii-Genom mit einer Länge von 1,1 Milliarden Basenpaaren bereits 1998 sequenziert worden war, folgte kürzlich auch das R. conorii-Genom (1,3 Milliarden Basenpaare). Ein Vergleich der beiden Genome gibt interessante Einsichten über (mikro-)evolutionäre Veränderungen eines Genoms zwischen nahe verwandten Arten (OGATA et al. 2001): R. conorii hat 1374 funktionelle Gene, R. prowazekii nur 834. Trotzdem hat letztere Art (R. prowazekii) 30 Gene, die bei R. conorii völlig fehlen (24 Gene) oder nur als nicht-funktionelle Reste vorkommen (6 Gene). Die überzähligen Gene bei R. conorii wiederum betreffen deutlich häufiger die Bereiche DNA-Verdopplung, Transporterproteine, regulatorische Proteine und Antibiotika-Resistenz.

Die Reihenfolge der Gene in beiden Genomen ist größtenteils identisch bis auf einige kurze Abschnitte am Ende des einzigen Chromosoms, in welchem die Gene in umgekehrter Reihenfolge angeordnet sind, was sich als eine Umkehrung durch eine Mutation (Inversion) erklären läßt. Diese Umkehrung findet sich auch bei anderen Arten der Gattung Rickettsia, wobei die Verteilung mit der bisherigen Taxonomie übereinstimmt: R. prowazekii näherstehende Bakterien haben das R. prowazekii-Genmuster; fernerstehende Arten unterscheiden sich davon.

In vielen Fällen besitzt R. conorii nicht andere Gene, sondern einfach nur mehr Kopien einiger bestimmter Gene als R. prowazekii. Die Hälfte der Gene, die bei R. prowazekii nicht mehr funktionell sind, existieren noch fragmentarisch an derselben Stelle wie im R. conorii-Genom. Es sind verschiedene Stadien des Genverlustes erkennbar: Einige Gene sind fast völlig verschwunden, andere noch zu einem erheblichen Teil erhalten, wieder andere sind in mehrere Einzelteile zerlegt und werden oft noch zum Teil abgelesen. Der Zerfall des Genoms der als jünger eingestuften Art R. prowazekii wirkt wie das Gesamtergebnis von Mutationen und Anpassung an die Lebensbedingungen in den Wirten. Die durch Mutationen verringerte Funktionsfähigkeit des DNA-Reparatursystems bei R. prowazekii hat vielleicht zu dem stärkeren Genverlust beigetragen.

Ansätze für die Entstehung funktionell neuer Gene sind trotz der behaupteten langen Zeitspanne seit der behaupteten Abspaltung vom „letzten gemeinsamen Vorläufer“ nicht zu erkennen.

[COUZIN J (2001) Painting a Picture of Genome Evolution, Science 293, 1969-1970; OGATA H, AUDIC S, RENESTO-AUDIFFREN P, FOURNIER PE, BARBE V, SAMSAN D, ROUX V, COSSART P, WEISSENBACH J, CLAVERIE JM, RAOULT D (2001) Mechanisms of Evolution in Rickettsia conorii and R. prowazekii. Science 293, 2093-2098.]

WL


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Jüngst wurde auf den Wissenschaftsseiten der Tagespresse der spektroskopische Nachweis von Vinylalkohol im interstellaren Raum (Sagittarius B2N, Sternbild: Schütze) zitiert. Der Befund von TURNER & APPONI (2001) wurde in den populären Darstellungen im Gegensatz zur Originalarbeit mit Spekulationen über die Beteiligung dieses Stoffes am Aufbau biologisch wichtiger Moleküle verknüpft und damit in Zusammenhang mit der Entstehung des Lebens gebracht. Den Wissenschaftlern geht es in der erwähnten Arbeit jedoch nur darum, die durch die spektralen Daten repräsentierten Stoffe in ihrer chemischen Synthese und Häufigkeitsverteilung nachvollziehen zu können.

Die chemischen Vorgänge im Weltall unterscheiden sich von gängigen Synthesereaktionen im Labor dadurch, dass die Konzentration der Ausgangsstoffe um viele Größenordnungen geringer ist, d.h. es kommt viel seltener zu einem Zusammenstoß, der eine chemische Reaktion zur Folge haben könnte. Außerdem kommen im Weltraum die einzelnen Moleküle typischerweise völlig isoliert vor, d.h. sie sind nicht von einem anderen Medium, z.B. dem Lösungsmittel, umgeben. Lösungsmittelmoleküle nehmen bei Reaktionen durch verschiedenste Formen der Energieübertragung teil, diese Prozesse entfallen also im Kosmos.

TURNER & APPONI haben mit Hilfe eines 12 m-Teleskops in einer bestimmten Region des Weltalls im Sternbild Schütze (Sagittarius B2N) durch die Analyse von Radiowellen Hinweise auf das Vorhandensein von Vinylalkohol gefunden. Durch Vergleiche mit den Isomeren Acetaldehyd und Ethylenoxid, welche bereits in früheren Arbeit im Weltall nachgewiesen wurden, diskutieren sie verschiedene Modelle der Synthese. Vinylalkohol, Acetaldehyd und Ethylenoxid werden als Isomere bezeichnet, weil sie alle dieselbe Summenformel C2H4O aufweisen, sich aber in der Verknüpfung der Atome unterscheiden. Die am häufigsten diskutierten Modelle sind Reaktionen in der Gasphase oder an der Oberfläche von kleinsten Partikeln. Die bisher vorliegenden Daten reichen aber für eine Klärung noch nicht aus.

Vinylalkohol ist aufgrund der darin enthaltenen C=C-Doppelbindung für den Aufbau von komplexeren Molekülen interessant. Eine erhöhte Reaktivität gilt aber nicht nur für den Aufbau gewünschter Verbindungen, sondern ist unspezifisch, d.h. Reaktionen führen auch zu biologisch nicht erwünschten Produkten. Vinylalkohol ist im Labor gar nicht beständig, sondern isomerisiert unter katalytischer Beteiligung eines Wassermoleküls zu Acetaldehyd. Der Nachweis von Vinylalkohol ist somit zwar eine chemisch durchaus interessante Entdeckung, diese eröffnet aber noch lange nicht die Tür zu einem Syntheselabor, welches im Weltall die erwünschten Bausteine für biochemische Systeme erzeugen könnte.

Entsprechendes gilt auch für den Nachweis von Glycolaldehyd (C2H4O2) im interstellaren Raum, der von HOLLIS et al. (2000) veröffentlicht worden ist. In dieser Arbeit weisen die Autoren auf die Bedeutung von Glycolaldehyd für die Synthese von Kohlenhydraten und in Verbindung damit auf die biologische Relevanz hin. Sie deuten aber auch an, dass bisher kein chemisch plausibles Modell zur Synthese von Kohlenhydraten auf der Basis der Formose-Reaktion (in deren Verlauf Glycolaldehyd als Zwischenstufe auftritt) vorliegt.

Die hier dargestellten Entdeckungen sind also durchaus von Interesse und könnten sich als hilfreich erweisen für ein besseres Verständnis von chemischen Vorgängen im Kosmos. Bei Spekulationen über Synthese von biologisch bedeutsamen Verbindungen im Weltall sollten aber alle chemisch-physikalischen Gegebenheiten (Konzentration, Energie, Reaktionsmöglichkeiten, u.a.) Berücksichtigung finden. Vor allem sollte nicht vergessen werden, dass selbst unter Nutzung aller chemischen Erkenntnisse und Techniken bisher kein plausibles geschlossenes Modell vorliegt für die Synthese von biologisch bedeutsamen Makromolekülen, ganz zu schweigen von der Genese lebender Systeme.

[TURNER BE & APPONI AJ (2001) Microwave detection of interstellar vinyl alcohol, CH2=CHOH. The Astrophys. J. 561, L207-L210; HOLLIS JM, LOVAS FJ & JEWELL PR (2000) Interstellar glycolaldehyde: the first sugar. Astrophys. J. 540, L107-L110.]

HB


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Halophile Bakterien (halos, gr. = Salz; phileo, gr. = lieben) aus permischen Salzkristallen sind von VREELAND et al. (2000) isoliert, kultiviert und charakterisiert worden. Die Reaktivierung dieser Bakterien hatte unmittelbar nach der entsprechenden Publikation kritische Diskussionen hervorgerufen (vgl. Binder 2001). Nun haben NICKLE et al. (2002) die von Vreeland et al. publizierten 16S rDNA Sequenzdaten mit denjenigen von Salibacillus marismortui (diese waren zuvor als Bacillus marismortui bezeichnet worden; ARAHAL et al. 2000) verglichen und eine Ähnlichkeit von 99 % festgestellt. NICKLE et al. fanden anhand der bekannten Daten unter den 1559 exakt homologen (die beiden Sequenzen lassen sich ohne Lücken und Verschiebungen miteinander vergleichen) Nukleotiden in der 16S rDNA zwischen S. marismortui und dem als 2-9-3 bezeichneten Stamm aus dem permischen Salzkristall nur drei eindeutige Unterschiede, die auch zu Peptiden mit Sequenzunterschieden führen (weitere drei Differenzen haben keinen Einfluß auf das Genprodukt). Diese Differenz bedeutet eine effektive Divergenzrate von 0,4 % in 250x106 Jahren (ungefähre zeitliche Einordnung der Probe). Aus Untersuchungen an anderen Mikroorganismen wurde ~5-10 % Divergenz für diesen Zeitraum errechnet. Obwohl Nickle et al. ausdrücklich die empirischen Befunde von VREELAND et al. würdigen, halten sie aufgrund theoretischer Überlegungen die Wahrscheinlichkeit für die behauptete Herkunft (Perm) für äußerst gering (Wahrscheinlichkeitsschwelle bei 0,05). Ein weiterer Ähnlichkeitsvergleich (Stammbaumkonstruktion – maximum-likelihood tree – unter Zugrundelegung der Molecular Clock Hypothese) bestätigt die kritische Position der Autoren.

Mit der Veröffentlichung von NICKLE et al. ist also zum wiederholten Male (s. BINDER 2001) der Widerspruch zwischen empirischem Befund, nämlich Isolierung und Kultivierung von Bakterien unter umfangreichen Vorsichtsmaßnahmen und Kontrollen aus permischen Proben und dem behaupteten Alter (Perm; zugeordnetes Alter: 250 x 106 Jahre) dokumentiert.

Für eine Klärung schlagen NICKLE et al. (2002) vor, dass die Autoren der Originalarbeit (VREELAND et al. 2000) erstens Langzeitversuche durchführen sollten, um abzuklären, ob 2-9-3 lange Zeiträume in Salzkristallen überleben können und zweitens direkte Datierungen (C-14) versuchen sollten. Der erste Vorschlag erscheint nicht praktikabel aufgrund der begrenzten Lebenserwartung von Wissenschaftlern und der zweite scheitert nicht nur an der praktischen Durchführbarkeit (Probenmenge an Originalmaterial; die kultivierten Bakterien sind wegen der Kulturbedingungen für eine Datierung unbrauchbar) sondern ist auch durch prinzipielle Überlegungen wenig aussagekräftig: ein erwartetes unendliches C-14-Alter (kein nachweisbares C-14) ist kein positives Indiz und beweist überhaupt nichts.

Somit bleibt die Diskrepanz zwischen empirischem Befund und dessen zeitlicher Einordnung nach wie vor bestehen und man kann gespannt auf weitere Befunde warten.

[ARAHAL DR, MARQUEZ MC, VOLCANI BE, SCHLEIFER KH & VENTOSA A (2000) Reclassification of Bacillus martismortui as Salibacillus marismortui. Int. J. Evol. Microbiol. 50, 5101-1503; BINDER H (2001) Dornröschenschlaf bei Mikroorganismen? Stud. Int. J. 8, 51-55; NICKLE DC, LEARN GH, RAIN MW, MULLINS JI & MITTLER JE (2002) Curiously modern DNA for a „250 million-year-old“ bacterium. J. Mol. Evol. 54, 134-137; VREELAND RH, ROSENZWEIG WD & POWERS DW (2000) Isolation of a 250 million-year-old halotolerant bacterium from a primary salt crystal. Nature 407, 897-900.]

HB


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In einem der ursprünglich achtzig Eingänge des Kolosseums in Rom kommt der Besucher an einem beschädigten Steinblock vorbei. Eine lateinische Inschrift weist ihn ­ sofern er dieser Sprache mächtig ist - darauf hin, dass ein gewisser Lampadius das Gebäude im fünften Jahrhundert wieder instandsetzen ließ. Gebaut wurde der Komplex, der einst mehr als fünfzigtausend Besuchern Platz bot, als Amphitheatrum Flavium unter der Herrschaft der Kaiser Vespasian, Titus und Domitian. Die offizielle Einweihung im Jahre 80 n.Chr. dauerte drei Monate. Neuntausend Tiere wurden niedergemacht, mehr als die Hälfte davon an nur einem Tag. Wegen einer Kolossalstatue Neros in seiner unmittelbaren Nachbarschaft wird das Bauwerk seit dem frühen Mittelalter als Kolosseum bezeichnet. Was der Besucher auf dem Stein vermutlich übersieht, sind mehrere Reihen kleiner Löcher von wenigen Millimetern Tiefe, in denen ursprünglich Metallbuchstaben befestigt waren. Geza Alföldy, Professor an der Universität Heidelberg ist die Entzifferung dieser ,Geisterschrift“ gelungen: I[MP(ERATOR)] T(ITVS) CAES(AR) VESPASI[ANVS AVG(VSTVS)] / AMPHITHEATRV[M NOVVM?] / [EX] MANVBI(I)S (vacat) [FIERI IVSSIT (?)], übersetzt: ,Der Imperator Titus Caesar Vespasian Augustus gab das neue Amphitheater aus dem Erlös der Kriegsbeute in Auftrag.“ Um was für eine Beute kann es sich gehandelt haben? Vespasian hatte eine Legion in Germanien geführt und etwa dreißig Schlachten in Britannien geschlagen. Große Reichtümer ließen sich dabei jedoch nicht erwerben. Im Anschluss erhielt er den Befehl zur Niederschlagung des jüdischen Aufstandes (66-70 n.Chr.). Die Reichtümer, die den Römern v.a. in Jerusalem in die Hände fielen, waren nach dem Bericht des Josephus immens. Insbesondere der herodianische Tempel, der bei seiner Zerstörung noch immer nicht ganz fertiggestellt war, soll an Pracht kaum zu überbieten gewesen sein. ,Der äußere Anblick des Tempels bot alles, was Auge und Herz entzücken konnte. Auf allen Seiten mit schweren goldenen Platten bekleidet, schimmerte er bei Sonnenaufgang in hellstem Glanz und blendete das Auge wie Sonnenstrahlen.“ Noch reicher als die äußere Fassade waren die Schatzkammern, in denen die Tempelsteuern von geschätzten vier bis acht Millionen Juden aus allen Teilen des Römischen Reiches und darüber hinaus aufbewahrt waren. Zwar wurden Stadt und Tempel bei der Einnahme weitgehend zerstört, dennoch machten Titus Legionäre reiche Beute. ,Von den ungeheuren Reichtümern der Stadt wurde in den Trümmern noch ein großer Teil gefunden. Das meiste gruben die Römer aus, doch führten die Angaben der Gefangenen immer wieder zur Entdeckung von Gold, Silber und anderen kostbaren Gegenständen, die von den Besitzern wegen der ungewissen Wechselfälle des Krieges in der Erde verborgen worden waren.“ Der Titusbogen in Rom legt beredtes Zeugnis von der Plünderung ab. Über den Triumphzug des siegreichen Feldherrn in Rom weiß Josephus zu berichten: ,Silber, Gold und Elfenbein in den verschiedensten Formen und Bearbeitungen sah man nicht sosehr als Prunkstücke eines Festzuges als vielmehr wie in einem Strom daherfließen ... Beutestücke wurden in Mengen vorbeigetragen, unter denen besonders diejenigen Aufsehen erregten, die man aus dem Tempel von Jerusalem genommen hatte: ein goldener Tisch im Gewicht von mehreren Talenten und ein gleichfalls goldener Leuchter,....“ Allein diese beiden Gegenstände sollen an die dreißig Kilogramm gewogen haben. Über den Verbleib der Reichtümer war bisher nur bekannt, dass die goldenen Kultgefäße in einem von Vespasian neu errichteten Tempel der Friedensgöttin aufgestellt wurden, und dass der Kaiser das Gesetz der Judäer und die purpurnen Vorhänge des Allerheiligsten in seinen eigenen Palast schaffen ließ. Nach der Entdeckung der Inschrift ist nun davon auszugehen, dass auch der Bau des Kolosseums, zwei Jahre nach dem Ende des judäischen Krieges begonnen, aus dieser Quelle finanziert wurde.

[FELDMAN LH (2001) Financing the Colosseum. Biblical Archaeology Review 27:4, 20-31.60-61]

UZ


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Studium Integrale Journal 9. Jg. Heft 1 - Mai 2002