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Überraschung in Bernstein: Schlüpfende Florfliegenlarven

von Harald Binder

Studium Integrale Journal
26. Jahrgang / Heft 1 - April 2019
Seite 37 - 39


Zusammenfassung: Aus dem Libanon ist der älteste Bernstein bekannt, der Fossilien (Inklusen) enthält. Es gibt dort Lagerstätten, die der unteren Kreide (ca. 130 Millionen radiometrische Jahre) zugeordnet werden. Jetzt wurden in einem solchen fossilen Harz Larven von Florfliegen und deren leere Eihüllen beschrieben. Außerdem fanden sich noch Hinweise darauf, wie diese Larven aus dem Ei geschlüpft sind – erstaunlich ähnlich wie heute.


Das Henne-Ei-Problem ist uns in der Form bekannt: Was war zuerst, das Huhn oder das Ei? Diese Metapher nutzen wir, wenn eine Abfolge von Ursache und Wirkung, eine Kausalkette, nicht eindeutig aufgezeigt werden kann. Eine weitere spannende Frage in diesem Zusammenhang ist: Wie kommt das Küken aus dem Ei heraus? Dieser Vorgang war in einer stärker landwirtschaftlich geprägten Vergangenheit allgemein bekannt: Das Küken besitzt eine an der Schnabelspitze hervorstehende Struktur, die als Eizahn bezeichnet wird. Damit öffnet es die Eierschale von innen. Der Eizahn verschwindet bald nach dem Schlüpfen wieder. Da sich viele Lebewesen typischerweise in Ei-artigen Strukturen entwickeln (omne vivum ex ovo = alles Leben kommt aus dem Ei), sind eine Vielzahl von Eizähnen bekannt. Außer für Vögel und Reptilien gilt das auch für viele Insekten.

Florfliegen (Chrysopidae) haben ihre Bezeichnung aufgrund ihrer gewebeartigen Flügelstruktur erhalten; die auffälligen metallisch glänzenden Augen haben ihnen auch den Namen Goldaugen eingetragen. Die Florfliegen bilden eine umfangreiche Familie innerhalb der Ordnung der Netzflügler (Neuroptera; vgl. Abb. 1). Engel et al. (2018) haben einen Überblick über die derzeitigen Positionen zur Taxonomie und die Verwandtschaftsbeziehungen der Neuroptera veröffentlicht. Die global verbreitete Gemeine Florfliege (Chrysoperla carnea) lebt als geschlechtsreifes Tier (Imago) dämmerungsaktiv und ernährt sich von Pollen, Nektar und Honigtau (von Blattläusen). Die Weibchen befestigen die Eier an langen Stielen. Aus diesen schlüpfen die Florfliegenlarven. Diese ernähren sich räuberisch von Blattläusen („Blattlauslöwen“) und anderen kleinen Insekten. Die Larven der Florfliegen werden daher als Nützlinge betrachtet, sind entsprechend gut untersucht und werden in der biologischen Schädlingsbekämpfung eingesetzt. Die Mundwerkzeuge der Larven stellen aus Mandibeln und Maxillen zusammengefügte Saugzangen dar; mit diesen packen sie die Beute, injizieren Verdauungssekret und saugen die aufgelösten Weichteile der Beutetiere auf.

Abb. 1: Links: Goldaugen-Florfliege (Chrysopa oculata), (Foto: Stephen Ausmus, gemeinfrei); rechts: Florfliegenlarve mit Beutefang (Blattlaus). (Eric Steinert, CC BY-SA 3.0)

Über das Verhalten der Larven von Florfliegen im Verlauf der Erdgeschichte gibt es aufgrund der wenigen Fossilien nur bruchstückhafte Erkenntnisse. Fossile Florfliegenlarven sind bisher nur als Inklusen in Bernstein bekannt. Pérez-de la Fuente et al. (2018a) beschreiben Fossilien aus dem Libanon, deren Vorkommen der frühen Kreide (Barremium; ca. 130 Millionen radiometrische Jahre) zugeordnet wird. An diesen in fossilem Harz eingeschlossenen Florfliegenlarven dokumentieren die Autoren auffällige Borstenhaare (Setae), an denen Bodenpartikel haften. Von heutigen Larven ist bekannt, dass sie aktiv Partikel und Überreste von Beutetieren an ihrer behaarten Oberfläche fixieren, um sich zu tarnen. Dies scheint also ein bereits lange etabliertes Verhalten zu sein und es ist leicht nachvollziehbar, dass Tarnung für die Larven von existenzieller Bedeutung ist.

In einer weiteren Arbeit beschreiben Pérez-de la Fuente et al. (2018b) neun Florfliegenlarven (bzw. Teile davon), die sich in unmittelbarer Nähe von 12 leeren Eihüllen befinden, welche ebenfalls mindestens teilweise fossil erhalten sind. Diese neun Larven waren ursprünglich in einem Bernsteinstück eingeschlossen, dessen Fundort ebenfalls der frühen Kreide zugeordnet wird. Wie die Inklusen darin angeordnet waren, können die Autoren nicht mehr rekonstruieren. Sie hatten verschiedene Präparate für mikroskopische Untersuchungen hergestellt und dafür das ganze Bernsteinstück in mehrere Stücke aufgeteilt.

Abb. 2: Fossile Florfliegenlarven (Tragichrysa ovoruptora) mit leeren Eihüllen (eine davon im Ausschnitt vergrößert) und daran haftendem Ei-Schlitzer (Ausschnittsvergrößerung). Die Larve links oben wurde als Holotypus beschrieben. (Mit freundlicher Genehmigung von R. Pérez-de la Fuentes)

Überraschenderweise konnten die Autoren außer den fossilen frisch geschlüpften Larven und deren mutmaßlichen leeren Eihüllen noch drei Ei-Schlitzer (egg burster) nachweisen, die an Eihüllen hafteten (Abb. 2). Vergleichbare Ei-Schlitzer tragen heute lebende Florfliegenlarven ähnlich wie eine Maske an der Kopfkapsel und nutzen diese wie einen Eizahn, um die Eihülle von innen aufzuschlitzen und aus dem Ei zu schlüpfen. Dabei verlieren sie diese Ei-Schlitzmaske und typischerweise findet sich diese direkt an der leeren Eihülle.

Tarnung der Larven mithilfe von Partikeln und Überresten von Beutetieren scheint ein bereits lange etabliertes Verhalten zu sein.

Pérez-de la Fuente et al. gaben der neu beschriebenen Florfliegenart den Namen Tragichrysa ovuruptora (tragicum (lat.) = ein tragischer; Chrysopoidae = Florfliege; ovum (lat.) = Ei; ruptor (lat.) = Brecher), also etwa „tragische Ei-Öffner-Florfliege“. Bei modernen grünen Florfliegen tarnen sich die Larven durch irgendwelche Partikel, die sie finden und an ihre Rückenborsten heften. Dies scheint den beschriebenen Larven nach ihrem Schlupf noch nicht möglich gewesen zu sein. Sie weisen zwar die Borsten auf, diese sind aber noch nicht bestückt; vermutlich sind die Larven frisch geschlüpft und mussten noch das Aushärten des Außenskeletts abwarten. Dafür spricht auch, dass an dem als Holotyp1 beschriebenen Exemplar eine Maxille noch nicht mit der entsprechenden Mandibel zur Saugzange vereinigt ist, d. h. es ist noch gar kein Beutefang und keine Nahrungsaufnahme möglich. Eizahn-ähnliche Werkzeuge sind unter den Insekten nicht systematisch verteilt. Die gesamte Ordnung der Schmetterlinge (Lepidoptera) scheint auf derartige Werkzeuge zu verzichten, in anderen Gruppen sind sie unregelmäßig verteilt.

Pérez–de la Fuente et al. (2018) betonen, dass in dem von ihnen beschriebenen Szenario aus frischgeschlüpften Florfliegenlarven mit entsprechend leeren Eihüllen und abgelösten Ei-Schlitz-Werkzeugen ein fossiler Beleg vorliegt für unveränderte Verhaltensweisen innerhalb der Linie der grünen Florfliegen (Chrysopoidae). Hinsichtlich des Schlupfs hat sich seit der frühen Kreide daran nichts Wesentliches verändert (sogenannte Stasis). Stasis wird üblicherweise als Hinweis auf langzeitstabile Ökosysteme interpretiert, was aber in diesem Fall für die Florfliegen über den genannten Zeitraum nicht angenommen wird. Stattdessen meinen die Autoren, dass in diesem Fall eine frühe erfolgreiche Entwicklung in späteren Äonen einfach beibehalten wird; im vorliegenden Fall über 130 Millionen radiometrische Jahre. Jedenfalls liegt hier ein fossiler Befund vor, der zeigt, dass sehr früh komplexe Verhaltensmuster vorliegen, die bis in die Gegenwart nahezu unverändert beibehalten werden.

Die hier vorgestellte Arbeit zeigt, dass bei Fossilien und insbesondere bei Inklusen sehr genaue und hochauflösende Untersuchungen lohnend sein können. Es sollte allerdings bei zukünftigen Präparationen darauf geachtet werden, dass der ursprüngliche Fossilzusammenhang vor einer Zerlegung der Stücke dokumentiert wird, da sonst wichtige Informationen irreversibel verloren gehen.


Anmerkung

1 Ausgewähltes Individuum, an dem die charakteristischen Merkmale einer Art beschrieben werden, anhand des Holotypus werden andere Individuen der Art zugeordnet.


Literatur

Engel MS, Winterton SL & Breitkreuz LCV (2018)
Phylogeny and Evolution of Neuropterida: Where have wings of Lace taken us? Ann. Rev. Entomol. 63, 531–551.
Pérez-de la Fuente R, Penalver E, Azar D & Engel MS (2018a)
A soil-carrying lacewing larva in Early Creataceous Lebanese amber. Sci. Reports 8, 16663.
Pérez-de la Fuente R, Engel MS, Azar D & Penalver E (2018b)
The hatching mechanism of 130-million-year-old insects: an association of neonates, egg shells and egg burster in Lebanese amber. Palaeontology 1–13.


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