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Rücksichtsvolle Ameisen

von Hans-Bertram Braun

Studium Integrale Journal
26. Jahrgang / Heft 1 - April 2019
Seite 35 - 37


Zusammenfassung: Ameisen scheinen zur Zeit bei Wissenschaftlern beliebte Forschungsobjekte zu sein: Nachdem bei kriegerischen Ameisen gezeigt wurde, wie sich gesunde Tiere um im Kampf verletzte Kameraden kümmern, deuten neue Forschungen bei der einfachen Wegameise darauf hin, dass die ganze Kolonie sehr schnell zielgerichtet reagiert, um die Ausbreitung einer Infektion einzudämmen.


Abb. 1: Zwei Schwarze Wegameisen (Lasius niger) bei gegenseitiger Fütterung auf einer Iris-Blüte. (Python (Peter Rühr) CC BY 3.0)

Haben japanische Touristen Angst vor unserem vieldiskutierten Feinstaub, wenn sie, für uns ungewohnt, in der Öffentlichkeit einen Mundschutz tragen? Nein, normalerweise ist es im Gegenteil so, dass die rücksichtsvollen Besucher vermeiden möchten, die Umgebenden mit einer lästigen Erkältung anzustecken, mit der sie sich gerade selbst herumschlagen! Vielleicht hat eine solche Beobachtung die im Folgenden beschriebenen Forschungen angeregt.

Wissenschaftler aus Österreich und der Schweiz untersuchten, wie Ameisen einer Kolonie untereinander interagieren und ob und wie sie ihr Verhalten verändern, wenn sie mit für sie gefährlichen Pilzsporen gezielt infiziert werden (Stroeymeyt et al. 2018). Für ihre Untersuchungen konnten die Wissenschaftler die Studienobjekte direkt auf dem Uni-Campus in Lausanne einsammeln, es handelt sich um Lasius niger – die Schwarze Wegameise (Abb. 1). Man findet sie sprichwörtlich fast unter jedem Stein. Ausgehend von dort eingesammelten, befruchteten Königinnen wurden 44 kleine Kolonien aufgezogen, bestehend aus der Königin und im Mittel etwa 100 Arbeiterinnen, und deren soziale Interaktionen bei der Aufzucht von etwa halb so vielen Larven und einigen Puppen studiert. Um des Gewusels Herr zu werden, wurden alle Ameisen einer Kolonie ameisenfleißig und mit Sekundenkleber mit einem winzigen 2D-Balkencode beklebt. Jeder Code wurde zweimal pro Sekunde in Infrarotlicht ausgelesen. So konnte man die Bewegungen jeder Ameise und die Kontakte untereinander per Software messen und auswerten. Die Kolonien wurden in 10 x 7 cm kleinen Arenen gehalten, von denen ein Teil für die Ameisen als Nest dunkel abgedeckt und bis auf einen kleinen Durchgang von der restlichen Arena abgetrennt war. Von oben aber war der Nestbereich für Infrarotlicht durchlässig gehalten. Der zweite etwas größere Teil der Arena war nach oben offen und als Bereich für die Nahrungssuche vorbereitet.

Abb. 2: Netzwerk von Ameisenkontakten vor (links) und ein Tag nach einer Infektion. Jeder Punkt stellt eine Ameise dar. Schwarze Punkte stehen für infizierte Ameisen, pink ist die Königin, gelb sind die Außenarbeiter. (Aus Stroeymeyt et al. 2018, mit freundlicher Genehmigung)

Zuerst wurde untersucht, wie das tatsächliche Netzwerk der Interaktionen zwischen den einzelnen Tieren sich verhält im Vergleich zu einer angenommenen zufälligen Verteilung. Wenig überraschend (Leben ist nun einmal der aufwändige Aufbau und Erhalt der Ordnung im Kampf gegen das überall drohende Chaos) wurden statistisch hoch signifikante Unterschiede zwischen zufällig angenommener und tatsächlich beobachteter Kontaktverteilung gefunden: Die Kolonie gliedert sich um die Königin in spezialisierte Pflegekräfte, die als junge Arbeiterinnen vor allem im Nest verbleiben, um die Brut zu versorgen, und extern agierende Nahrungssammler. Beide Kasten haben jeweils innerhalb ihrer Gruppen mehr Kontakte als zwischen den Gruppen. Diese Basisorganisation hilft dabei, Infektionen, die durch externe Nahrungssammler ungewollt mit aufgelesen werden, auf diese spezialisierte Außentruppe zu beschränken und besonders die daheim gebliebene Königin und ihre Pflegekräfte zu schützen. Dieser Effekt wurde durch Simulationen anhand der gemessenen Bewegungsmuster und durch tatsächliche Messung der Sporenverteilung in der Gesamtkolonie einen Tag nach gezielter Infektion einiger der externen Nahrungssammler bestätigt (ein winziger Tropfen Sporenlösung wurde einigen Ameisen auf den Bauch gesetzt). Die Sporenmenge in allen Tieren einer Kolonie wurde durch quantitative Messung der Pilz-DNA nach Einfrieren der Tiere jeweils einen Tag nach der gezielten Infektion gemessen, zu einem Zeitpunkt also, an dem die Pilze noch keine Erkrankung der Tiere hervorgerufen haben können. Es zeigte sich, dass vor allem initial nicht infizierte Außenarbeiter durch Kollegen mit lebensbedrohlich hohen Sporenmengen angesteckt wurden. Die Innenarbeiter wurden selten und mit geringen Mengen kontaminiert, die sogar (wie vor kurzem beschrieben wurde) eher zur Immunität und dadurch besserem Schutz als zum Tod des einzelnen Tiers führen. Zur Kontrolle wurde die tatsächliche Überlebensrate in anderen Kolonien bis 9 Tage nach gezielter Infektion beobachtet. Dabei bestätigte sich das Bild, dass die Königin niemals und die Pflegerinnen seltener und später starben als die am meisten gefährdeten spezialisierten Außenarbeiter.

Der interessanteste Befund der Studie ist allerdings, dass die Kolonie sehr schnell, schon einen Tag nach gezielter Infektion einzelner Außenarbeiter ihr Netzwerk weiter in einer Art anpasst, die die oben beschriebene Kastentrennung noch erhöht. Gezielt infizierte Außen­arbeiter, aber auch ihre nicht infizierten Kollegen, halten statistisch gesehen noch mehr Abstand nicht nur zur Königin, sondern zum ganzen Rest der Kolonie und halten sich länger draußen auf. Und auch die Innentruppe beschränkt ihre Kontakte noch mehr auf die engen Kollegen und transportiert die Brut tiefer ins Nest, um den Schutz vor Infektion weiter zu verbessern (vgl. Abb. 2). Dieser Effekt wurde im Vergleich zu Kontrollkolonien gemessen, in denen einigen Außenarbeitern ein nicht infektiöses Tröpfchen auf den Bauch verabreicht wurde.

Die Ameisen besitzen ausgeklügelte Mechanismen, um ihre aus großen Zahlen von Tieren gebildete Kolonie zu versorgen und zu schützen.

Noch unklar ist allerdings, wie diese die Infektion eindämmenden Reaktionen hervorgerufen werden könnten. Einen Tag nach Verabreichung der Sporen auf die Oberfläche der Ameisen wurden bereits Effekte im Kolonie-Netzwerk gemessen, obwohl die Sporen noch keine Erkrankung hervorgerufen haben können. Das wird einerseits als Hinweis darauf gewertet, dass die beobachteten Verhaltensanpassungen keine indirekte Krankheitsfolge, sondern aktive Reaktion der Kolonie sind. Andererseits ist nicht bekannt, wie die mit Sporen versehenen Tiere ihr Krankheitsrisiko bemerken sollten und wie sie die anderen, nicht infizierten Außenarbeiter informieren. Ganz zu schweigen von den Innenarbeiterinnen, die ja gerade kaum Kontakt zu diesen Tieren haben und trotzdem auch, statistisch bewertet, Reaktionen zeigen.

Soziale Insekten besitzen also ausgeklügelte und noch nicht bis ins Detail verstandene Mechanismen, um Staaten, die aus großen Zahlen von Tieren gebildet werden, zu versorgen und zu schützen.1 Und das, indem jedes einzelne Tier zielgerichtet und sinnvoll für das große Ganze agiert, teilweise sogar um den Preis des individuellen Lebens. Das ist beobachtbares Faktum und höchst interessant und lehrreich. Die Behauptung im Eingangsteil des Originalartikels, „soziale Insekten haben verschiedene kollektive Mechanismen evolviert, um Infektionen zu verhindern und die Ausbreitung von Krankheitserregern innerhalb der Kolonie zu begrenzen“, muss dagegen wohl eher als unbewiesene Glaubensaussage gewertet werden. Denn die Autoren präsentieren keinerlei Daten, die diese Behauptung untermauern könnten, und in den zu dieser Aussage angegebenen Literaturstellen (Cremer et al. 2007; 2018) finden sich nicht mehr als Spekulationen dazu, wie eine solche Evolution stattgefunden haben könnte.


Anmerkung

1 „The strategies are remarkably diverse and even seem to be conflicting in some cases: infected individuals either receive a lot of care, or on the contrary, might be killed off. To date, the regulatory mechanisms underlying social immune systems remain unexplored“ (Cremer et al. 2007).


Literatur

Cremer S, Armitage SAO & Schmid-Hempel P (2007)
Social immunity. Curr. Biol. 17, R693–R702. doi:10.1016/j.cub.2007.06.008.
Cremer S, Pull CD & Fürst MA (2018)
Social Immunity: Emergence and evolution of colony-level disease protection. Annu. Rev. Entomol. 63, 105–123. doi:10.1146/annurev-ento-020117-043110.
Stroeymeyt N, Grasse AV, Crespi A, Mersch DP, Cremer S & Keller L (2018)
Social network plasticity decreases disease transmission in a eusocial insect. Science 362, 941–945.


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