Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 23. Jg. Heft 1 - Mai 2016
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Wie die Schlangen ihre Beine verloren

Bestätigt die evolutionsbiologische Forschung den biblischen Bericht?

von Henrik Ullrich

Studium Integrale Journal
25. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2018
Seite 28 - 36


Zusammenfassung: Schlangen sind in vielfacher Hinsicht einzigartige Organismen, die in zahlreichen ökologischen Nischen mit hochspezifischen Merkmalen anzutreffen sind. Die Klärung ihrer evolutionären Ursprünge, ihrer morphologischen Diversifikation* und paläobiogeographischen Ausbreitung liegt ebenso im Dunkeln wie die zugrunde liegenden Mechanismen der erforderlichen tiefgreifenden Bauplanänderungen. Zahlreiche Konvergenzen müssen angenommen werden, um die heutigen Merkmalsverteilungen innerhalb der Schlangen plausibel zu machen. Aktuelle Befunde aus der Paläontologie und der experimentellen Embryologie sorgen für deutlich mehr Fragen an das hypothetische evolutionäre Szenario, als sie Antworten geben können.




Schlangen: beeindruckend und gefürchtet

Schlangen rufen beim Menschen ambivalente Reaktionen hervor. Nach unterschiedlichen Klassifikationskriterien werden 3000-3600 Schlangenarten unterschieden. Ihre Vielfalt hinsichtlich Größe, Färbung, Lebensräumen (Wasser, Bäume, Erdboden), Fortbewegungsweisen (kriechend, grabend, kletternd, fliegend-gleitend) und der damit verbundenen funktionellen Sonderanpassungen ist beeindruckend und für die biologische Forschung ein kaum überschaubares Feld. Das lebensgefährliche Potenzial von Schlangen, entweder freigesetzt durch das injizierte Gift ihres Bisses oder durch ihre Kraft beim Würgen, ruft Angst und Abscheu hervor.

Kulturgeschichtlich und religionsgeschichtlich verbindet man in den vom Judentum und vom Christentum dominierten Gesellschaften mit der Schlange das Böse, die Hinterlist, die Lüge und den Tod als Abbild des Teufels. In vielen anderen Kulturen verkörpern Schlangen Götter, die u. a. als Widersacher des Lichts (Ägypten) oder des Lebens (Indien) fungieren. In China gilt die Schlange zugleich als Symbol für Klugheit, Bosheit und Hinterlist. Die alten Griechen hielten Schlangen für heilig; ihnen wurde Unsterblichkeit und Heilkraft zugesprochen (z. B. war die Schlange ein Attribut des Äskulap, des Gottes der Heilkunde in der griechischen Mythologie). Diese Zusprechungen ergeben sich aus dem Besonderen, das Schlangen umgibt: Ein kleiner, z. T. kaum wahrnehmbarer Biss, und – bei entsprechend giftigen Tieren – man stirbt. Dazu werfen die Tiere von Zeit zu Zeit die alte Haut ab und erscheinen danach wieder mit „neuer“ Gestalt.

Abb. oben: Skelett einer Urschlange aus Bosnien-Herzegowina, Alter ca. 100 Millionen radiometrische Jahre (MrJ.). Im Naturhistorischen Museum Wien ist das Originalskelett ausgestellt. Dem Naturwissenschaftler Baron Nopcsa 1923 diente dieses Fossil als Vorbild für die erste wissenschaftliche Beschreibung von Pachyophis woodwardi. (Tommy from Arad, CC BY 2.0)

Schlangen sind in vielfacher Hinsicht einzigartige Organismen mit hochspezifischen Merkmalen und in zahlreichen ökologischen Nischen anzutreffen. Eine dem biblischen Bericht in gewisser Hinsicht ähnliche Geschichte wird zur Entstehung moderner Schlangen im Rahmen des evolutionären Modells erzählt: Schlangen waren einst vierbeinige Echsen, die einen atemberaubenden evolutionären Umbildungsprozess durchliefen – so die hypothetische Geschichte. Die Klärung ihrer evolutionären Ursprünge, ihrer morphologischen Diversifikation und paläobiogeographischen Ausbreitung liegt jedoch ebenso im Dunkeln wie die zugrunde liegenden Mechanismen der erforderlichen tiefgreifenden Bauplanänderungen.

Der Fossilbericht erzwingt einen immer früher zu postulierenden Entstehungszeitpunkt der Schlangen (von mittlerer Kreide auf aktuell mittlerer Jura). Es fehlen Fossilien, die den hypothetischen Weg der Reduktion der Gliedmaßen und der Verlängerung der Körperachse parallel mit den Veränderungen des Schädels dokumentieren. Schlangenfossilien dokumentieren insgesamt eine größere Vielfalt an ehemals vorhandenen Formvarianten gegenüber dem heutigen Befund. Die Diskussionen in der Fachwelt zu dieser Befundkonstellation sind bis heute gekennzeichnet von extrem gegensätzlichen Positionen.

Der Ansatz von Evo-Devo, über die experimentelle Aufdeckung embryonaler und molekulargenetischer Zusammenhänge bei der Bildung von Organismen die Schlüsselfragen der der Evolution zugrunde liegenden Mechanismen aufzuklären, war und ist verheißungsvoll. Er führte einerseits, wie exemplarisch bei Cohn et al. (1999) und Kvon et al. (2016) gezeigt, zu faszinierenden neuen Erkenntnissen der Extremitätenentwicklung und der Multifunktionalität* von Masterkontrollgenen*. Im Gegensatz zu den Erwartungen der Evolutionstheoretiker verkomplizieren diese Ergebnisse jedoch andererseits die zu klärenden evolutionsbiologischen Fragestellungen, statt sie einer Lösung näherzubringen. Die hochgradigen, zeitlich und örtlich variablen Vernetzungen von der morphologisch-funktionellen Ebene bis zur molekulargenetischen Ebene stellen sich als Stolpersteine dar, um tiefgreifende Bauplanänderungen eines Organismus – wie es die hypothetische Evolution der Schlangen erfordert – zu ermöglichen.

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Das biblische Zeugnis und aktuelle evolutionsbiologische Befunde
Abb. 1: Wie Schlangen ihre Beine verloren, vereinfachte Darstellung: a Ausgangsform: eine den Waranen nahestehende Echse beginnt unterirdisch zu leben vor ca. 125 Millionen radiometrischen Jahren. b imaginäre Zwischenform basierend auf einem von Longrich et al. (2012) beschriebenen Fossil (Coniophis precedens, 85 Millionen radiometrische Jahre) c Schlangen kehren zu einem Leben oberhalb der Erdoberfläche zurück und setzen ihre weitere Differenzierung fort. (Nach Held 2014, Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

In der Bibel (1. Mose 3) wird berichtet, dass eine im Baum lebende Schlange durch den Teufel benutzt wird, um den Menschen mit Hinterlist zu täuschen, zu belügen und zum Widerstand gegen Gott anzustacheln. Die darauffolgende Tat des Ungehorsams, das Essen von der Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und des Bösen, hatte tiefgreifende Konsequenzen für den Menschen (u. a. Arbeit als Last, Dornen und Disteln, Krankheit, Tod, Ausweisung aus dem Garten Eden, Trennung von Gott). Aber auch für die Schlange blieb dieses Geschehen nach dem biblischen Bericht nicht ohne Folgen.

„Und Gott, der HERR, sprach zur Schlange: Weil du das getan hast, sollst du verflucht sein unter allem Vieh und unter allen Tieren des Feldes! Auf deinem Bauch sollst du kriechen, und Staub sollst du fressen alle Tage deines Lebens!“ (1. Mose 3,14)

Interessanteweise wird eine auf den ersten Blick ähnliche Geschichte der Entstehung moderner Schlangen auch im Rahmen des evolutionären Modells erzählt. Natürlich verlief diese hier in einem über viele Millionen Jahre ausgespannten Zeithorizont und wurde durch Selektion und andere noch unbekannte Mechanismen angetrieben und bestimmt: Schlangen waren einst vierbeinige Echsen, so die hypothetische Geschichte, die einen atemberaubenden evolutionären Umbildungsprozess durchliefen. Held (2014) beschreibt in seinem Buch „How the snake lost its legs“ die Entstehung der Schlangen ausgehend von landlebenden Echsen, die zunächst eine unterirdische Lebensweise als grabende Organismen annahmen, dabei mehr und mehr ihre Ex­tremitäten rückbildeten und sekundär schlangentypische Merkmale ausbildeten (Abb. 1).

Glaubt man einigen populärwissenschaftlichen Darstellungen, scheinen sich die entsprechenden Hypothesen in der Evolutionsbiologie durch neue Fossilfunde und erstaunliche Ergebnisse experimenteller Forschungen an Tierembryonen bestätigt zu haben (so z. B. auf www.spektrum.de vom 20. 5. 2015: „So sahen die ersten Schlangen aus“). Geht man aber ins Detail, stehen diese evolutionären Hypothesen faktisch und argumentativ auf einem sehr dünnen Fundament, wie nachfolgend dargelegt wird (vgl. Yi 2017).

Diversifikation: Verschiedenwerden innerhalb eines Formenkreises. marin: im Meer lebend. Multifunktionalität: Mehrfachnutzung, Erfüllung mehrerer Funktionen bzw. Zwecke. Masterkontrollgen: Gen, dessen Nutzung zur Aktivierung nachgeschalteter Prozesse führt und daher zentrale regulatorische Aufgaben erfüllt. chemosensorisch: Wahrnehmung von Geschmacksstoffen.

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Stand der historischen und kausalen Evolutionsforschung zur Herkunft der Schlangen

Zu den für Schlangen typischen Merkmalen gehören der deutlich verlängerte Körper mit zahlreichen rippentragenden Wirbelkörpern im Bereich des Brust- und Bauchanteils, die Reduktion bzw. das vollständige Fehlen von vorderen und hinteren Gliedmaßen (Ausnahmen sind die als primitive Schlangen angesehenen Boas und Pythons – diese Schlangen besitzen rudimentäre Anlagen eines Beckens und hinterer Extremitäten) sowie ein extrem flexibles Schädel- und Kieferskelett und bewegliche Rippen zum Verschlingen großer Beutetiere. Bei vielen Schlangenarten finden sich spezielle Giftzähne, die charakteristisch gegabelte Zunge sowie außergewöhnliche chemosensorische* (vomeronasale) Organe. Zusätzlich zeigen fast alle Schlangen eine Reduktion des linken Lungenflügels zugunsten des weit bis über die Körpermitte reichenden rechten Lungenflügels und eine stark in Falten gelegte Speiseröhre mit anschließendem lang gestrecktem Magen. Zahlreiche Schlangen besitzen die Fähigkeit der Wahrnehmung von infraroter Strahlung. Ein besonders zu erwähnendes Organ der Schlangen – weil einzigartig im Vergleich mit den anderen Schuppenechsen konstruiert – ist das Auge.

Abb. 2: Auftreten von schlangenähnlichen Körperformen innerhalb der Schuppentiere. Hassiophis ist eine fossile Schlange mit erneuter Ausprägung von Gliedmaßen. (Nach Evans 2015 , Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

Die Ähnlichkeiten von Schlangen mit dem Körperbauplan von Echsen bilden die Grundlage für ihre evolutionäre Ableitung von vierbeinigen Echsen. Rezente (heute lebende) Schlangen mit rudimentären Gliedmaßen und Beckenstrukturen (15 % aller Schlangenarten) werden deshalb als basale Formen (z. B. Boa, Python) und jene Vertreter (85 % aller Schlangenarten), die keine Gliedmaßen oder Spuren derselben haben, als hochspezialisierte bzw. hochentwickelte Formen angesehen (z. B. Viper, Klapperschlange, Kobra).

Einige Forscher gehen davon aus, dass
innerhalb der Squamata die schlangenähnliche Körperform evolutionär mindestens 26-mal unabhängig voneinander entstanden sein muss.

Wirbeltiere mit schlangenähnlichen Körpern sind unter heute existierenden Tierklassen und im Fossilbericht keine Seltenheit. Beschränkt man sich auf die Gruppe der Amnioten, zu denen Reptilien, Vögel und Säugetiere gehören, findet sich diese Körperform allerdings nur in der Gruppe der Squamata. Das sind Schuppenkriechtiere, zu denen Eidechsen, Schlangen und Doppelblindschleichen gezählt werden.

Einige Forscher gehen davon aus, dass innerhalb der Squamata die schlangenähnliche Körperform evolutionär mindestens 26-mal unabhängig voneinander entstanden sein muss (Abb. 2).

Verfolgt man die Diskussionen in der evolutionsbiologischen Fachliteratur zur Herkunft der Schlangen, begegnet man einer großen Zahl kontrovers diskutierter und ungelöster Fragen. Offen ist z. B. ob – und wenn ja, wie häufig – Schlangen unabhängig voneinander entstanden sind oder ob sie von einer einzigen „Urschlange“ abstammen, ob sie im Wasser (im Meer) oder auf dem Festland bzw. unter der Erde evolvierten. Uneinigkeit besteht hinsichtlich des Entstehungsortes (z. B. in Eurasia – heutiges Nordamerika, Grönland und ein großer Teil von Eurasien – oder in Gondwana – heutiges Südamerika, Afrika) und des Entstehungszeitpunktes im Mesozoikum (frühe oder mittlere Kreide, mittlerer Jura) und ob sich zuerst der schlangentypische Schädel bildete oder ob die Verlängerung des Körpers mit der Reduktion der Gliedmaßen den Beginn der Evolution der Schlangen darstellte. Unabhängig davon, wie diese Fragen beantwortet werden, muss man in einem evolutionären Modell davon ausgehen, dass zusätzlich einzelne Schlangenlinien mehrfach unabhängig voneinander den Lebensraum Wasser (zurück-)erobert haben müssen. Ungeklärt ist auch, welche Linien ihre Extremitäten zunächst verloren und dann wieder neu gebildet haben (z. B. gelten Hassiophis terrasanctus und Pachyrhachis problematicus als Vertreter fossiler Linien, die sekundär ihre Gliedmaßen wieder entwickelten). Ebenso unsicher bleibt die Ökologie der frühen Schlangen, z. B. ob sie primär insektenfressend oder fleischfressend waren (vgl. dazu Reeder et al. 2015, Hsiang et al. 2015, Caldwell et al. 2014, Martill et al. 2015, Leal et al. 2016, Da Silva et al. 2018).

Wenig diskutiert und offen sind die Ursachen und Mechanismen der gewaltigen strukturellen Änderungen innerhalb des Schlangenkörpers wie die der inneren Organe (z. B. Lunge, Magen) sowie die Herkunft neuer Sinnesorgane (z. B. für die Wahrnehmung infraroter Strahlung) bzw. deren tiefgreifende Umgestaltung, insbesondere beim Auge. Beispielhaft dazu ein Zitat von Wall, der bereits 1942 über die evolutionär erforderlichen Abwandlungen am Auge der Schlangen schrieb: „... die Schlangen mussten deshalb grundsätzlich ihr Auge in jeder Hinsicht neu erfinden. Soweit wir es sagen können, ist nirgendwo in anderen Wirbeltiergruppen ähnliches wie diese außergewöhnliche Meisterleistung geschehen ...“ (zitiert nach Held 2014).

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Aktuelle fossile Befunde verkomplizieren das Bild

In argentinischen Sandsteinablagerungen, die radiometrisch auf 85 Millionen Jahre datiert sind, fand man Dinilysia patagonia, die als erster repräsentativer Vertreter der modernen Schlangen ohne Extremitäten gilt. Die etwa 2 m lange, auf dem trockenen Land lebende Schlange zeigt keinerlei Spuren eines Schultergürtels oder eines Beckens (Yi 2017). Bis zum Jahr 2015 galten als älteste Schlangenfossilien eine Reihe von Funden aus der mittleren Kreide (ca. 100 MrJ). Sie stammten hauptsächlich aus Afrika, Nordamerika, Brasilien und Europa (vgl. Abb. S. 28). Darunter fanden sich auch Fossilien, die Anteile eines Beckens und von Hinterbeinen aufwiesen und deshalb als eindrucksvolle Belege des vermuteten evolutionären Wandels zu beinlosen Formen galten (z. B. Najash rionegrina, ca. 99-94 MrJ, vgl. Apestiguia et al. 2006). Doch diese Fossilien aus der mittleren Kreide repräsentierten bereits eine morphologisch und phylogenetisch sehr heterogene Gruppe, was eine deutlich frühere Entstehung und schnelle adaptive Radiation der Schlangen nahelegte. Letztere Vermutungen, so Yi (2017), stünden auch im Einklang mit Ergebnissen der molekularen Phylogenetik (molekulare Uhren).

Caldwell et al. (2015) bewerten aufgrund der aufgeworfenen zeitlichen Diskrepanz zwischen dem Fossilbefund und den Ergebnissen der molekularen Phylogenetik mehrere umstrittene fossile Schädelreste von Echsen aus dem mittleren Jura (ca. 167 MrJ) und der unteren Kreide (ca. 155 und ca. 140 MrJ) neu. Ihrer Meinung nach weisen diese fossilen Schädel neben Merkmalen von Echsen eindeutig solche von moderneren Schlangen auf. Wenn diese Schädelreste zu ausgestorbenen Schlangen gehören, wären sie allerdings ca. 70 MrJ älter als die bis dahin anerkannten frühesten fossilen Vertreter von Schlangen. Diese Funde rissen also eine neue zeitliche Überlieferungslücke von 70 MrJ auf.

Abb. 3: Fossil von Tetrapodophis amplectus (Vierfußschlange). Die eine Seite einer Platte enthält den Körper des Fossils und den Abdruck seines Schädels, die andere Seite enthält den Schädel und den Abdruck des Körpers. (Aus Gramling 2016, Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

Die Fundorte der von Caldwell et al. untersuchten fossilen Schädel befinden sich in verschiedenen Regionen des Urkontinents Laurasia (heute England, Portugal, USA-Colorado) und sie belegen eine für die Autoren unerwartete und überraschend weite biogeographische Verbreitung dieser Schlangen bereits in der unteren Kreide. Das legt wiederum den Schluss nahe, dass die Differenzierung und Radiation von Schlangen noch früher, also bereits im mittleren Jura, erfolgt sein musste, parallel zu der Herausbildung anderer Schuppenechsen auf dem zerbrechenden Urkontinent Pangäa. Die Autoren sind sich dabei sicher, dass die Entstehung des schlangentypischen Schädels als Schlüsselinnovation den Veränderungen der Körperverlängerung und der Gliedmaßenreduktion vorausging. Deshalb erwarten sie auch, dass der Fossilbericht zukünftig Übergangsformen von „... vierbeinigen Stammschlangen mit kurzem Körper und einem schlangentypischen Schädel“ liefern wird.

Zu gegensätzlichen Resultaten kommen Martill et al., die ebenfalls im Jahr 2015 einen spektakulären und sehr umstrittenen Fossilbefund präsentierten. Das von Martill et al. zum ersten Mal beschriebene Fossil einer Schlange mit vier Füßen – Tetrapodophis amplectus (Vierfußschlange) – wird von den Autoren als „missing link“ bezeichnet, weil es die evolutionäre Entstehung der Schlangen auf dem Festland über eine vierfüßige und grabende Zwischenform zweifelsfrei bestätigen würde (Abb. 3).

Martill et al. haben das bis dahin als „unbekanntes Fossil“ klassifizierte Objekt im Bürgermeister-Müller-Museum in Solnhofen untersucht. Das komplett erhaltene Fossil, welches aus der Crato-Formation in Brasilien (frühe Kreide, ca. 108 MrJ) stammen soll, zeigt anatomische Besonderheiten, welche die Autoren für schlangentypisch halten. Dazu zählen mehr als 150 präkaudale Wirbel (Wirbelkörper mit Rippen, die vor dem eigentlichen Schwanz liegen), 112 kaudale Wirbel (d. h. Schwanzwirbel mit kurzen, nach hinten gerichteten Wirbelkörperfortsätzen) sowie zierliche vordere und hintere Gliedmaßen mit charakteristischen Fingerformeln (2-3-3-3-3) für Hand und Fuß sowie fehlende marine* Anpassungen. Die Autoren postulieren deshalb – entgegen Caldwell et al. (s. o.) – die Entstehung und Diversifikation* der Schlangen in der frühen Kreide in Gondwana. Von da aus sollen deren Nachkommen vor dem Aufbrechen der Kontinente auch Laurasia besiedelt und ihre weitere Radiation und jeweilige regionalspezifische Diversifikation erfahren haben.

„Was dieses [Fossil] nun tatsächlich ist, da mag es so viele Meinungen geben wie Paläontologen.“

Heftige Kritik an der Gültigkeit des Fundes (insbesondere wegen des unsicheren Fundortes) und an der evolutionären Einordnung von Tetrapodophis amplectus als „missing link“ kam von der Mehrzahl von Paläontologen auf der Konferenz der „Society of Vertebrate Paleontology“ im Oktober 2016 in Salt Lake City, speziell von Caldwell. Sie sehen in dem Fossil eher Überreste einer im Meer lebenden Eidechse (aus der Gruppe der Dolichosaurier), basierend auf dem Gegenstück der Fossilplatte, die Martill et al. ihrer Meinung nach zu wenig berücksichtigt hatten (vgl. Abb. 3). In einer E-Mail an die Zeitschrift Science antwortet ein Co-Autor Martills auf die Kritik von Caldwell: „In Wahrheit zeigt jedes einzelne Merkmal, dass es zu einer Schlange gehört – außer einem kleinen Detail: Es hat Arme und Beine“ (zitiert nach Gramling 2016).

Im Wissenschaftsjournal Science gibt Gramling (2016, 537) die aktuelle Diskussionslage wohl treffend wieder, wenn sie schreibt: „Was dieses [Fossil] nun tatsächlich ist, da mag es so viele Meinungen geben wie Paläontologen.“

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Experimentelle Embryologie und EvoDevo

In den letzten drei Jahrzehnten suchten Evolutionsbiologen intensiv unter Nutzung zahlreicher Ergebnisse der experimentellen Embryologie und Genetik nach neuen Antworten auf die offenen Fragen zu den kausalen Mechanismen der Evolution (Junker 2008, 2009a, 2009b). Daneben finden sich in der Literatur vermehrt längst überwunden geglaubte Argumentationslinien wieder, die an das Biogenetische Grundgesetz von Ernst Haeckel anknüpfen und in der embryonalen Abfolge von Formbildungen ein Abbild des evolutionären Entstehungsprozesses des jeweiligen Organismus sehen. So schreibt Held (2014): „Rudimente sind die evolutionären Äquivalente von Fingerabdrücken in einem Kriminalstück. Sie offenbaren hilfreiche Schlüssel zu einer unsichtbaren Vergangenheit. Pythons sind dafür ein Beispiel, sie haben zarte Ansätze eines Beckens und eines Oberschenkels unter ihrer Haut ... Diese Relikte demonstrieren: Die Vorfahren der Schlangen hatten Beine“ (Position 1723 der digitalen Auflage). Held sieht also in den bei 15 % der Schlangen nachweisbaren Becken- und Beinanlagen Rekapitulationen eines früheren evolutionären Stadiums.

Obwohl die Kritikpunkte an den Aussagen und der Methode des Biogenetischen Grundgesetzes unverändert bestehen (Junker & Scherer 2013, Kap. V.11; Ullrich 2005), gewinnt z. B. die Hypothese, dass Schlangen im Verlauf der Evolution ursprünglich vorhandene Beine verloren und eine Vervielfachung ihrer Wirbelkörper mit entsprechender Verlängerung der Körperachse erfahren haben, neben den oben beschriebenen kontrovers diskutierten Fossilien auch Unterstützung durch die experimentelle Embryologie.

Im Mittelpunkt des Interesses zahlreicher experimenteller Untersuchungen steht der Zusammenhang zwischen Masterkontrollgenen* und deren Einfluss auf Veränderungen der Körpergestalt. Unter Masterkontrollgenen fasst man alle Gene zusammen, denen in der Ontogenese eine zentrale regulatorische Funktion zugeschrieben wird (z. B. HOX-Gene, PAX-Gene). Diese Gene sind im gesamten Tierreich nachgewiesen worden und zeigen einen aus phylogenetischer Perspektive unerwartet hohen Grad an sequenzieller und funktioneller Ähnlichkeit. Eine bedeutende Untergruppe stellen die HOX-Gene dar. Sie sind unter anderem für die Segmentierung des Insektenkörpers oder für die Festlegung von Körperachsen, aber auch für die Ausbildung der verschiedenen Abschnitte der Wirbelsäule, für die Anzahl der Wirbelkörper oder für die örtlich und zeitlich exakte Entwicklung und Differenzierung der Extremitäten bei Wirbeltieren verantwortlich (vgl. Ullrich 2008, 2015).

Vergleichende genetische Studien an diesen Masterkontrollgenen (insbesondere den HOX-Genen) zeigten u. a., dass die topographischen Aktivitätsmuster einzelner HOX-Gene sich bei Schlangen gegenüber anderen Echsen oder Säugetieren örtlich „verschoben“ haben. Im Jahr 1999 konnten Cohn et al. bereits nachweisen, dass bei der Python spezielle HOX-Gengruppen, HOXc6 und HOXc8, in den embryonalen Zellen entlang der gesamten embryonalen Körperachse einschließlich des Bereiches des Kopfes aktiv sind. Bei der Maus oder beim Hühnchen hingegen ist die obere Grenze der Aktivierung der HOXc8-Gene in Höhe des zukünftigen Überganges vom Hals zum Brustkorb gelegen und mit der Bildung von Rippen assoziiert. Held (2014) schlussfolgert daraus, dass es offenbar in einer sehr kurzen Zeitspanne bei den Vorfahren der Schlangen zu einem Wandern („shifting“) der topographischen bzw. örtlichen Expressionsgrenzen bestimmter HOX-Gene in Richtung des Kopfes kam, was u. a. zum Verlust der vorderen Extremitäten führte (sogenanntes „sudden-loss scenario“). Diese Deutung erfuhr aber einen deutlichen Dämpfer: Eine 2009 veröffentlichte Studie an Kornnattern zeigte, dass bei dieser Schlangenart die Expressionsgrenzen mit denen von Echsen oder der Maus identisch sind (Woltering et al. 2009) und damit das „shifting“ für den Verlust von Gliedmaßen bei Schlangen allein kein Grund sein kann.

Ein Kernproblem bei der phylogenetischen Interpretation von topograpischen HOX-Genexpressionsmustern in den embryonalen Zellen für den hypothetischen Verlauf des evolutionären Wandels sieht Held (2014) u. a. darin, dass eine nachweisbare örtliche Korrelation von Expressionsgrenzen spezifischer HOX-Gene mit der Höhe der Ausbildung embryonaler Extremitätenanlagen noch nichts darüber aussagt, ob diese HOX-Gene phylogenetisch mit der Extremitätenbildung oder deren Verlust auch tatsächlich etwas zu tun haben. Es handelt sich bis jetzt nur, so Held, um beobachtete örtliche Korrelationen zwischen Genaktivitäten und der Ausbildung von anatomischen Strukturen, die zudem nicht universell gültig sind (s. o. bei Kornnattern).

Darüber hinaus gibt es genügend Belege für eine deutliche Plastizität der HOX-Genexpressionsmuster in eng benachbarten embryonalen Geweben. So kann es sein, dass gerade keine örtliche (topographische) Korrelation zwischen ontogenetisch nachweisbaren Expressionsgrenzen der HOX-Gene im Embryo und den durch sie beeinflussten anatomischen Strukturen vorliegt (z. B. variable Korrelation: Mesoderm der lateralen Platte als Ausgangsgewebe für die Extremitätenentwicklung; dagegen starre Korrelation: paraxiales Mesoderm als Ausgangsgewebe der Wirbelkörper- und Rippenentwicklung). Die Bedeutung dieser ontogenetischen Plastizität der HOX-Genexpression ist ein Grund dafür, dass die hypothetischen phylogenetischen Deutungen nach wie vor sehr spekulativ und widersprüchlich bleiben.

In einem anderen Ansatz, dem Verlust der Beine bei Schlangen auf die Spur zu kommen, suchten Kvon et al. (2016) nach einer genetischen Steuersequenz, dem ZRS-Masterkontrollgen (Zone of Polarizing Activity Regulatory Sequence), und dessen Funktion bei Schlangen. Diese Sequenz gehört zu den am besten erforschten Transkriptionsverstärkern bei Säugetieren und konnte nun auch bei Schlangen, wie zuvor in den meisten Genomen anderer Wirbeltiere, nachgewiesen werden. Das Masterkontrollgen ist „regelungstechnisch“ oberhalb der HOX-Gen-Ebene angesiedelt und für die Entwicklung von Extremitäten bei Echsen, Fischen und Mäusen von großer Bedeutung. Die Extremitätenentwicklung basiert auf vielfältig vernetzten, örtlich und zeitlich regulierten Kaskaden aufeinanderfolgender Genaktivitäten (vgl. Ullrich 2008). In den embryonal angelegten Extremitätenknospen wird über die Wirkung von ZRS ein weiteres Masterkontrollgen, das shh (Sonic Hedgehog), aktiv. Dieses wiederum aktiviert andere, nachgeschaltete Kontrollgene (z. B. HOX-Gene) und die Strukturgene zur Bildung der Extremität, was schließlich in der Ausbildung der typischen Strukturen einer Extremität (z. B. Oberschenkel, Unterschenkel, Fuß und Zehen) mündet. Auffallend ist, dass bei den als primitiv bezeichneten Schlangen (Boa, Python) die Sequenzidentität des ZRS im Vergleich zu einem wichtigen regulativen Abschnitt, den man aus Mäusen kennt, ca. 88 % beträgt und bei den als höher entwickelt geltenden Schlangen (Viper, Kobra) die Identität nur noch 63 % beträgt.

In außergewöhnlichen Experimenten belegten Kvon et al. (2016) die vorhandene Restfunktionalität der ZRS-Sequenzen von Schlangen für die Extremitätenentwicklung bei Säugetieren, indem die entsprechenden ZRS-Sequenzen zunächst von einer Kobra und dann auch von einer Python in ein Mausembryo übertragen wurden.

In beiden Fällen kam es zu einer jeweils unvollständigen Extremitätenentwicklung der Maus, die bei der genutzten ZRS-Sequenz der Kobra im Mäuseembryo sehr ausgeprägt bei der der Python demgegenüber deutlich geringer ausfielen.

In einem weiteren Experiment reparierte man mittels moderner gentechnischer Verfahren (z. B. CRISPR/Cas-Methode) die im Vergleich zur Maus defekten bzw. inaktiven Abschnitte der ZRS-Sequenz einer Python. Diese veränderte Sequenz wurde dann in einem Mausembryo getestet. Das Ergebnis war die Induktion einer normalen Extremitätenentwicklung in den gentechnisch veränderten Mäuseembryonen (Abb. 4).

Abb. 4: Experimentelle Untersuchungen mit der ZRS bei Schlangen und Mäusen. (Nach Kvon et al. 2016) Oberer Kasten: Die Übertragung der dezimierten ZRS von Schlangen in ein Mäuseembryo führt zur deutlichen Fehlbildung der Extremitätenentwicklung bei Mäusen. Mitterer Kasten: Mittels moderner gentechnischer Verfahren (z. B. CRISPR/Cas-Methode) Wiederherstellung der defekten bzw. inaktiven Abschnitte der ZRS-Sequenz einer Python. Diese veränderte Sequenz wird in einem Mausembryo getestet. Das Ergebnis induziert eine normale Extremitätenentwicklung in den gentechnisch veränderten Mäuseembryonen. Unterer Kasten: Hypothese des Extremitätenverlustes bei Schlangen: Der graduelle Verlust der Funktionalität der ZRS soll im Verlauf der Evolution der Schlangen zu einem mehr oder weniger starken Verlust der embryonalen Induktion ihrer Extremitätenentwicklung geführt haben.

Die Autoren schlussfolgern aus den o. g. Ergebnissen, dass die offensichtlich degenerierte ZRS-Sequenz aus Schlangen durchweg kein Potenzial mehr hat, eine normale Extremitätenentwicklung zu ermöglichen. Weiterhin, dass der unterschiedliche Grad an Degeneration der ZRS-Sequenz in verschiedenen Schlangen zum einen mit dem Verlust, aber auch mit dem z. T. erneuten Auftreten von Extremitäten in der Evolution der Schlangen (s. o.) unmittelbar zusammenhängen könnte.

Offen lassen die Autoren, ob die Degeneration der ZRS-Sequenz die Grundlage oder Folge der o. g. postulierten Rückbildung der Extremitäten darstellt. Der Erhalt der ZRS-Sequenzen bzw. von Teilen davon spricht jedoch dafür, dass bestimmte Teile in andere genetische Netzwerke eingebunden sind und deshalb nicht völlig durch negative Selektion verschwunden sind.

In diesem Zusammenhang wird durch die Autoren eine weitere für sie ungewöhnliche Auffälligkeit beim Vergleich der Sequenzunterschiede der ZRS-Region innerhalb der Wirbeltiere hervorgehoben. Obwohl die evolutionäre Distanz (ca. 175 MrJ) zwischen Schlangen und Säugetieren viel geringer ist als die zwischen den Fleischflossern (z. B. Quastenflosser) und den Säugetieren (ca. 400 MrJ), sind die Sequenzunterschiede der ZRS-Region der Säuger gegenüber Schlangen deutlich größer als gegenüber den Quastenflossern (so auch Villar et al. 2016).

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Diskussion
Abb. 5: Diversität innerhalb der Schlangen. Jeweils von links nach rechts:
1. Reihe: Horn- Klapperschlange (Crotalus cerastes), Braune Hausschlange (Lamprophis lineatus), Nasen-Peitschennatter (Ahaetulla nasuta) 2. Reihe: Rote Südliche Hakennasennatter (Heterodon simus), Riesennatter (Imantodes cenchoa), Südliche Korallenotter (Micrurus frontalis mesopotamicus) 3. Reihe: Blaue Krait (Bungarus candidus), Kornnatter (Pantherophis guttatus), (junge) Grüne Baumpython (Morelia viridis) 4. Reihe: Grüner Hundskopfschlinger (Corallus caninus), Indische Kobra (Naja naja), Afrikanische Viper (Atheris hispida) 5. Reihe: Sri-Lanka-Lanzenotter (Boiga ceylonensis), Ringelnatter (Natrix natrix), Rotbäuchige Mondnatter (Oxyrhopus trigeminus) 6. Reihe: Ringhalsnatter (Diadophis punctatus occidentalis), Bullennatter (Pituophis catenifer), Zischnatter (Pseustes poecilonotus) (Wikipedia, CC BY-SA 3.0)

Schlangen sind morphologisch und funktionell in vielfacher Hinsicht einzigartige Organismen, die erstaunlich vielfältig in zahlreichen ökologischen Nischen mit hochspezifischen Merkmalen anzutreffen sind (vgl. Abb. 5). Ihre evolutionären Ursprünge, ihre morphologische Diversifikation und paläobiogeographische Ausbreitung liegen ebenso im Dunkeln wie die zugrunde liegenden Mechanismen der erforderlichen tiefgreifenden Bauplanänderungen. Zahlreiche Konvergenzen müssen angenommen werden, um z. B. den evolutionären Verlust der Extremitäten innerhalb der Schuppenechsen zu erfassen, und auch, um die heutige Merkmalsverteilung innerhalb der Schlangen plausibel zu machen.

Der Fossilbericht erzwingt einen immer früher zu postulierenden Entstehungszeitpunkt der Schlangen (von mittlerer Kreide auf aktuell mittlerer Jura). Es fehlen Fossilien, die den hypothetischen Weg der Reduktion der Gliedmaßen, der Verlängerung der Körperachse parallel mit den Veränderungen des Schädels dokumentieren. Auffallend ist die bei den aktuell am ältesten datierten Fossilien (Schädelreste und Halswirbelkörper aus dem Jura) hochgradig ausgeprägte morphologische Divergenz und biogeographische Verbreitung, was wiederum aus evolutionärer Sicht eine noch frühere Entstehung der Schlangen erfordert, als der Fossilbericht selbst aufzeigt. Wie bei anderen Tiergruppen (Vögel, Säugetiere; vgl. Junker 2017, Ullrich 2015) dokumentieren die Schlangenfossilien insgesamt eine höhere Vielfalt an ehemals vorhandenen Formvarianten (wie übrigens auch die anderen Schuppenechsen) gegenüber dem heutigen Befund. Die Diskussionen in der Fachwelt zu dieser Befundkonstellation sind nach wie vor von ex­trem gegensätzlichen Positionen gekennzeichnet.

Hier nicht diskutiert, aber nicht unwesentlich für die Klärung der Frage zur Herkunft der Schlangen, ist das Thema der Selektion. Wie und auf welche Weise haben die Selektionsbedingungen über ca. 50 Millionen Jahre (nach Held 2014) auf die temporär unterirdisch lebenden Schlangen Einfluss genommen? Was bewegte den einen oder die verschiedenen Schlangenvorfahren über mutmaßliche 50 Millionen Jahre eine unterirdische Lebensweise anzunehmen, um danach wieder überirdisch zu leben? Oder welche Selektionsdrücke kanalisierten den Verlust von Gliedmaßen und deren teilweise erneute Ausbildung bei Schlangen und auch den mehrfachen Wechsel des Lebensraumes (Land – Wasser)?

Der Ansatz von EvoDevo, über die experimentelle Aufdeckung embryonaler und molekulargenetischer Zusammenhänge bei der Bildung von Organismen die Schlüsselfragen der der Evolution zugrunde liegenden Mechanismen zu beantworten, war und ist verheißungsvoll. Er führte einerseits, wie exemplarisch bei Cohn et al. und Kvon et al. gezeigt, zu faszinierenden neuen Erkenntnissen. Im Gegensatz zu den Erwartungen verkomplizieren diese Ergebnisse jedoch die zu klärenden evolutionsbiologischen Fragestellungen, anstatt sie einer Lösung näherzubringen, wie im Fall der hier diskutierten genetischen Zusammenhänge eines evolutionären Extremitätenverlustes bei Schlangen gezeigt. Die hochgradigen, zeitlich und örtlich variablen Vernetzungen von der morphologisch-funktionellen Ebene bis zur molekulargenetischen Ebene stellen Stolpersteine dar, um tiefgreifende Bauplanänderungen eines Organismus – wie es die hypothetische Evolution der Schlangen erfordert – zu ermöglichen. Der Verlust von Extremitäten in ihrer eigenen Komplexität erklärt dazu nicht ansatzweise die vielen Besonderheiten, die Schlangen auszeichnen. Das reicht vom Bauplan des Körpers mit Lunge und Magen über neue Organe (z. B. Wärmesensoren, Gifte), den Geruchssinn, der über das Züngeln vermittelt wird, bis zu den vielen Einzelheiten, die Schlangen in ihren extrem unterschiedlichen Lebensräumen auszeichnen.

Dank: Ein herzliches Dankeschön für die geduldige fachliche und redaktionelle Unterstützung bei der Erstellung dieser Arbeit geht an Herrn Dr. Reinhard Junker und Herrn Dr. Niko Winkler.

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Studium Integrale Journal 25. Jg. Heft 1 - Mai 2018