Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 16. Jg. Heft 1 - Mai 2009
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Evo-Devo: Schlüssel für Makroevolution?
Teil 1: Ausgangspunkt und Anerkennung eines ungelösten Evolutionsproblems
Teil 2: Wiederverwendung, Umfunktionierung und Neuprogrammierung
Teil 3: Genetische Akkommodation: Schritte zum Erwerb evolutiver Neuheiten?

von Reinhard Junker

Studium Integrale Journal
16. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2009
Seite 17 - 21


Zusammenfassung: Nach dem Evo-Devo-Ansatz sollen Kenntnisse über die Ontogenese (Individualentwicklung) für das Verständnis der Mechanismen der Makroevolution genutzt werden. Dazu werden verschiedene Mechanismen vorgeschlagen, die in diesem und dem nächsten Teil der Artikelserie über Evo-Devo vorgestellt und diskutiert werden sollen. In dieser Folge geht es um das Konzept der „Kooption“: Nicht nur die Neuentstehung von Genen und ihre allmähliche Änderung sollen demnach zu evolutionären Neuheiten führen, sondern Wiederverwendung, Umfunktionierung und Mehrfachnutzung schon vorhandener Gene in neuen Zusammenhängen. Man spricht auch von Neuprogrammierung und Rekrutierung.

Die Idee, dass Evolution vielfach durch Kooptionen voranschreitet, ist vor allem durch vergleichende Studien begründet. Man weiß heute, dass viele Gene bzw. Proteine tatsächlich in unterschiedlichen Zusammenhängen genutzt werden. Die Frage nach den Mechanismen befindet sich aber bislang in einem sehr hypothetischen Stadium. Bei der Beschreibung der vermuteten Evolutionsprozesse wird ausgiebig Gebrauch von teleologischen (zielgerichteten) Vorgängen gemacht, obwohl es solche Prozesse in ungelenkten Abläufen gar nicht geben dürfte. Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, dass eine Schöpfungsperspektive sinnvoll ist.


Inhalt
•  Einleitung
•  Die neuen Ideen
•  Kritik
•  Schlussfolgerungen
•  Literatur


Einleitung

Im ersten Teil der Artikelserie über Evo-Devo wurden einige Befunde und Argumente zusammengestellt, die diesen neuen Erklärungsansatz für evolutionäre Neuheiten (Makroevolution) motivieren. Die Synthetische Evolutionstheorie (oft synonym mit „Neodarwinismus“) gilt demnach als unvollständig, da sie keine Erklärung für evolutionäre Neuheiten bietet, sondern nur Feinjustierungen erklären kann. Tab. 1 gibt in der rechten Spalte einen Überblick über die Erklärungsdefizite, die von Evo-Devo-Forschern angemahnt werden.

In Kurzform können zwei verschiedene Mechanismen von Evo-Devo wie folgt zusammengefasst werden (vgl. Abb. 1):

  1. Evolution geschieht durch Neuprogrammierung bzw. Neuverwendung von Genen, vor allem von solchen Genen, die regulatorische Aufgaben haben.
  2. In der Evolution neuer Strukturen sind phänotypische Veränderungen (Änderungen im Erscheinungsbild) die Vorreiter, bevor es zu Änderungen des Erbguts kommt. Dies ist möglich durch die große Formbarkeit (Plastizität) auf den ontogenetischen Entwicklungswegen. In diesem Artikel soll es um den ersten Mechanismus gehen; der zweite ist Gegenstand des nächsten Teils der Artikelserie über Evo-Devo.
Tab. 1: Gegensätzliche Positionen von Neo-Darwinismus (Synthetische Evolutionstheorie) und Evo-Devo. (Nach Amundson 2005, 166; Arthur 2000, 55; Bateman & DiMichele 2002, 111; Charlesworth 1982; Cronk 2002, 11; Salazar-Ciudad & Jernvall 2005, 619; Stotz 2005, 349, u.v.a.)
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Die neuen Ideen

Neue regulatorische Verknüpfungen

Abb. 1: Für die Synthetische Evolutionstheorie war die Ontogenese weitgehend eine Black Box. Deren Inhalt versucht der Evo-Devo-Ansatz für die Erklärung evolutiver Neuheiten nutzbar zu machen. Genotyp = Summe der Erbfaktoren, Phänotyp = Erscheinungsbild.

Ein grundlegender Unterschied zwischen dem Evo-Devo-Ansatz und der Synthetischen Evolutionstheorie besteht darin, dass Evolution nicht nur durch Entstehung neuer Gene voranschreitet. Viele grundlegende Gene sind nämlich bei verschiedensten Tierstämmen gleich, so dass die großen Unterschiede zwischen den Tierstämmen nicht allein auf der genetischen Ebene festgemacht werden können.

Evolutionäre Neuheiten sollen vielmehr auf Veränderungen der Rolle von Steuergenen und deren Verknüpfungen untereinander während der ontogenetischen Entwicklung zurückgehen (vgl. Tab. 2; vgl. Laubichler 2005, 324). Dabei können alle möglichen „Baukasten-Gene“ (Carroll 2005) beteiligt sein. Arthur (2002) spricht von „developmental reprogramming“. Die postulierten Neuverknüpfungen haben ein Überraschungsmoment, das – typisch für Überraschungen – nicht vorhersehbar ist. Daher sind solche „Neuprogrammierungen“ durch populationsgenetische Modelle nicht beschreibbar (Wagner 2001, 305). Typisch für die Evo-Devo-Erklärung mittels Kooptionen ist die fehlende Vorhersagbarkeit. Darin zeige sich der konzeptionelle Graben zwischen Evo-Devo und der konventionellen Sichtweise (Amundson 2005, 245, 247).

Wie das „developmental reprogramming“ funktioniert, hängt von der Art der Mutation ab und von der Rolle, die das mutierte Gen bisher und künftig spielt. Ein Beispiel: Wenn ein Gen eine spezielle Aufgabe beim Lesen bestimmter DNA-Sequenzen erfüllt (solche Gene nennt man Transkriptionsfaktoren), kann eine Mutation diese spezifische Aufgabe ändern. Dabei wird der Wirkungsbereich der nachgeschalteten regulierten Gene modifiziert (Arthur 2000, 52).

Damit aber funktioniert die Neuprogrammierung auch auf der Basis von Mutationen. Deshalb könnte man durchaus bestreiten, dass es bezüglich Neuprogrammierung einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Evo-Devo und der Synthetischen Theorie gebe. Der Unterschied besteht in dieser Perspektive darin: Der Einfluss mancher Mutationen – solcher in Steuergenen – ist weitreichender und bewirkt stärkere (und wie man hofft: konstruktive) Änderungen als der Großteil der Mutationen, die nur zu geringfügiger Variation eines Merkmals führen. Insbesondere ist die Idee der Neuverknüpfungen und Mehrfachnutzung von Genen neu.

Tab. 2: Klassische neodarwinistische 3-Stadien-Sicht vom Ursprung der Arten und 4-Stadien-Verständnis im Sinne von Evo-Devo. Nach Arthur (2000).

Die Zunahme an Komplexität im Laufe der Evolution soll demnach durch eine Zunahme biologischer Funktionen einzelner Regulationsgene oder auch anderer Gene erfolgt sein. Das heißt, die einzelnen Gene werden immer vielseitiger verwendet und erfüllen zunehmend unterschiedliche Funktionen (Duboule & Wilkins 1998, 57). Die dafür erforderliche, nach und nach erfolgte Bereitstellung von Genen für neue Aufgaben (sukzessive Rekrutierung) wird allerdings in wachsendem Maße schwieriger, je vielfältiger die Gene zuvor schon genutzt wurden und künftig vernetzt werden (Duboule & Wilkins 1998, 57; Gilbert 2003, 775). Daraus ergibt sich eine interne Vorselektierung von tolerablen Mutationen und folglich eine Kanalisierung (Duboule & Wilkins 1998, 57). Die Erzeugung von Variabilität wird dadurch in gewisse Bahnen gelenkt und ist daher begrenzt.

Die überraschend geringfügige Zunahme der Anzahl an Genen bei komplexer gebauten Organismen (True & Carroll 2002, 54) wird auf solche Prozesse zurückgeführt.

Kooptionen und Rekrutierungen

Es hat sich bei allen Organsystemen gezeigt, dass der ontogenetischen Entwicklung eindeutig nicht-homologer Strukturen (wie die Gliedmaßen der Wirbeltiere, Gliederfüßer oder Stachelhäuter) homologe, sogar fast identische Steuergene zugrundeliegen. Diese Entdeckung war geradezu sensationell, niemand hatte damit gerechnet. Dieser verbreitete Befund führt nun aber zu einem Paradox: Woher kommt die Vielfalt, wenn die (Steuer-)Gene hochkonserviert sind (Arthur 2002, 758)? (vgl. Abb. 3) Drei Möglichkeiten werden diskutiert:

  1. Die Regulationsgene sind gar nicht homolog, sondern konvergent (unabhängig) entstanden. Diese Möglichkeit ist derart unwahrscheinlich, dass sie kaum ernsthaft erwogen wird.
  2. Die gemeinsamen Steuerungsgene sind ein gemeinsames evolutives Erbe, wurden aber unabhängig bei der Steuerung der Ontogenese nichthomologer Strukturen „eingesetzt“. Demnach wurden sie konvergent rekrutiert (Willmer 2003, 40; vgl. Arthur 2004, 87).
  3. Schließlich könnten in verschiedenen Tierstämmen untergeordnete Gene den homologen Steuergenen nachgeschaltet und eingefügt worden sein (sog. „Tinkering“, s. Abb. 2).

Die zweite und die dritte Möglichkeit kann man kombinieren. Entsprechend wird z. B. bei den Gliedmaßen folgendes Szenario diskutiert (Abb. 3): Im hypothetischen Urbilaterier (zweiseitig symmetrischer Vorfahre der Tiere) könnte es sehr einfache Körperanhänge schon gegeben haben (so einfach gebaut, dass die sehr verschiedenen Gliedmaßen der Tierstämme davon abgeleitet werden können). Deren Entwicklung stand bereits unter der Kontrolle eines Steuergens, das dem Steuergen dll („distal-less“), welches bei heutigen Gliedmaßen vorkommt, homolog ist. Dieses konnte dann für die Steuerung der Bildung der verschiedenen Gliedmaßen rekrutiert werden. Der weitere Ausbau erfolgte dann durch evolutives „Tinkering“, also das „Einflicken“ weiterer Elemente in eine bereits existierende Entwicklungskaskade, wobei in der nachfolgenden Evolution sehr verschiedene Gene eingefügt wurden (Abb. 3; vgl. diesen hypothetischen Vorgang bei der Augenevolution in Abb. 2).

Abb. 2: Stark schematisierte Darstellung des hypothetischen Gen-Tinkerings am Beispiel des Auges. Ein Augen-Prototyp wird zunächst als gegeben vorausgesetzt. Die weitere hypothetische evolutive Entwicklung erfolgt durch sukzessive Einfügung weiterer Gene, die unter der Kontrolle des Master-Gens (pax6) stehen. Die verschiedenen Augentypen sollen demnach durch unterschiedlichen Einbau untergeordneter Gene entstanden sein.

Höchst erstaunlich ist darüber hinaus, dass Neuverwendungen nicht nur im Zusammenhang mit funktionell vergleichbaren Strukturen (z. B. verschiedene Arten von Gliedmaßen), sondern auch in funktionell völlig verschiedenen Zusammenhängen vorkommen. So finden sich beispielsweise Proteine wie Dll, En und Sal, die bei der Entwicklung der Insekten eine konservierte Rolle bei der Entwicklung der Gliedmaßen spielen, in verschiedener Weise bei der Regulation von Augenflecken bei Schmetterlingen (True & Carroll 2002, 67; Abb. 4).

Noch erstaunlicher ist, dass Kooptionen nicht nur bei einzelnen Genen, sondern auch bei ganzen Signalübertragungswegen angenommen werden müssen (Gilbert 2003, 768).

True & Carroll (2002, 74) kommen zum Schluss, dass genetische Kooptionen in der Evolution vielzelliger Organismen weit verbreitet gewesen sein müssten. „Prozesse der Kooption und Diversifikation in der Regulation erklären großenteils viel eher als die ‘Erfindung’ neuer Gene, weshalb die Anzahl der Gene in den meisten komplexen Organismen wie den Säugetieren nicht viel größer ist als die Anzahl der Gene in einfacheren Organismen wie Fliegen und Würmern.“

Ganz auf die Entstehung auch neuer Elemente kann in den evolutionstheoretischen Erklärungen allerdings nicht verzichtet werden. Evolutionäre Neuheiten werden daher insgesamt auf eine mehr oder weniger komplexe Verflechtung konservierter Merkmale und neuer Elemente zurückgeführt (Minelli & Fusco 2005, 520).

Duplikationen und Mega-Duplikationen. Am Beginn der divergenten Entwicklung werden Gen-Duplikationen vermutet. Verdoppelte Gene könnten für neue Aufgaben frei werden. Dieses Konzept ist zwar nicht neu, wird im Rahmen von Evo-Devo aber auf Steuergene angewendet, die nach Duplikationen für neue Regulationsaufgaben verwendet werden könnten.

Offenheit für sprunghafte Evolution. Aus dem Gesagten resultiert eine Offenheit für saltatorische (sprunghafte) Evolution. Wenige Änderungen in Regulationsgenen könnten größere Änderungen hervorrufen; und angesichts der „kambrischen Explosion“ und anderer markanter fossiler Diskontinuitäten wird der Ruf nach sprunghaften Veränderungen laut (vgl. die erste Folge dieser Artikelserie). Die „hopeful monsters“ von Goldschmidt erhalten eine neue Chance (Theissen 2006).

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Kritik

Die Mechanismenfrage bleibt offen

Evo-Devo-Forscher sprechen von Neuprogrammierung, Rekrutierung, Kooption oder Flickschusterei („tinkering“). Dabei gewinnt man häufig den Eindruck, als ob es kein Problem wäre, wie das überhaupt funktioniert. Mit einzelnen Mutationen ist es bei solchen hypothetischen Vorgängen jedoch nicht getan, und aufgrund der Verflechtungen vieler Gene und epigenetischer Abläufe ist zu erwarten, dass Mutationen fast immer schädlich sind (vgl. Chipman 2001, 300), und das umso mehr, je vielfältiger die Mehrfachnutzung der Gene ist. Die Vorschläge von Mechanismen sind ziemlich vage, sobald es sich um umfangreichere Veränderungen handelt.

Abb. 3: Wie kommt es, dass die Entwicklung nicht-homologer Körperteile (hier Extremitäten von Wirbeltieren, Gliederfüßern und Stachelhäutern) von homologen Genen gesteuert werden? Näheres im Text.

Konkret stellt sich die Frage, wie der Übergang eines Regulationsgens in einen neuen Zusammenhang gelingt, wie z. B. die zusätzliche Verwendung (Kooption) von dll aus einem ursprünglich anderen Kontext (vgl. Abb. 3). Dazu kommt das Problem, wie der nachgeschaltete Einbau in die untergeordneten Kaskaden erfolgen soll. Wenn ein Regulationsgen in einen neuen Kontext eingebaut werden und dort funktionieren soll, genügen einzelne Mutationen nicht, sondern mehrere Änderungen müssten in einer Art „konzertierten Aktion“ aufeinander abgestimmt erfolgen.

Von manchen Forschern wird der fehlende Nachweis ausreichender Mechanismen durchaus eingeräumt (Newman 2006, 14), und nicht umsonst gibt es eine umfangreiche „Evo-Devo-Agenda“ mit zahlreichen noch zu erforschenden Problemen (Müller & Newman 2005). Doch Wagner (2001, 305) gibt zu bedenken, dass entwicklungsgenetische Neuprogrammierungen möglicherweise nicht experimentell nachvollzogen werden können. Damit aber wäre diese Hypothese außerhalb der Wissenschaft. Die Problematik wird noch dadurch verschärft, dass wiederholte ähnliche (konvergente) Kooptionen evolutionär verwandter Moleküle für ähnliche Zwecke angenommen werden müssen (Newman 2006, 13). Das evolutionstheoretische Konvergenzproblem verfolgt also auch den Evo-Devo-Ansatz.

Saltatorische Evolution bleibt problematisch. Im Zuge der Evo-Devo-Forschung gibt es teilweise eine neue Offenheit für saltatorische (sprunghafte) Evolution (s. o.). Diese Sicht ist aber nach wie vor problematisch, und die Gründe, weshalb sie lange Zeit nicht hoffähig war, gelten nach wie vor. Komplexe Konstruktionen sind funktionell integrierte Einheiten. Selbst wenn eine Mutation z. B. zu einem duplizierten Körperteil führt, so müsste dieser in den Organismus integriert werden, wenn die Mutation von Vorteil sein soll; das erfordert zahlreiche aufeinander abgestimmte Veränderungen. Solche saltatorischen Modelle seien daher Erzählungen und hätten weder Erklärungs- noch Vorhersagekraft, so Budd (1999, 327).

Vergleichend-biologische Argumentation

Als Begründung für das Vorkommen von Kooptionen werden häufig vergleichend-biologische Argumente angeführt; sehr ausgeprägt der Fall ist das in Carrolls (2005) Buch „Endless Forms Most Beautiful“. Auch True & Carroll (2002) präsentieren in ihrem Überblicksartikel über genetische Kooptionen keine Mechanismen. Wagner (2001, 305) weist darauf hin, dass viele Entdeckungen nur „Assoziationen“ seien. Dies gilt insbesondere für die Entstehung der Baupläne im Zuge der „kambrischen Explosion“ aus einem hypothetischen komplexen Urbilaterier.

Vergleichende Biologie begründet aber keinerlei Mechanismen und begründet nicht einmal Evolution. Beispielhaft sei dazu Amundson (2005, 247) zitiert: ”Die Entdeckung molekulargenetischer Gemeinsamkeiten kann diese Art der Integration [neuer Entwicklungsmodule] nicht erklären, und wenn sie noch so überraschend und weit verbreitet sind. Die Integration muss als Prozess verstanden werden“ (Hervorhebung nicht im Original). Zu den in der Evo-Devo-Literatur öfter zitierten Augenflecken auf Schmetterlingsflügeln bemerkt Amundson (2005, 247), dass die Benennung der Gene nicht dasselbe sei wie die Erklärung, wie Entwicklung modifiziert wurde, so dass evolutionäre Änderungen resultierten.

Was ist die Triebfeder für Kooptionen?

Abb. 4: Das Gen Dll, das bei der Entwicklung von Gliedmaßen eine wichtige Rolle spielt, ist auch bei der Bildung von Augenflecken auf Schmetterlingsflügeln aktiv. Homologa von Dll werden auch im Mesoderm, in Neuralleistenzellen und im Kopfbereich verwendet (Gilbert 2003a, 762). (© Amtoia Monteiro, University at Buffalo; mit freundlicher Genehmigung)

Die Verwendung derselben (Steuer-)Gene in z. T. völlig verschiedenen Entwicklungsprozessen gehört sicher zu den ganz großen Überraschungen der biologischen Forschung in den letzten Jahren. Im Rahmen der Evolutionstheorie stellt sich hier nicht nur die Frage nach den Mechanismen einer Übernahme in neue Prozesse (s. o.), sondern auch nach der Triebfeder für einen solchen Vorgang. „Warum wurden die selben Transkriptionsfaktoren wiederholt unabhängig rekrutiert, um ähnliche Strukturen in diesen radikal verschiedenen Formen zu bilden?“ fragt Newman (2006, 14), ohne diese Frage zu beantworten. Die wiederholte konvergente Übernahme gleicher Gene in funktionelle ähnliche oder auch neue Zusammenhänge macht dieses Problem besonders delikat. Denn genauso wie es für die klassischen Mutationen keine nachweisbare Richtungsvorgabe gibt, kann eine solche Vorgabe für die hypothetischen Kooptionen und Rekrutierungen nicht zugelassen werden; es sei denn, es gibt eine Art Vorprogrammierung oder Prädisposition, doch das würde neue Fragen nach deren Ursprung aufwerfen. Was also soll dafür die Triebfeder sein, wenn es kein zu erreichendes Ziel gibt?

Verwendung von Schöpfungsvokabular

Die hypothetischen Evolutionsvorgänge werden fast unbesehen als real hingestellt und mit Schöpfungsvokabular beschrieben. Eines der krassesten Beispiele dieser Art ist der öfter zitierte Satz: „Evolution of form is very much a matter of teaching very old genes new tricks!“ (Carroll 2005). Es ist schon erstaunlich, dass solche Ausdrücke verwendet werden, obwohl in Wirklichkeit ungeplante, ziel- und geistlose Vorgänge beschrieben werden sollen.

Auch Begriffe wie Kooption, Rekrutierung, Neuprogrammierung oder Neuverdrahtung implizieren eine intelligente Planung. Das gilt sogar für den Begriff „Flickschusterei“ („tinkering“), mit dem man den Eindruck von Planung vermeiden möchte. Explizit oder implizit werden schöpferische Vorgänge eingeführt und Begriffe verwendet, die einen zielorientiert handelnden Akteur voraussetzen. Doch auch wenn Evo-Devo die Produktion einer gerichteten Variation plausibel machen kann, gibt es dennoch keine längerfristigen Zielvorgaben, die den Maßstab für überlebensförderliche Änderungen liefern könnten. Veränderungen nach den Vorstellungen der Evo-Devo-Forscher können wie alle evolutiven Veränderungen nur „von der Hand in den Mund leben“, d. h. nur hinsichtlich der aktuellen Bedürfnisse selektiv bewertet werden.

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Schlussfolgerungen

Die Idee von der Wiederverwendung und Umfunktionierung von Genen drängt sich durch vergleichende Studien auf. Dass Mehrfachnutzung von Genen und gleiche Steuergene bei der ontogenetischen Entwicklung sehr verschiedener Organe häufig vorkommen, ist ein empirischer Befund. Wie es dazu kam, ist weitgehend hypothetisch oder gar spekulativ. Es fällt auf, dass bei der Beschreibung einer hypothetischen Evolution durch Kooption bzw. Rekrutierung auffällig oft Begriffe verwendet werden, die einen zielorientierten Akteur voraussetzen. Kein Wunder: Wiederverwendung und Mehrfachnutzung sind typische Kennzeichen von Planung und Konstruktion.

Dank: Von Judith Fehrer, Niko Winkler und Henrik Ullrich erhielt ich wertvolle Hinweise. Manfred Stephan half die Lesbarkeit zu verbessern.

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Literatur

Amundson R (2005)
The Changing Role of the Embryo in Evolutionary Thought. The Roots of Evo-Devo. Cambridge Univ. Press.
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The emerging conceptual framework of evolutionary developmental biology. Nature 415, 757-764.
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Biased Embryos and Evolution. Cambridge Univ. Press.
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Generating and filtering major phenotypic noveltiers: neoGeoldschmidtian saltation revisited. In: Cronk QCB, Bateman RM & Hawkins JA (eds) Developmental Genetics and Plant Evolution. London, pp. 109-159.
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Endless Forms Most Beautiful. The New Science of Evo Devo and the Making of the Animal Kingdom. London.
Charlesworth B, Lande R & Slatkin M (1982)
A neo-Darwinian commentary on macroevolution. Evolution 36, 474-498.
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Developmental exaptation and evolutionary change. Evol. Dev. 3, 199-301.
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Perspectives and paradigms in plant evo-devo. In: Cronk QCB, Bateman RM & Hawkins JA (eds) Developmental Genetics and Plant Evolution. London, pp. 1-14.
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Geschichte und Positionen der evolutionären Entwicklungsbiologie. In: Krohs U & Toepfer G (Hg) Philosophie der Biologie. Frankfurt/M, S. 338-356.
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Gene Co-Option in Physiological and Morphological Evolution. Annu. Rev. Cell Biol. 18, 53-80.
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What is the promise of Developmental Evolution? Part II: A Causal Explanation of Evolutionary Innovations May Be Impossible. J. Exp. Zool. 291, 305-309.
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Convergence and Homoplasy in the Evolution of Organismal Form. In: Müller GB & Newman SA (eds) Origination of Organismal Form. Beyond the Gene in Developmental and Evolutionary Biology (Vienna Series in Theoretical Biology). Cambridge, MA, pp 33-49.

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