Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 23. Jg. Heft 1 - Mai 2016
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von Reinhard Junker

Studium Integrale Journal
25. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2018
Seite 20 - 27


Zusammenfassung: Aktives Fliegen stellt eine große Anzahl von anatomischen, physiologischen und verhaltensbiologischen Anforderungen, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Flugentstehungstheorien müssen daher ein sehr anspruchsvolles Erklärungsziel erreichen. Werden die vorgeschlagenen evolutionären Ansätze diesem Ziel gerecht?




Einleitung

In den vorausgegangen Teilen dieser Artikelserie wurde gezeigt, dass Federn und ihre Verankerung und Steuerung eine Reihe von Bedingungen erfüllen müssen, um flugtauglich zu sein. Gleichzeitig sind aber auch ein passendes Federkleid und auf den Flug abgestimmte Flugmuskulatur, Skelettbau und Verhalten (Gehirnleistungen) erforderlich. Wie gezeigt lassen Modelle zur Entstehung von Federn wesentliche Fragen offen. Auch die Fossilüberlieferung gibt trotz zahlreicher neuer Funde von Dinosauriern mit flaumiger oder federartiger Körperbedeckung keine klare Auskunft über die Entstehungsweise flugtauglicher Vogelfedern.

Hinweis: Weitere Informationen können als Zusatzmaterial zum Artikel unter www.si-journal.de/jg25/heft1/feder-und-flug.pdf heruntergeladen werden.

Im Folgenden sollen evolutionäre Hypothesen der Entstehung des Vogelflugs vorgestellt und diskutiert werden. Um fliegen zu können, braucht es nach Caple et al. (1983, 455) integrierte Fähigkeiten: Der Start muss bewältigt werden, es braucht Schub- und Antriebskraft und Körperkontrolle in allen drei Achsenrichtungen, und auch die Landung muss funktionieren. Eine Evolution des Fluges kann nicht Stück für Stück „abgearbeitet“ werden; es muss vieles gleichzeitig berücksichtigt werden. Ein Konstrukteur kann an den einzelnen Bauteilen und an ihrer Steuerung gesondert arbeiten; er kann so lange Tests durchführen, Verbesserungen am Material oder an der Anordnung der Bauteile vornehmen, Abstimmungen ändern usw., bis seine Konstruktion funktioniert und marktreif ist. Natürliche Evolution bedeutet dagegen gleichsam eine „Operation am offenen Herzen“ und ständig – auch in der Entwicklungsphase – „auf dem Markt“ zu sein, d. h. von Generation zu Generation überleben zu müssen.

Eine Evolution des Fluges kann nicht Stück für Stück „abgearbeitet“ werden; es muss vieles gleichzeitig berücksichtigt werden.

Bezüglich der Entstehung des Vogelflugs stehen sich klassischerweise die Cursorialtheorie (evolutiver Beginn des Fluges mit Läufern vom Boden aus) und die Arborealtheorie (evolutiver Beginn des Fluges von Bäumen aus) gegenüber. Neuere Ansätze versuchen zum Teil die beiden klassischen Hypothesen zu kombinieren.

Methodische Grenzen. Da die Flugentstehung nicht experimentell erforscht werden kann und auch keine Gesetzmäßigkeiten bekannt sind, aus denen die Entstehung von Federn und Flug hergeleitet werden könnten, sind auch hier historisch-narrative Erklärungen gefragt (vgl. Teil 2 dieser Artikelserie). Dabei müssen drei Bedingungen erfüllt sein: 1. Die evolutionären Schritte der Änderungen von Merkmalen müssen realistisch und in ihren zeitlichen Abfolgen passend sein, 2. die Organismen müssen als Ganze funktional sein, 3. die Abfolge evolutionärer Schritte muss kontinuierlich und graduell sein, ohne größere Sprünge. Flugentstehungstheorien sind im strengen Sinne nicht testbar; es ist im Wesentlichen nur möglich, Szenarien für Entstehung und Evolution des Flugs daraufhin zu prüfen, ob sie mit physikalischen Gesetzen und biologischen Randbedingungen kompatibel sind. In diesem Sinne sollen die vorgeschlagenen Modelle bewertet werden.

Bezüglich der Entstehung des Vogelflugs stehen sich klassischerweise die Cursorialtheorie (evolutiver Beginn des Fluges mit schnellen Läufern vom Boden aus) und die Arborealtheorie (evolutiver Beginn des Fluges von Bäumen aus) gegenüber. Neuere Ansätze wie die „WAIR“-Hypothese versuchen die beiden Hypothesen teilweise zu kombinieren. Da die in der Vergangenheit liegende Entstehung des Vogelflugs nicht direkt untersucht werden kann und evolutionäre Hypothesen daher nur sehr eingeschränkt testbar sind, können Flugentstehungshypothesen nur auf Stimmigkeit mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten und biologischen Anforderungen geprüft werden. Hier schneiden alle Flugentstehungstheorien schlecht ab, da ihnen durchweg eine Fülle von Beobachtungen und Argumenten entgegenstehen. Die Befürworter der einzelnen Theorien bieten nur wenige Gründe für ihre eigene Sicht und begründen diese vorrangig mit Argumenten gegen konkurrierende Sichtweisen, die sich dadurch gegenseitig ausschließen. Diese Situation gibt genug Anlass, die alternatve Sicht einer Schöpfung mit ins Kalkül zu ziehen.

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Start vom Boden aus: Cursorialtheorie
Abb. 1: Vier Modelle der Entstehung des Vogelflugs. Näheres im Text. (Nach Chatteerjee & Templin 2012; mit freundlicher Genehmigung)

Die Cursorialtheorie wurde seit Mitte der 1970er-Jahre vor allem von John Ostrom (1976; 1979) stark vertreten (vgl. Abb. 1). Danach startete die Evolution des Vogelflugs ausgehend von schnell laufenden, bodenlebenden Dinosauriern. Eine Verbreiterung der Arme im vorderen Bereich könnte zum Zwecke des Beuteerwerbs (Ostrom) oder des Gleichgewichts und der Körperkontrolle evolviert und später für den Flug genutzt worden sein (Caple et al. 1983). Letzteres könnte dadurch erfolgt sein, dass die Tragflächenfunktion verbessert wurde, um größere Sprünge steuern zu können, woraus sich schließlich der aktive Flug entwickelt haben könnte (Caple et al. 1983, 456; Hedenström 1999, 375).

Als Argument für die Cursorialtheorie wird vor allem angeführt, dass Vögel Zweibeiner sind und es daher wahrscheinlich sei, dass die Evolution des Vogelflugs ihren Ausgang mit zweibeinigen Läufern nahm (z. B. Ostrom 1979, 48). Mittlerweile ist die Situation diesbezüglich nicht mehr so klar, seit sich herausgestellt hat, dass es mit Microraptor gui eine Art gab, die sehr wahrscheinlich als eine Art Doppeldecker ausgebildet war, indem auch die Hinterbeine zum Flugapparat gehörten (Abb. 3); wahrscheinlich waren auch andere Arten vierflügelig.

Als Argument für die Cursorialtheorie gelten außerdem die auffälligen anatomischen Ähnlichkeiten zwischen Archaeopteryx und kleinen zweibeinigen Theropoden (z. B. Ostrom 1986, 81). Archaeopteryx wurde von Ostrom noch aus einem weiteren Grund als Kronzeuge für die Cursorialtheorie ins Feld geführt: Die funktionelle Trennung der Vorder- und Hinterextremitäten war klar gegeben (Hinterextremitäten: Laufen, evtl. Klettern; Vorderextremitäten: Fliegen).

Kritik an der Cursorialtheorie

Eine Reihe von Befunden und Argumenten spricht gegen die Cursorialtheorie. Hier sollen nur die wichtigsten Punkte angeführt werden (ausführlicher in Junker 2017, Kapitel 4).

• Zweibeinige Läufer machen mit ihren Vorderextremitäten alternierende Bewegungen; für den Flügelschlag ist jedoch eine symmetrische Bewegung erforderlich (Nudds & Dyke 2004, 994). Der Übergang dürfte kein triviales Problem sein, zumal kein Selektionsdruck auf Symmetrie der Bewegung ersichtlich ist, solange die Flugfähigkeit nicht erreicht ist.

• Um vom Boden aus einen Flug starten zu können, ist für einen Läufer (als evolutionärer Ausgangsform) eine große Geschwindigkeit erforderlich. Es ist äußerst fraglich, ob eine ausreichende Geschwindigkeit von den Dromaeosauriern erreicht werden konnte, die als Vogelvorläufer diskutiert werden (Geist & Feduccia 2000, 664; Tarsitano et al. 2000, 682f.). Martin (2004, 979) gibt zu bedenken, dass schnelle Läufer eher kurze Vorderextremitäten besitzen, die beim Lauf zudem angewinkelt werden (was heutige Vögel beim Laufen auch tun) – das ist das Gegenteil dessen, was ein Tier benötigt, das mit Hilfe seiner Vorderextremitäten den Auftrieb ermöglichen soll. Zu bedenken ist auch, dass der Start einer der anspruchsvollsten Teile des Flugvorgangs ist (Rayner 2001, 378); ausgerechnet diese Fähigkeit müsste nach der Cursorialtheorie am Anfang der Evolution des Fluges gestanden haben.

• Es kommt ein Selektionsproblem hinzu: Eine Vergrößerung der Fläche der Hand und der Arme würde bremsend wirken (Tarsitano et al. 2000, 680f.; Bock 1986, 67). Auch die Idee, dass die Jagd nach fliegender Beute den Erwerb der Flugfähigkeit begünstigt haben könnte, ist untauglich. Denn solange ein Tier nicht selber fliegen kann, ist ein Rennen nach fliegender Beute sinnlos, weil diese sehr schnell problemlos entwischen kann.

• Der Körperschwerpunkt bei Läufern ist für den Flug ungünstig (Tarsitano et al. 2000, 680); seine Verschiebung macht andererseits nur für fliegende Tiere Sinn; auch die Annahme eines Gleitflugs als Übergangsflugform hat mit diesem Problem zu kämpfen (Tarsitano et al. 2000, 676).

• Die Körperform von zweibeinigen Läufern ist nicht geeignet, um eine für ein Gleiten passende Fläche zu ermöglichen, außerdem verursacht der Bau der Hinterbeine und des Beckengürtels starke Luftturbulenzen (Tarsitano et al. 2000, 682f.).

Die vorgeschlagenen Szenarien beinhalten in Bezug auf den Erwerb von Federn sprunghafte Änderungen.

• Für den Erwerb von Vorstufen einer Flugfähigkeit vom Boden aus gibt es keine Modelle aus der heutigen Vogelwelt; es ist nicht bekannt, dass zweibeinige Läufer ihre Vorderextremitäten benutzen, um schneller zu laufen, zu gleiten oder um Beute zu fangen (Dial et al. 2006, 444; Paul 2002, 114). Ausgebreitete Vorderextremitäten würden zudem den Luftwiderstand gegen das laufende Tier erhöhen (Feduccia 2012, 92).

• Für alle Modelle stellt sich die Frage, wie es zur notwendigen Verhaltensänderung gekommen ist. Tarsitano et al. (2000, 679) sind der Auffassung, dass der erste Schritt in der Evolution des Vogelflugs eine Verhaltensänderung war.

• Es sind viele Vogelgattungen aus der Unterkreide bekannt; darunter sind keine spezialisierten langbeinigen Läufer. Solche Formen wären aber zu erwarten, wenn die Vogelvorfahren spezialisierte Läufer waren (Paul 2002, 117).

Bewertung. Insgesamt sind die Cursorialhypothesen wegen der Fülle von Problemen unplausibel. Das gilt auch dann, wenn einige dieser Probleme entschärft werden können. Die vorgeschlagenen Szenarien beinhalten zudem in Bezug auf den Erwerb von Federn sprunghafte Änderungen und sie sind gemessen am Erklärungsbedarf vage. Die in der zweiten Folge dieser Artikelserien geschilderten Probleme des Erwerbs von Vogelfedern schlagen auch hier zu Buche. Für viele postulierte Stadien und Verhaltensweisen fehlen außerdem Modelle aus der heutigen Tierwelt.

Ein spezielles Cursorialmodell, das einige Beachtung fand, haben Caple et al. (1983) entwickelt. Sie beschreiben sechs evolutionäre Schritte vom Bodenläufer zum Vogel (Caple et al. 1983, 473). Die ersten Schritte betreffen die Körperkontrolle, auf die in diesem Modell besonderes Augenmerk gelegt wird. 1. Ein kleiner zweibeiniger Läufer springt nach fliegenden Insekten und fängt sie mit seinem Maul; die Vorderextremitäten dienen der Stabilität und der Körperkontrolle. 2. Die körperfernen Bereiche der Vorderextremitäten werden allmählich vergrößert, was die Körperkontrolle und Manövrierbarkeit sowie die Fähigkeit des Insektenfangs verbessert. 3. Die Bewegungen der Vorderextremitäten ändern sich in ein Auf- und Abschlagen. 4. Die Tragflächen werden größer, was den Auftrieb verbessert. 5. Dadurch werden auch die Körperkontrolle und die Landung verbessert. 6. Die Tragflächen werden weiter optimiert. Das Resultat dieser gesammelten Änderungen führe zum Kraftflug, so die Autoren.

Dieses Szenario ist sehr grob geschnitzt und lässt im Detail fast alle Fragen offen. Der erste Schritt ist kein eigentlicher Schritt zur Flugfähigkeit hin, sondern eine günstige Ausgangsposition. Aber schon diese ist sehr fragwürdig, denn es ist in der heutigen Tierwelt kein Beispiel dafür bekannt, dass bodenlebende Formen Insekten in der Luft jagen außer bei gelegentlichen günstigen Umständen (Paul 2002, 114), und die Erfolgschancen sind für einen Läufer praktisch null. Außerdem sind bei heutigen bodenlebenden Vierbeinern mit vergleichbarer Größe wie Archaeopteryx keine Beispiele dafür bekannt, dass Vorderextremitäten bei schnellem Lauf oder beim Springen für die Balance eingesetzt werden (Bock 1986, 68; Chatterjee 1997, 155). Für den zweiten Schritt werden bereits flächige Federn benötigt, was einen großen Sprung erfordert. Vergrößerte Schuppen wären zwar auch hilfreich, aber ein evolutiver Weg von Schuppen zu Federn wird heute weitgehend ausgeschlossen. Zugleich würden Federn oder vergrößerte Schuppen den Luftwiderstand vergrößern und wären im Rahmen dieses Modells kontraproduktiv (Chatterjee 1997, 155). Nach Berechnungen von Rayner (1988, 280) geht beim Übergang vom Laufen zum Springen 30-40 % der Geschwindigkeit verloren. Rayner (1988, 276, 278) sieht das Modell von Caple et al. kritisch, zum einen weil Analogien aus der heutigen Tierwelt fehlen (s. o.), zum anderen weil unklar ist, wie von einem eher unkoordinierten Flügelschlagen für Gleichgewicht und Beuteerwerb die Flugfähigkeit erworben worden sein soll, die „extreme morphologische, physiologische und verhaltensbiologische Spezialisierungen“ erfordert. Ob Verbesserung des Beuteschlagens nach diesem Szenario überhaupt den Flugerwerb fördern kann, ist demnach unwahrscheinlich.

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Start von Bäumen aus: Arborealtheorie
Abb. 2: Der mutmaßlich baumlebende Microraptor gui war mit asymmetrischen flugtauglichen Konturfedern ausgestattet und als eine Art „Doppeldecker“ ausgebildet. Als spezialisierte Form mit flugtauglichen Federn kann diese Gattung in der Frage nach dem Flugerwerb jedoch kaum weiterhelfen.

Nach der Arborealtheorie (Baumtheorie) entstand der Vogelflug bei Tieren, die Bäume oder Felsen erklettern konnten, von wo aus sie zunächst mit einer Art Sturzflug und weiter über einen Gleitflug den aktiven Flug erreicht haben (z. B. Heilmann 1926; Bock 1986; Chatterjee 1997, 157ff.; Feduccia 2012; vgl. Abb. 1, 3). Der große Pluspunkt für die Baumtheorie ist offensichtlich der energetische Aspekt. Eine hohe Startgeschwindigkeit wird hier durch die Schwerkraft sozusagen gratis angeboten,
die Startsituation ist also energetisch viel günstiger.

Der vierflügelige Dromaeosauride Microraptor gui (und neuerdings weitere an den Beinen befiederte Formen) sowie Kletteranpassungen bei einigen Maniraptoren werden von manchen Forschern als Unterstützung der Baumtheorie gewertet (vgl. aber die Legende zu Abb. 2).

Umstritten ist in diesem Zusammenhang die Lebensweise von Archaeopteryx (Howgate 1985; Peters 1994, 406f.; Padian & Chiappe 1998,15; Chatterjee & Templin 2012, 595, u. a.); die Meinungen darüber, ob er baumlebend war und somit die Arborealtheorie unterstützt oder nicht, gehen bis heute auseinander.

Ein Vorteil des Baumlebens wird außer dem energetischen Aspekt darin gesehen, dass Flucht vor manchen Feinden, ein sicheres Schlafen und der Schutz des Geleges besser möglich seien (Bock 1985, 203; Bock & Bühler 1995, 10). Diese Autoren diskutieren im Zusammenhang mit der Arborealtheorie den Erwerb der Endothermie (gleichwarme, konstante Körpertemperatur), die sie als Voraussetzung für den aktiven Flug sehen, besonders für den Start. In Bäumen ist Endothermie wegen der größeren Ausgesetztheit besonders nützlich, weil dieser Standort im Vergleich zum Boden kühler ist (Bock & Bühler 1995, 10). Damit wird aber auch zugleich eine Körperbedeckung zur Wärmedämmung benötigt; es muss aber auch trotz dieser Körperbedeckung möglich sein, überschüssige Wärme abzugeben, was weiteren Regulationsbedarf mit sich bringt. Außerdem ist der Nahrungsbedarf höher und es ist eine größere Umorganisation des Herzens, der Lungen und des Blutkreislaufs erforderlich (Bock 1985, 203; 1986, 61; Bock & Bühler 1995, 8). Insgesamt handelt es sich also um einen ganzen Komplex von Änderungen und damit um einen enorm großen Schritt, dessen evolutive Bewältigung völlig unklar ist. Bock & Bühler (1995, 6) weisen darauf hin, dass die drei Aspekte Endothermie, Federn und Flug im Zusammenhang gesehen werden müssen, was bei evolutionären Modellierungen beachtet werden müsse.

Ansonsten verweisen die Befürworter der Baumtheorie auf die Probleme des Flugerwerbs von laufenden Vorfahren vom Boden aus. Die oben genannten Probleme der Cursorialtheorie werden häufig als Argumente für die Baumtheorie angesehen. Allerdings sind Probleme der einen Theorie nicht automatisch Argumente für einen Konkurrenten, da es noch andere Erklärungen geben könnte.

Kritik der Arborealtheorie

Auch die Arborealtheorie hat mit einer Fülle verschiedenster Schwierigkeiten zu kämpfen, von denen auch hier nur eine Auswahl angeführt werden soll (mehr dazu: Junker 2017, Kapitel 4).

Abb. 3: Rechts: Arborealtheorie nach Bock (1986, 69f.), die viele kleine, selektierbare Schritte enthalten soll: Das 1. Stadium, Leben in Bäumen, könne bereits in viele kleine Schritte unterteilt werden (allerdings hat dieses Stadium noch nichts mit Fliegen an sich zu tun, sondern ist nach der Baumtheorie nur dessen Startpunkt). Für diesen Schritt erwähnt Bock auch Federn – alles andere als ein kleiner Schritt (vgl. den ersten Teil dieser Artikelserie). Als 2. Schritt sieht Bock einen Sturzflug an, dem im 3. Stadium ein Gleitflug folgt, was seiner Auffassung nach wiederum in vielen kleinen Schritten erreicht worden sein könnte. Ausgehend vom Gleiten sei schließlich der aktive Flug entstanden. Kritiker halten die Darstellung für tendenziös, da die Cursorialtheorie (links) so dargestellt wird, als seien keine Zwischenstufen möglich.

• Nach der Arborealtheorie soll sich der aktive Flug aus einem Gleitflug entwickelt haben. Aber auch der rein hypothetische Übergang vom Gleit- zum Schlagflug ist kompliziert und aufwändig, da beide Flugarten sehr unterschiedlich sind (Padian 1982, 11). Gleiter haben abgesehen vom Besitz von Flughäuten vergleichsweise wenige Änderungen im Bauplan, während alle aktiven Flieger im Skelettbau und in ihrer Physiologie stark abgewandelt sind; beispielsweise sind viele Gelenke stark spezialisiert, viele Knochen verschmolzen und der Stoffwechsel auf hohem Level; anders als Gleiter können aktive Flieger ihre Vorderextremitäten kaum für mehr als für den Flug verwenden (Padian 1982, 11). Wenn heutige Vögel vom Gleiten zum Schlagflug umschalten, erfolgt dies abrupt und total, da sonst zu wenig Schubkraft erzeugt wird (Paul 2002, 121).

Shipman (1998, 187) gelangt zur Schlussfolgerung, dass die markanten Unterschiede zwischen Gleitfliegern und aktiven Fliegern bedeuten, dass die Evolution des aktiven Flugs ausgehend vom Gleitflug fast genauso viele anatomische Änderungen erfordern dürfte wie die Evolution des Schlagflugs ausgehend von einem landlebenden Zwei- oder Vierbeiner.

• Es gibt keinerlei Indizien dafür, dass sich irgendeine Gruppe gleitender Tiere (von denen es Hunderte gibt) auf dem Weg zum aktiven Flug befindet oder jemals befand (Padian 1982, 12; Caple et al. 1983, 475; Paul 2002, 117) oder dass irgendein Gleiter seine Extremitäten benutzen würde, um aktiv Vor- oder Auftrieb zu erzielen (Dial et al. 2008, 988). Gleiter und aktive Flieger befinden sich auf ganz verschiedenen Ästen des Wirbeltierstammbaums und ihre Ökologie ist komplett verschieden (Padian 2016, 417).

• Damit zusammen hängt die Problematik, dass die Selektionsbedingungen bei Gleitern und aktiven Fliegern z. T. einander zuwiderlaufen. Ein Gleitflieger benötigt von Anfang eine möglichst große Tragfläche. Diese gewinnt er am besten dadurch, dass er alle Extremitäten ausstreckt, wie es heutige Gleitflieger auch machen. „Bei den Vögeln deutet aber nichts darauf hin, dass ihre Beine jemals eine große Rolle als Teil der Tragfläche spielten“ (Peters 2002, 425) – mittlerweile mit der Ausnahme von Microraptor gui und vermutlich Anchiornis. Der Doppeldecker-Bauplan von M. gui ist aber aufgrund seiner Spezialisierung als Vorläuferkonstruktion für den aktiven Flug nur mithilfe der Vorderextremitäten kaum geeignet.

• Bereits Gleitflug ist nicht gratis, sondern benötigt Kontrollmechanismen, das gilt selbst für schlechte Gleitflieger. Der Selektionsdruck auf Kontrolle und Stabilisierung bei einem gleitenden „Proto-Vogel“ muss hoch gewesen sein (Norberg 1985, 305f.). Selektionsdruck ist aber nur eine der notwendigen Voraussetzungen, nicht hinreichend für den Erwerb einer neuen Fähigkeit, insbesondere in diesem Fall, da Kontrollmechanismen aufwändig sind.

• Gleiten und Segeln gilt bei heutigen Vögeln als abgeleitetes Verhalten, das vor allem bei größeren Arten vorkommt; mesozoische Vögel, deren Flug hauptsächlich im Gleiten und Segeln bestand, sind nicht bekannt (Rayner 2001, 366); bei Confuciusornis wird diese Möglichkeit diskutiert (Falk et al. 2016).

• Nach der Baumtheorie müssten die Vogelvorläufer in der Lage gewesen sein, auf Bäume zu klettern. Die Selektionsbedingungen für den Erwerb der Flugfähigkeit stehen aber im Widerspruch zu den Selektionsbedingungen für den Erwerb der Kletterfähigkeit, da verschiedene Muskelpartien benötigt und sehr verschiedenartige Bewegungen ausgeübt werden (Ostrom 1974, 35).

Bewertung. Die Probleme der Entstehung des Vogelflugs von Bäumen aus sind so zahlreich und schwerwiegend, dass dieser Weg evolutiv nicht gangbar erscheint. Die vorgeschlagenen Szenarien sind vage, beinhalten größere Sprünge und geben keine Rechenschaft über die Details der im Einzelnen erforderlichen Änderungsschritte.

Andere Startpunkte. Statt von Bäumen aus könnte ein erster Gleitflug auch von irgendwelchen anderen erhöhten Positionen aus erfolgt sein. Dieser Ansatz könnte mit Elementen der Cursorialtheorie kombiniert werden. Peters (1985) stellt sich vor, dass die Vorfahren der Vögel in einem bergigen oder hügeligen Lebensraum lebten, wo sie über kleinere Erhebungen abwärts springen konnten (Hanggleiter), um dadurch die nötige Geschwindigkeit für den Erwerb des aktiven Flugs zu erreichen (in Anlehnung an Caple et al. 1983; vgl. Padian & Chiappe 1998, 19). Damit könnten manche Probleme der Baumtheorie (aber nicht alle) entschärft werden. Allerdings gibt Peters (1985, 247) selbst zu bedenken, dass die Details kaum rekonstruierbar seien. Auf die Details kommt es aber gerade an, wenn eine Hypothese mehr sein soll als eine vage Spekulation und wenn sie mehr als nur Rechenschaft über die Rahmenbedingungen (hier des Flugerwerbs) geben will. Und da die Abhang-Theorie eine modifizierte Cursorialtheorie ist, muss sie sich mit den meisten ihrer o. g. Probleme auseinandersetzen.

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Wing-assisted incline running (WAIR)

Die beiden klassischen Ansätze zur evolutiven Entstehung des Vogelflugs haben wie gezeigt mit schwerwiegenden Problemen zu kämpfen, und die Schlussfolgerung scheint nicht überzogen, dass beide evolutive Wege – von Bäumen oder vom Boden aus – nicht gangbar sind, auch nicht in modifizierten Versionen. Ein Symptom für diese Aporie ist die Suche nach neuen Ansätzen. Auf einen dieser Ansätze soll im Folgenden eingegangen werden.

Demnach verlief der evolutive Flugerwerb über ein Verhalten, das manche Vögel heute zeigen und das auch als ontogenetisches Stadium vorkommt. Gemeint ist die Fähigkeit, unter Einsatz von Flügelbewegungen sehr steile Hänge oder auch Baumstämme zu erklimmen, wenn das bloße Laufen dafür nicht ausreicht (Dial 2003, Bundle & Dial 2003 u. a.; Abb. 4). Im Englischen wird dafür der Fachbegriff „Wing-assisted incline running“ (WAIR) verwendet; eine eingebürgerte deutsche Bezeichnung dafür gibt es nicht.

Abb. 4: Aufsteigender Flug und WAIR. Näheres im Text.(Aus Jackson et al. 2011; mit freundlicher Genehmigung)

WAIR soll also ein Zwischenstadium auf dem Weg zu einem aktiven Flug sein. Entstehende Flügel mit noch nicht flugtauglichen Federn sollen helfen, Hänge, Klippen oder Bäume zu erklimmen. Als ontogenetisches Übergangsstadium vor dem adulten Fliegen ist es energiesparsamer als das direkte Hochfliegen. Dieses Ontogenese-Stadium könnte auch ein phylogenetisches Übergangsstadium gewesen sein (Dial et al. 2006, 437 u. a.). WAIR ermögliche somit funktionelle Zwischenstufen, die jeweils selektiv begünstigt wären.

Kritik am WAIR-Ansatz

Nicht anders als bei der Cursorial- und Arborealtheorie stehen auch der WAIR-Theorie schwerwiegende Probleme entgegen. Im Folgenden wird wieder nur eine Auswahl genannt.

• Das WAIR-Verhalten dient primär dazu, den Bodenkontakt zu verbessern, es wirkt wie ein Spoiler (Dial 2003). Insofern ist es paradox, dass ein solches Verhalten phylogenetisch den ersten Flugversuchen vorausgegangen sein soll. Es gibt allerdings auch Untersuchungen, wonach WAIR den Auftrieb erhöht.

• Ein großes Problem ist die Übertragung von Ontogenese auf Phylogenese. Eine vorübergehende Konstruktion (z. B. noch unfertige Federn) oder unfertiges Verhalten (Hochflattern) ist ontogenetisch relativ unproblematisch, solange das Tier noch nicht selbständig überlebensfähig sein muss und noch nicht mit verschiedensten Umweltbedingungen konfrontiert wird. Aber das kann nicht ohne Weiteres auf einen Dauerzustand über eine große Zahl von Generationen übertragen werden.

• Ohne bereits recht weit entwickelte Federn, ohne entsprechende Muskulatur und ohne ein passendes Verhalten funktioniert WAIR nicht (Chatterjee & Templin 2012, 591). Wie konnten also ausgehend von unbefiederten oder nur mit einfacher haarartiger Körperbedeckung ausgestatteten Formen eine „WAIR-Ausstattung“ und „WAIR-Verhalten“ evolvieren? Die bereits bei der Cursorialtheorie angesprochenen Probleme treten auch hier auf. Bei WAIR handelt es sich um ein komplexes Verhalten sui generis (Dial et al. 2006, 438), das nicht zum Fliegen überleitet, sondern Flugverhalten und einen entsprechenden Flügelbau schon voraussetzt.

• Jede Form von Flug, ob Gleitflug oder Schlagflug, erfordert eine Reihe von Manövrierfähigkeiten (Evangelista et al. 2014, 20). Es ist unklar, wie diese über das spezialisierte Verhalten einer WAIR-Zwischenstufe evolvieren konnten.

Die Fähigkeit zu WAIR ist eher Folge der Fähigkeit zu aktivem Flug als eine seiner Voraussetzungen.

• Dececchi et al. (2016) haben in jüngerer Zeit durch eine aufwändige biomechanische Studie gezeigt, dass erst kleine Vertreter der Paraves zum WAIR-Verhalten in der Lage sein konnten. Setzt man die phylogenetischen Abfolgen der Theropoden-Dinosaurier voraus, so zeigt sich kein kontinuierlicher Trend einer Verfeinerung der biomechanischen Leistungsfähigkeit in Bezug auf diese Verhaltensweise. Ein deutlicher Einfluss von Flatter-Fortbewegungsmodellen auf den Erwerb von Flug-Merkmalen sei nicht nachweisbar. Die Fähigkeit zu WAIR sei Folge der Fähigkeit zu aktivem Flug, nicht eine seiner Voraussetzungen (Dececchi et al. 2016, 28). Die Ontogenese heutiger Vögel rekapituliere daher die mutmaßliche Phylogenese nicht; juvenile Vögel haben zudem keine Anatomie, die den mutmaßlichen Vogelvorfahren entspreche (Dececchi et al. 2016, 27).

Bewertung. Eine Evolution des Fluges mit dem WAIR-Verhalten als Zwischenstufe ist sehr unwahrscheinlich.

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Allgemeine Bewertung der Flugentstehungstheorien

Weitere weniger beachtete Flugentstehungsmodelle werden in Junker (2017, Kap. 4) vorgestellt. Alle vorgeschlagenen Modelle zur Entstehung des Vogelflugs sind durchweg vage und beinhalten große Schritte, die von einer selektierbaren Fortbewegungsweise zur nächsten überwunden werden müssten. In den vorgeschlagenen Szenarien wird nicht nennenswert auf die zahlreichen Details und die hierarchische Organisation und Synorganisation des Integuments (Federn und ihre Verankerung) und des Flugapparats eingegangen. Das gilt auch für die neueren Hypothesen wie das „WAIR“-Modell. Ostrom (1979, 47) räumt ein, dass seine Cursorialtheorie spekulativ ist, aber das gelte auch für die Arborealtheorie.

Sowohl gegen das Cursorial- als auch gegen das Arborealmodell gibt es wie geschildert so gravierende und zahlreiche Einwände, dass beide Modelle faktisch ausgeschlossen sind (Tab. 1). Es fällt auf, dass beide Modelle vor allem die Einwände gegen den jeweiligen Konkurrenten für sich verbuchen (das stellen z. B. auch Ostrom 1986 und Padian 2001 fest). Da es sich jedoch nicht um die einzigen Alternativen handelt, können Einwände gegen ein Konkurrenzmodell nicht als Argumente für das eigene Modell gewertet werden.

Tab. 1: Probleme der Cursoríal- und Arborealtheorie in Gegenüberstellung. Erläuterungen dazu teilweise im Text und vollständig und ausführlicher in Junker (2017, Abschnitte 4. 1 und 4.2).

Einige Autoren bringen die Situation durch entsprechende Einschätzungen auf den Punkt: „Wir werden vielleicht nie sicher wissen, wie Vögel abgehoben sind“ (Hedenström 1999, 375). „Praktisch alle Modelle zum Ursprung des Vogelflugs sind so spekulativ und so wenig mit Daten belegt, dass eine befriedigende Lösung in absehbarer Zeit unwahrscheinlich ist. …Es ist absehbar, dass der Ursprung des Fluges – als Gegenstand eines wissenschaftlichen Diskurses – außer Reichweite ist“ (Witmer 2002, 17; jeweils eigene Übersetzung).

Hin und wieder wird ausdrücklich festgestellt, dass Theorien zur Entstehung des Vogelflugs nicht testbar seien. Beispielsweise äußern Burgers & Chiappe 1999, 62), dass Erklärungen der Entstehung des Fluges auf Mutmaßungen beruhen und es unwahrscheinlich sei, dass sie jemals überprüft werden können. Diesbezüglich kann man folgende Feststellung geradezu als Offenbarungseid lesen: „Unfortunately, we can never know how the different forms of animal flight began“ (Ostrom 1986, 81). Wenn dem wirklich so ist, dann bedeutet das auch, dass nicht klar ist, ob es überhaupt einen evolutiven Weg gab, auch wenn Ostrom das sicher nicht zum Ausdruck bringen wollte. Padian (2001, 257, 260) nennt die Alternative zwischen Baum- und Cursorialtheorie eine „unlösbare Frage“, da die relevanten Vorgänge nicht fossil festgehalten werden könnten (vgl. Padian 2003, 452). Beide Theorien seien größtenteils nicht testbar, aber sie seien auch nicht falsifiziert. Doch stellt sich dann die Frage, wie sie überhaupt falsifiziert werden können. Wie werden historische Rekonstruktionen überhaupt bewertet? Einige Autoren betrachten hier die Falsifizierung als falschen Weg; vielmehr seien in historischen Fragen bestätigende Befunde gefragt. Auf diese methodischen Fragen soll in einem eigenen Artikel eingegangen werden (s. auch Junker 2017, Kap. 4).

Für alle evolutionstheoretischen Modelle ist das Fehlen irgendeiner Zielorientierung evolutionärer Mechanismen und ihrer Rahmenbedingungen ein grundsätzliches Problem. Manchmal werden Szenarien beschrieben, wonach Änderungen eingetreten sein sollen, um etwas zu erreichen. Das aber würde Zielorientierung beinhalten, die nicht vorausgesetzt werden kann, solange nur natürliche Prozesse zugelassen werden. Die Probleme einer evolutiven Entstehung des Vogelfluges sind so massiv, dass es unter anderem auch aus diesem Grund Anlass gibt, an die Alternative einer Schöpfung zu denken.

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Literatur

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Studium Integrale Journal 25. Jg. Heft 1 - Mai 2018