Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 19. Jg. Heft 1 - Mai 2012
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Modernes Denken im Kambrium

von Hans-Bertram Braun

Studium Integrale Journal
20. Jahrgang / Heft 1 - April 2013
Seite 40 - 42


Zusammenfassung: Nicht nur bei Fossilien von vermuteten Vorfahren des Menschen ist es schwierig, die Leistungsfähigkeit des Gehirns einzuschätzen. Größe allein zum Beispiel kann spätestens seit dem Fund des sogenannten „Hobbit-Menschen“ (Homo floresiensis) kein verlässlicher Indikator mehr sein; die strukturelle Architektur hingegen lässt eher Aussagen zur Leistungsfähigkeit zu (falls Schädel-Innenabdrücke vorhanden sind). Aber auch bei einfacheren Lebewesen, wie z. B. Krebstieren, war die Situation nicht leichter. Neue Beschreibungen ungewöhnlich gut erhaltener Fossilien sehr früher Gliederfüßer lassen allerdings auf ein bereits sehr modernes Nervensystem schon im Kambrium schließen.


Abb. 1: Rekonstruiertes Gehirn von Fuxianhuia (links) mit den Sehlappen, Sehstrang und Nervensträngen im Vergleich mit dem Gehirn des Einsiedlerkrebses Coenobita clypeatus (rechts) mit homologen Strukturen. (Nach Ma et al. 2012)

Rückschlüsse auf Fähigkeiten oder die Organisation des Nervensystems bei frühen, fossil erhaltenen Gliederfüßern (Arthropoden, zu ihnen gehören Insekten, Spinnen, Krebstiere u. v. a.) zu ziehen, war bisher nicht einfach, man war auf indirekte Hinweise angewiesen. Ausgehend von der Gehirn-Organisation bei heute lebenden Krebstieren ging man davon aus, dass der letzte gemeinsame Vorfahr aller Gliederfüßer wahrscheinlich ein einfaches, zweigliedriges Gehirn aufwies, wie man es heute noch bei Branchiopoden (Kiemenfußkrebse, z. B. der Wasserfloh, Daphnia) findet. Fossile Funde von großen leistungsfähigen Komplexaugen bei sehr frühen kambrischen Lebewesen (Anomalocaris) legten allerdings schon einige Zeit die Annahme nahe, dass die neurologischen Fähigkeiten ihrer Träger nicht wesentlich geringer sein konnten als die der heutigen Vertreter, denn die Komplexaugen waren denen heutiger Lebewesen weder in Größe noch in der Form noch in der optischen Auflösung unterlegen (Paterson et al. 2011).

Sehr gut erhaltene kambrische1 Fossilien von Gliederfüßern aus der südwestchinesischen Provinz Yunnan gewähren nun detaillierte Einblicke in die Organisation des Nervensystems von Lebewesen, die man als dem letzten gemeinsamen Vorfahren aller Gliederfüßer sehr nahe stehend einstuft (Fuxianhuia). Sie werden auf mehr als eine halbe Milliarde radiometrische Jahre datiert (520 Millionen Jahre). Schon an Fossilien des berühmten kanadischen Burgess Schiefers (ebenfalls Kambrium) konnte gezeigt werden, dass fossilisierte interne Strukturen sehr gut vergleichbar sind mit Gehirn und Ganglien (Ansammlung von Nervenzellen) heutiger Gliederfüßer. Offensichtlich konnte ihr Nervengewebe, obwohl es als sehr anfällig für schnellen Zerfall angesehen wird, in seltenen Fällen doch gut fossil erhalten werden. An den ca. 7,5 cm langen Fossilien der Art Fuxianhuia protensa aus China (Abb. 2) lässt sich die Gliederung dieses Nervensystems jetzt besonders gut studieren (vgl. Abb. 1).

Abb. 2: Fuxianhuia protensa aus dem Unterkambrium von Chengjiang, Südchina. (Wikimedia Commoms)

Ganglien und Nervenstränge sind in den in Kalkstein erhaltenen Fossilien als dunkle, eisenhaltige Strukturen erkennbar. Erstaunlicherweise ist das Gehirn von Fuxianhuia wie bei vielen heute lebenden Höheren Krebsen und Insekten dreigegliedert in Proto-, Deutero- und Tritocerebrum, und nicht nur zweigliedrig wie eigentlich erwartet. Paarige Nervenstränge versorgen die auf Stielen sitzenden Komplexaugen, die dahinter liegenden Antennen und eine dritte, noch nicht eindeutig identifizierte paarige Struktur, wahrscheinlich Anhänge des Verdauungssystems. An der Basis der Stielaugen kann man insgesamt drei untereinander verbundene optische Neuropile erkennen, signalverarbeitende Nervenstrukturen mit einer hohen Dichte an Nervenfasern, die wiederum typisch sind für heutige höhere Krebse und Insekten. Sie fehlen dagegen bei den als primitiver eingestuften Kiemenfußkrebsen. Die relativ großen Augen besitzen einen gegliederten optischen Aufbau und sind offensichtlich wie bei heutigen Krebsen auf ihren Stielen gut beweglich. Außerdem haben diese Komplexaugen vorne einen größeren Radius als seitlich, was eine bessere Auflösung in die Hauptsehrichtung erlaubt, wiederum genau wie man es bei heutigen Insekten und Krebstieren findet. Der Körperbau von Fuxianhuia ist ansonsten – deutlich unterschiedlich von heute lebenden Gliederfüßern – recht einfach aus ca. 30 Segmenten aufgebaut, was dann mit dem Etikett „primitiv“ versehen wird. Die ersten Kopfsegmente sind von einem zweigeteilten Schild geschützt.

Die hohe Komplexität im Gehirn sehr früher, äußerlich einfach gebauter Gliederfüßer, die bisher als dem postulierten letzten gemeinsamen Vorfahren aller Gliederfüßer sehr nahestehend eingestuft wurden, ist evolutionstheoretisch unerwartet. Ein Stammbaum der Gliederfüßer, der sich am Merkmal „Komplexität des Nervensystems“ orientiert, lässt sich nicht in Einklang bringen mit dem Stammbaum, der vom Merkmal „Komplexität der äußeren Erscheinung“ abgeleitet wird. Das hat zur Konsequenz, dass entweder heute neurologisch einfacher strukturierte Gliederfüßer wie die oben genannten Kiemenfußkrebse, aber auch Spinnen und Skorpione, die zuvor evolvierte Komplexität im Laufe der Zeit wieder eingebüßt haben müssten. Andernfalls müsste, wenn man die einfach strukturierten Kiemenfußkrebse weiterhin als „primitiv“ und Modell für den letzten gemeinsamen Vorfahren der Gliederfüßer einstufen will, das dreigliedrige Gehirn heutiger höherer Krebse und Insekten als konvergent zu dem von Fuxianhuia angesehen werden. Das heißt, es muss sich später noch einmal unabhängig von Fuxianhuia entwickelt haben.

Beide Szenarien sind wenig plausibel. Vielmehr zeigen sie, zu welch problematischen Hypothesen der hier diskutierte objektive Datenbefund zwingt, wenn man eine Evolution von nichts zu etwas, von einfach zu komplex, wie sie gemäß dem naturalistischen Weltbild als gegeben gesetzt ist, bei Berücksichtigung aller Merkmale aufrechterhalten will.

Interessanterweise ist es ein Spezialist auf dem Gebiet der kambrischen (Burgess Schiefer) Fossilien, der sich angesichts der Merkmalverteilung in der belebten Natur genötigt sieht, diese Verkomplizierung der Hypothesen (in diesem Fall die Annahme vielfacher konvergenter Evolution) zum System zu erheben (Braun 2012a).

Auf den ersten Blick scheint der allgemeine Fossilbefund durch äußerlich einfachere Fossilien in älteren Schichten tatsächlich eine Entwicklung von einfachen zu „höheren“ Organismen nahezulegen. Dagegen zeigt sich wie im hier beschriebenen Fall bei neuen Fossilfunden regelmäßig an vielen Details, dass selbst äußerlich einfach erscheinende Lebewesen hochkomplex sind und dies bereits zu Beginn ihrer fossilen Überlieferung. Ein weiteres sehr aktuelles Beispiel findet sich bei Zhang (2013), wonach Kelchtiere (Entoprocta) ebenfalls schon im frühen Kambrium nachgewiesen wurden (520 Millionen Jahre wie Fuxianhuia), wobei diese Fossilien sogar auf einen komplexeren Körperbau hinweisen, als ihn die heutigen Vertreter des Stammes haben. Die Evolution hin zu diesen komplexen Strukturen muss noch früher in der Erdgeschichte postuliert werden, ohne dass dazu bisher fossile Hinweise existieren. Sie wird im Evolutionsmodell vorausgesetzt, bisher ist sie nicht durch Daten gestützt.

Die hohe Komplexität im Gehirn sehr früher, äußerlich einfach gebauter Gliederfüßer
ist evolutionstheoretisch unerwartet.

Fuxianhuia jedenfalls zeigt, dass das dreigliedrige Gehirn der heutigen höheren Krebse und Insekten schon seit mehr als einer halben Milliarde radiometrischen Jahren existiert und sich zumindest morphologisch nicht erkennbar geändert hat. Man könnte es damit als ein weiteres Beispiel für sogenannte „lebende Fossilien“ anführen, analog zu Quastenflosser und Pfeilschwanzkrebs.

Beide Befunde sind sperrig gegenüber einem Modell allmählicher Evolution im Sinne einer Höherentwicklung von einfach zu komplex. Wie auch schon bei ähnlichen Beobachtungen (Braun 2012b) können sie einfacher schöpfungstheoretisch, im Sinne eines der geschaffenen Natur zugrunde liegenden „Baukastensystems“ gedeutet werden, dessen Komponenten keine größeren Abwandlungen über die Zeit mehr erfahren.


Anmerkung

1 Das Kambrium besteht aus geologischen Schichten, die konventionell auf etwa eine halbe Milliarde Jahre datiert werden. Bekannt ist dieses geologische System vor allem durch die sogenannte „Kambrische Explosion“, das unvermittelte Auftreten von Fossilien der meisten bekannten Tierstämme ohne klar zuordenbare Vorläufer im Präkambrium, den unmittelbar darunterliegenden Schichten.


Literatur

Braun HB (2012a)
Warten auf einen neuen Einstein. Stud. Int. J. 19, 12-18.
Braun HB (2012b)
Kryptische Krebse: Moderne Crustaceen-Fossilien aus dem Kambrium. Stud. Int. J. 19, 93-94.
Budd GE (2012)
Cambrian nervous wrecks. Nature 490, 180-181.
Ma X, Hou X, Edgecombe GD & Strausfeld NJ (2012)
Complex brain and optic lobes in an early Cambrian arthropod. Nature 490, 258-261.
Paterson RJ, García-Bellido DC, Lee MSY, Brock GA, Jago JB & Edgecombe GD (2011)
Acute vision in the giant Cambrian predator Anomalocaris and the origin of compound eyes. Nature 480, 237-240.
Zhang Z, Holmer LE et al. (2013)
A sclerite-bearing stem group entoproct from the early Cambrian and its implications. Scientific Reports 3, doi:10.1038/srep01066


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