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Abb. 1: Odontochelys semitestacea, specimen number IVPP V13240. Foto: Mr. Wei Gao. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Chun Li. |
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Schildkröten (Testudines) sind faszinierende Tiere. Ihr ungewöhnlicher Bauplan ist sehr verschieden von den Bauplänen anderer Echsen. Der einzigartige Panzer ist aus zahlreichen Knochenplatten zusammengesetzt, die von ca. 50 Hornschilden oder lederartiger Haut bedeckt sind. Er entsteht durch Verschmelzung von Wirbelsäule, Rippen, Teilen des Schultergürtels und spezialisierten Hautknochen. Rückenpanzer (Carapax) und Brustpanzer (Plastron) sind durch eine Knochen- oder Knorpelbrücke miteinander verbunden. Der eigenartige Bau erfordert entsprechende bauliche und funktionale Abstimmungen mit anderen Organen, zum Beispiel bei der Atmung und Fortbewegung. Einzigartig ist auch die Lage des Schultergürtels, der sich innerhalb der Rippen entwickelt. Der Körperbau ist so ungewöhnlich, dass nur wenige Merkmale benutzt werden können, um die Schildkröten mit irgendwelchen anderen Tiergruppen zu verbinden und daraus Hinweise auf mögliche stammesgeschichtliche Beziehungen zu entnehmen. Da auch die bislang ältesten fossilen Schildkröten der Gattung Proganochelys aus der Obertrias Deutschlands (auf 204-206 Millionen Jahre datiert) den typischen Schildkröten-Bauplan bereits besaßen (Li et al. 2008), gaben Fossilien bis vor kurzem keine Hinweise auf den Ursprung der Schildkröten.
Li et al. (2008) berichten nun von Fossilfunden einer Schildkröte, die einen Zwischenschritt in der Evolution des Panzers dokumentieren soll. Die neue Art Odontochelys semitestacea wurde in Schichten in der südwestchinesischen Provinz Guizhou in Küsten-Ablagerungen entdeckt, die mit datierten 220 Millionen Jahren noch älter sind als Proganochelys. Der Artnahme bedeutet sinngemäß „Halbpanzerschildkröte mit Zähnen“, womit zwei wesentliche Unterschiede zu heutigen Schildkröten angedeutet sind. Zum einen waren Ober- und Unterkiefer des Tieres bezahnt und hatten keine schnabelartigen Kieferleisten heutiger Schildkröten. Zum anderen war zwar der Bauchpanzer des etwa 40 cm großen Tieres voll entwickelt; der Rückenpanzer bestand aber nur aus Neuralplatten; die rückenseitigen Rippen waren lediglich verbreitert. Hautknochen („osteoderms“) waren nicht ausgebildet. Li et al. (2008) schließen daraus, dass sich der bauchseitige Panzer vor dem Rückenpanzer entwickelt hat und dass der erste Schritt der Entstehung des Rückenpanzers in der Verknöcherung von Neuralplatten und Verbreiterung der Rippen bestand. Diese Abfolge stimmt mit dem Verlauf der frühen Embryonalentwicklung der heutigen Schildkröten überein. Bisher war ein Zusammenwachsen verknöcherter Hautschuppen als erster Schritt favorisiert worden. Gegen die Deutung, es handle sich um ein jugendliches Exemplar spricht nach Li et al. (2008, 499) die Verschmelzung von Sprungbein (Astragalus) und Fersenbein (Calcaneum).
Der Interpretation von Li et al. stellen Reisz & Head (2008) in einem Kommentar jedoch eine andere entgegen: Lange, verbreiterte Rippen sind Bestandteile des Rückenpanzers aller Schildkröten. Deren Vorkommen bei Odontochelys sei ein Hinweis darauf, dass das embryonale Gewebe, welches die Bildung des Carapax kontrolliere, ebenfalls vorhanden gewesen sei. Ebenso sei die Verbindungsbrücke zwischen Carapax und Plastron ausgebildet, was ebenfalls für die Anwesenheit eines Carapax spreche. Zusammengenommen spreche das für die alternative Interpretation, dass ein Carapax doch ausgebildet gewesen sei, jedoch einige seiner Teile nicht verknöchert gewesen seien. Diese Interpretation von Odontochelys führe zur Möglichkeit, dass dessen Panzer nicht primitiv, sondern stattdessen eine spezialisierte Anpassung durch einen sekundären Verlust gewesen sei (Reisz & Head 2008, 451), also keine Ausprägung, die einem frühen Ontogenesestadium entspricht. Eine Reduktion der Hautknochen ist bei wasserlebenden Schildkröten verbreitet; die Deutung einer Spezialisierung passt also zum vermutlichen Lebensraum von Odontochelys im küstennahen Wasser. Diese Ausprägung könne durch ein Stehenbleiben der Entwicklung auf einem jugendlichen Stadium (sog. Pädomorphose) zustandegekommen sein.
Allerdings passt die Bezahnung, die evolutionstheoretisch als ursprüngliches Merkmal gelten muss, nicht ohne weiteres zu dieser Deutung. Insgesamt handelt es sich also um ein Merkmalsmosaik, das nicht leicht in ein stammesgeschichtliches Schema eingeordnet werden kann. Wie in vielen anderen Fällen auch zeigt sich, dass Mosaikformen nicht mit evolutiven Übergangsformen gleichzusetzen sind.
Die alternative Interpretation der Befunde durch Reisz & Head würde die Frage nach dem Ursprung der Schildkröten unverändert offen lassen, wenn nicht sogar verschärfen: Denn demnach wäre ausgerechnet eine spezialisierte Form die bislang älteste. Die Funde von Odontochelys machen auch beispielhaft deutlich, wie schwierig die Interpretation fossiler Funde sein kann.
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