Teilskelette von frühen Hominiden1 sind in der Paläoanthropologie eine Rarität und immer eine besondere Quelle neuer Erkenntnisse. Ein 1987 in der Dolomitenkalksteinhöhle Sterkfontein in Südafrika entdecktes Teilskelett macht da keine Ausnahme. Es besteht aus 48 Knochenfragmenten, die zusammengesetzt 18 Knochen eines erwachsenen Individuums (Stw 431) repräsentieren. Stw 431 ist wahrscheinlich einem Australopithecus africanus zuzuordnen (Toussaint et al. 2003).
Bei Stw 431 findet sich ein Mix aus einmaligen, großaffenähnlichen und menschlichen Merkmalen. Dieses Merkmalsmosaik ist typisch für Australopithecus. Besonders interessant sind die Beckenknochenfragmente, denn sie erlauben zum ersten Mal bei einem Australopithecinen eine genaue Rekonstruktion der Stellung der Darmbeinschaufeln.
Nach dem Ansetzen der Darmbeine an das Kreuzbein zeigte sich bei Stw 431 eine laterale Ausrichtung (sich nach außen erstreckend) der Darmbeinschaufeln wie bei den Großaffen und nicht nach ventral (sich nach vorn erstreckend) wie beim Menschen (Kibii & Clarke 2003). In dieser Beziehung ähnelt Stw 431 der Beckenrekonstruktion von A. afarensis („Lucy“) von Schmid (1983) und unterscheidet sich von der Rekonstruktion von Lovejoy (1988) und einer Rekonstruktion des Beckens von Sts 14, einem weiteren Australopithecus africanus aus Sterkfontein; letztere weisen mehr menschlich nach vorn ausgerichtete Darmbeinschaufeln auf. Bei dem leicht deformierten Fund Stw 14 wurde jedoch die rechte Seite des Kreuzbeins vollständig mit Gips rekonstruiert und der obere Teil des linken Darmbeins fehlerhaft dem unteren Teil des Darmbeins mit Gips angepasst. Eine geringe Korrektur dieser fehlenden Areale würde zu einer mehr großaffenähnlichen seitlichen Ausrichtung der Darmbeine von Sts 14 führen.
Von allen bekannten Australopithecinen ist Stw 431 der einzige Fund, der nicht deformiert und nicht zerbrochen ist. Die Rekonstruktion dieses Fundes kann deshalb nicht beanstandet werden, wie es noch bei A. afarensis („Lucy“) wegen des zerbrochenen Zustandes geschah (Kibii & Clarke 2003).
Für die Fortbewegung von Australopithecus ergibt sich folgende Konsequenz: Der an den Beckenschaufeln entspringende Musculus glutaeus medius verlief wie bei den Großaffen mehr hinten und nicht wie beim Menschen seitlich. Dadurch konnte dieser Muskel nicht effektiv als Hüftabspreizer stabilisierend beim Gehen wirken. Mit einer wahrscheinlich größeren Seitwärtsverlagerung und Außenrotation des Körpers beim Gehen war die bipede (zweibeinige) Fortbewegung ineffektiv und somit nicht über lange Strecken möglich (Toussaint et al. 2003). Diese Erkenntnis ist nicht neu. Schon Zuckerman et al. (1973) haben auf die nichtmenschliche ineffektive bipede Fortbewegung von Australopithecus (Sts 14) hingewiesen, eine Erkenntnis, die als Außenseiterposition seinerzeit in der Diskussion um den Status der Australopithecinen aber nicht berücksichtig wurde.
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Ein menschlicher oder nahezu
menschlicher Gang auf zwei Beinen
bei Australopithecus kann heute
als widerlegt gelten. |
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Bei A. afarensis („Lucy“) hat man Kletteranpassungen nachgewiesen (Stern & Susman 1983, Stern et al. 1984). Das Becken und andere Skelettknochen von Stw 431 weisen ebenfalls auf eine kletternde Fortbewegung hin. Aber auch dieser Befund ist schon vor längerer Zeit bei Australopithecus (Sts 14) erhoben (Oxnard 1975) und von der Fachwelt nahezu einmütig abgelehnt worden.
Der Hominidenstatus der Australopithecinen wird entscheidend damit begründet, daß diese Wesen in ihrer Fortbewegung bereits einen entscheidenden Schritt zum Menschen hin („noch großaffenähnlicher Kopf, aber schon menschlicher Körper“) evolviert gewesen seien. Ein menschlicher oder nahezu menschlicher Gang auf zwei Beinen bei Australopithecus kann heute jedoch als widerlegt gelten. Die Australopithecinen sind kein gutes Bindeglied zwischen vermuteten schimpansenähnlichen Vorfahren und den Menschen. Der neue Fund Stw 431 bestätigt das eindrucksvoll. Der Hominidenstatus von Australopithecus ist deshalb anzufragen. Alternativ könnte man die Australopithecinen als spezialisierte Großaffen deuten. Da keine Fossilgruppe bekannt ist, die im Evolutionsmodell den Platz der Australopithecinen als Vormenschen einnehmen könnte, wird in der Paläoanthropologie trotz drastisch geänderter Datenlage am Hominidenstatus der Australopithecinen nicht gerüttelt.
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