Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 9. Jg. Heft 2 - Oktober 2002
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Sahelanthropus – ein neuer Adam oder ein Affe?
Fossil aus Tschad löst heftigen Disput aus

von Sigrid Hartwig-Scherer

Studium Integrale Journal
9. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2002
Seite 91 - 93


Zusammenfassung: „Streit um den neuen Adam“ – so wird der Disput um einen neuen, recht vollständigen Schädel von der FAZ betitelt (PAUL 2002). Der Schädel aus Zentralafrika wurde mit dem Namen Sahelanthropus tchadensis belegt, was übersetzt soviel wie „der Sahel-Mensch aus Tschad“ bedeutet. Dieser Name und die Diskussion im Wissenschaftsjournal Nature legen nahe, daß die Autoren ihn für einen Vorfahren der menschlichen Linie halten. Sein hohes Alter von fast 7 MrJ käme – nach Meinung der Beschreiber – sehr nahe an den Zeitpunkt, wo sich die beiden Linien zum Schimpansen und zum Menschen getrennt haben sollen, ein Zeitpunkt, den andere bislang später angesetzt haben.

Kritik an dieser Darstellung kam erwartungsgemäß und recht vehement von den Beschreibern des knapp 6 MrJ alten Orrorin tugenensis, der als zweibeiniger hangelnder Hominide ebenfalls den Rang des ersten Vorfahren des Menschen beansprucht und als solcher auf große Ablehnung gestoßen war. Dementsprechend halten die Orrorin-Beschreiber den neuen Fund für einen Proto-Gorilla, der nichts mit der Vorfahrenschaft zum Menschen zu tun habe. Doch ganz so einfach läßt sich diese neue miozäne Menschenaffenart nicht einordnen.




Der erste Eindruck dieses neuen Fundes ist der eines etwas unproportionierten Gorillas mit kleinem Schädeldach, einem zusammengestaucht kurzen Gesicht und riesigen Überaugenwülsten (Abb. 1). Ein erstaunliches Mosaik von menschenaffenartigen und hominidenartigen Merkmalen zeigt sich: von hinten sieht er aus wie ein afrikanischer Menschenaffe, von vorne wie ein abgeleiteter späterer, robuster Australopithecine, mit dickem Zahnschmelz und relativ großen Kauflächen. Der neue Fund bereitet also beträchtliche Deutungsschwierigkeiten.

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Konträre Abstammunsvorstellungen
Abb. 1: Sahelanthropus. (Zeichung: Marion BERNHARDT; nach BRUNET et al. 2002)

Zur frühen Hominidenevolution gibt es zwei konträre Hypothesen: das geradlinige, „saubere“ Evolutionsmodell und das buschige, „unsaubere“. Erstere kennzeichnet den Beginn der paläanthropologischen Disziplin, als nur spärliche Fossilrelikte zu Verfügung standen: hier ging man von einer linearen Abfolge der hominiden Formen aus, wobei ein mehrmaliges Auftreten menschlicher Merkmale aus Gründen der Parsimonie („Sparsamkeit“, d.h. das Unwahrscheinliche tritt nicht mehrfach ein) nicht angenommen wird. Auch das Auftauchen mehrerer zeitgleicher Hominidenarten galt als unwahrscheinlich. Mit der Zeit jedoch nahm die Funddichte zu und verschob die Hypothesenlage in Richtung „unsaubere“ Vorstellung: hominide Merkmale können mehrfach und in unterschiedlicher Kombination auftauchen und wieder verschwinden, ohne daß man feststellen kann, inwieweit sie „in Richtung Homo“ weisen. Typisch menschliche Schlüsselmerkmale wie aufrechter Gang, großes Gehirn, Rechtshändigkeit etc könnten mehrfach entstanden sein. Damit verlieren viele, wenn nicht alle sogenannten „hominiden“ Merkmale ihren evolutionär bedeutsamen diagnostischen Wert. Konvergenzen und Parallelevolution als normale Phänomene werfen die Frage auf, welche der Merkmale überhaupt noch diagnostisch nutzbar zu machen sind, wenn alles möglich, aber nichts notwendig ist und nirgendwo hinweist.

Unter der Annahme, daß Sahelanthropus tatsächlich ein Ur-Hominide wäre, müßten nach dem sauberen, linearen Modell und dem Sparsamkeitsprinzip alle anderen Formen aus der Reihe zum Menschen ausgeschlossen werden, die jünger sind und primitivere Züge (in diesem Fall bei den Gesichtsmerkmalen) zeigen. Das unsaubere Modell würde dagegen beliebige Kombinationen von unbekannten, hominiden-, und schimpansenartigen Merkmalen, d.h. so ziemlich jede Morphologie, „erlauben“, verbietet aber auch eine sichere Aussage, in welchem Zusammenhang das Fossil mit späteren Formen steht. Es bleibt hier also offen, ob Sahelanthropus als Stammhominide oder als Proto-Gorilla interpretiert werden kann, oder ob keines von beiden zutrifft – und man sollte das unter dieser Hypothese auch nicht herausfinden wollen.

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Drei Kandidaten kämpfen um Platz eins

Trotz dieser „Offenheit“ geht der erbitterte Kampf um den Rang als erster Hominide weiter: Inzwischen kämpfen drei erst kürzlich entdeckte spätmiozäne Formen aus Ost- und Zentralafrika (Abb. 2) um den hochdotierten Platz des allerersten Vertreters der Hominiden-Linie:

  1. Ardipithecus ramidus mit der neuen Unterart kadabba aus dem Middle Awash-Gebiet in Äthiopien soll mit seinen 5,2-5,8 MrJ (HAILE-SELASSIE 2001) und wegen der Persistenz einiger primitiver Merkmale nur kurz nach dem Divergenzzeitpunkt zwischen Mensch und Affe gelebt haben, der auf 6,5-5,5 MrJ veranschlagt wird. Der dünne Zahnschmelz setzt ihn unter anderem von den Australopithecinen ab, das Beinskelett der Unterart Ardipithecus ramidus ramidus ist immer noch nicht veröffentlicht.
  2. Orrorin tugenensis (SENUT & PICKFORD 2001) wurde mit seinen 6 MrJ nicht nur als frühester Hominide, sondern auch zur Schlüsselfigur der Humanevolution erhoben, indem seine Beschreiber alle Australopithecinen kurzerhand auf einen Seitenast schoben (vgl. HARTWIG-SCHERER 2001). Die körpernahe Oberschenkelanatomie von Orrorin sei menschenähnlicher als die der Australopithecinen und die Zähne weniger dick mit Schmelz belegt (eher ein Fruchtfresser). Die Kritik von HAILE-SELASSIE (2001) fiel daraufhin heftig aus. Sein Mitarbeiter Owen LOVEJOY vermutet sogar, daß Orrorin in Wirklichkeit zu Ardipithecus gehört.
  3. Sahelanthropus tchadensis, der vorläufig letzte im Bunde, wurde – gemessen am gängigen paläanthropologischen Schauplatz Ost-Afrika – ungewöhnlich weit westlich in Tschad (2500 km von Äthiopien entfernt) gefunden und ist mit seinen fast 7 MrJ tatsächlich der älteste in diesem Rennen. Sein erstaunliches Mosaik eröffnet ihm einige phylogenetische Möglichkeiten; postkranielle Elemente (Teile unterhalb des Schädels), von denen einiges abhängt, sind nicht bekannt.
Abb. 2:
Die Fundstellen der wichtigsten frühen Hominiden. (Nach GIBBONS 2002)

Der von der Molekularen Uhr angegebene Zeitraum von 7-5 MrJ erscheint manchem Paläanthropologen nun ein wenig eng gegriffen angesichts der immer älter werdenden Hominiden (bis 7 MrJ): „Ist unsere Molekulare Uhr richtig kalibriert?“ fragt Philip TOBIAS (zitiert in GIBBONS 2002). Im Moment nimmt man als Kalibrierungspunkt die Aufspaltung von Hundsaffe und Menschenaffe bei 20-25 MrJ, woran aber aufgrund der Fossillage gezweifelt werden kann. ARNASON et al. (2000) verwenden den doppelten Wert von 50 MrJ, was dann den momentan eher passenden Wert von 10,5-13,5 MrJ für den Aufspaltungszeitpunkt ergibt. Dieser Zeitpunkt jedoch kommt der „Ramapithecus“-Episode nahe: Der in den 60er Jahren hochgejubelte erste Menschenvorfahre mit ca. 8-12 MrJ Jahren war wegen der Unvereinbarkeit mit den sehr viel jüngeren Ergebnissen der molekularen Uhr (damals zwischen 3-5 MrJ) als Vorfahre abserviert worden. Es läßt sich nun wieder eine starke Tendenz in Richtung höherer Alter beobachten: Nach der „Ramapithecus“-Episode begann man von neuem mit „Lucy“ bei unter 4 MrJ, erweiterte mit Ardipithecus auf 5 MrJ, und ist jetzt mit Orrorin und Sahelanthropus bei 6 bzw. 7 MrJ angelangt. Bahnt sich eine Renaissance der miozänen Menschen-Vorfahren an?

Welche Position auch immer der neue Schädel erhalten wird, eines ist jedenfalls klar: das Hominidentheater spielte nicht nur die East-Side-Story, denn auch westlich des Afrikanischen Grabens lebten anscheinend verschiedene hominide Vertreter. BRUNET hatte 1995 in Tschad schon einmal einen Hominiden entdeckt und ihn als Australopithecus bahrelghazali beschrieben. Unter harten Bedingungen muß in der Djurabi-Wüste gearbeitet werden, die Ausbeute an Fossilien scheint es wert zu sein. Der unerbittliche, mit Sand geschwängerte Wind bettet die Dünen um und legt die Fossilien frei, deren Erhaltungszustand trotz des Windes gut ist. In den ältesten fossilführenden Schichten der Tschad-Senke (TM266) wurde letzten Sommer der neue, erstaunlich komplette Schädel TM266-01-060-1 geborgen. Allerdings konnte keine absolute, d.h. isotopenbasierte, oder magnetische Datierung erfolgen, da Ascheschichten fehlen. Der Datierung lag eine Faunenanalyse zugrunde.

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Große Diversität und Merkmalsmosaike

Die Diversität hominider Fossiltaxa nimmt sowohl im späten Miozän wie auch im Pliozän in atemberaubender Weise zu (Abb. 3). Die verwirrende mosaikartige Kombination von Merkmalen erschwert eine widerspruchsfreie evolutionär sinnvolle Aneinanderreihung potentieller Vorfahren. Aber auch für die Grundtypenbiologie ergeben sich Fragen: Welche der Formen gehören zu einem Grundtyp, bzw. welche müssen in einen neuen Grundtyp gestellt werden? Sichere Antworten wird man auch da nie erhalten können, da die einzig „harte“ Testmöglichkeit – potentielle Hybridisierungsfähigkeit – bei ausgestorbenen Form ausfällt.

Die verwirrende mosaikartige Kombination von Merkmalen erschwert eine widerspruchsfreie evolutionär sinnvolle Aneinanderreihung potentieller Vorfahren.

Es läßt sich eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Grundtypen- und Evolutionsbiologie feststellen (Abb. 3): Ab 4 MrJ können mindestens drei voneinander recht gut abgrenzbare Gruppen (= Grundtypen) unterschieden werden: die Gattung (= Grundtyp) Homo, die Australopithecinen im weiteren Sinne mit den grazilen und robusten Formen (= Grundtyp Australopithecus) und die Afrikanischen Menschenaffen (= Grundtyp Schimpansen und Gorilla). Dagegen ist die phylogenetische und die grundtypenbiologische Bewertung der drei neuen Miozänen Menschenaffen – Ardipithecus, Orrorin und Sahelanthropus – noch völlig offen. Man kann sich nur dem aufschlußreichen Satz des Kommentators Bernard WOOD anschließen: „Hier haben wir überzeugende Evidenzen, daß unsere eigene Geschichte genauso kompliziert und schwierig nachzuvollziehen ist wie die jeder anderen Organismengruppe.“

Abb. 3: Der aktuellste Stammbusch der menschlichen Evolution, leicht vereinfacht nach WOOD (2002).

Sahelanthropus ist wohl nur die Spitze des Eisberges – es wartet vielleicht eine Unzahl weiterer Vielleicht-Oder-Auch-Nicht-Hominiden darauf, um viel mehr Hominidenforschern zu Ruhm zu verhelfen, als es das „saubere“ Modell jemals vermocht hätte. Vielleicht, so sinniert WOOD, ist Sahelanthropus der Anzeiger eines plötzlichen Auftretens verschiedener Menschenaffenartigen im Miozän, mit einer vergleichbaren Vielgestaltigkeit wie bei den Wirbellosen der Burghess-Shale im Kambrium. Der Phantasie und dem Fossilfieber sind keine Grenze gesetzt – ob jedoch die Freiheit und der Pluralismus des „unsauberen“ Modells auch für die Integration des Grundtypmodells in die Wissenschaftsgemeinschaft ausreicht, bleibt abzuwarten.

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Literatur

ARNASON U, GULLBERG A, BURGUETE AS & JANKE A (2000)
Molecular estimates of primate divergences and new hypotheses for primate dispersal and the origin of modern humans. Hereditas 133, 217-228.
BRUNET M, BEAUVILAIN A, COPPENS Y, HEINTZ E, MOUTAYE AHE & PILBEAM D (1995)
The first australopithecine 2500 kilometres west of the Rift Valley. Nature 378, 273-275.
BRUNET M et al. (2002)
A new hominid from the Upper Miocene of Chad, Central Africa. Nature 418, 145-151.
GIBBONS A (2002)
In search of the first hominids. Science 295, 1214-1299.
HAILE-SELASSIE Y (2001)
Late Miocene hominids from the Middle Awash, Ethiopia. Nature 412, 178-181.
HARTWIG-SCHERER S (2001)
Haben die Australopithecinen ausgedient? Kenyanthropus und Orrorin rütteln am Stammbaum. Stud. Int. J. 8, 85-88.
PAUL G (2002)
Streit um den neuen Adam. FAZ 16.7.2002.
SENUT B, PICKFORD M, GOMMERY D, MEIN P, CHEBOI C & COPPENS Y (2001)
First hominid from the Miocene (Lukeino formation, Kenya). C. R. Acad. Sci. Paris 332, 137-144.
WOOD B (2002)
Hominid revelations from Chad. Nature 418, 133-135.

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