Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 6. Jg. Heft 1 - März 1999


Konvergenzen und komplexe Stammform:
Zur Phylogenese der Bärlappbäume

von Reinhard Junker

Studium Integrale Journal
6. Jahrgang / Heft 1 - März 1999
Seite 13 - 18



Zusammenfassung: Die Formenfülle der gut erhaltenen oberkarbonischen Lepidophyten (Schuppen- und Siegelbäume, Ordnung Rhizomorphales, Klasse Lycopsida) läßt sich am leichtesten in ein Stammbaumschema einordnen, wenn von einer merkmalsreichen Form ausgegangen wird. In jedem Fall muß mit zahlreichen Konvergenzen und Reversionen gerechnet werden. Eine evolutionäre Ableitung von devonischen und unterkarbonischen Formen ist wegen der Bruchstückhaftigkeit der in diesen Schichten gefundenen Überreste kaum möglich.





Abb. 1: Rekonstruierte Bärlappbäume (Lepidophyten). links: Diaphorodendron scleroticum, rechts: Lepidophloios hallii (Aus Bateman et al. 1992)
Abb. 1
In der letzten Ausgabe von Studium Integrale Journal wurden der Bau und die mutmaßliche Ökologie der vor allem im Karbon überlieferten Lepidophyten (Schuppen- und Siegelbäume) vorgestellt. Neben baumförmigen Vertretern werden auch einige sog. "scheinkrautige" Gattungen zu dieser ausgestorbenen Pflanzengruppe gerechnet. Die wahrscheinlich kurzlebigen Gehölze weisen einen einzigartigen Bauplan auf, der aus zwei bis vier Bauplanmodulen (unterirdische Organe, Stamm, Krone, Seitenzweigsystem) zusammengesetzt ist. Der nachfolgende Beitrag präsentiert als Fortsetzung Daten und Deutungen zur Entstehung dieser Formengruppe.

Die meisten Fossilien sind nur sehr bruchstückhaft erhalten. Isolierte Organe werden daher als Formgattungen beschrieben, zum Beispiel als Gattungen für Zapfen, für sterile Zweige, für Blätter, für Sporophylle (Blätter mit Sporenbehältern [Sporangien]), für Sporen, für Stämme (mit unterschiedlichen Bezeichnungen für verschiedene Erhaltungszustände) und für unterirdische Organe. Evolutionstheoretische Betrachtungen sind aufgrund dieser Situation erheblich erschwert und oft kaum möglich. Dies gilt teilweise auch für die Lepidophyten, besonders für deren ältere Überreste aus dem Oberdevon und Unterkarbon, wo die Rekonstruktion kompletter Pflanzengestalten einschließlich der wichtigen unterirdischen Organe bisher nicht möglich war (Bateman et al. 1992, 546).

Abb. 1b: Die scheinkrautige Gattung Hizemodendron. (Aus Bateman et al. 1992)
Abb. 1b

Rekonstruktionen der Stammesgeschichte werden durch einen weiteren Befund erschwert: Vollständiger erhaltene Gattungen zeigen nämlich, daß die einzelnen Organe in unterschiedlichsten Ausprägungen kombiniert sein können. Beispielsweise können Gattungen mit monosporangiaten Zapfen (nur ein Sporentyp in einem Zapfen) baumförmig oder scheinkrautig sein; dasselbe gilt ebenso für Gattungen mit bisporangiaten Zapfen. Das heißt: Von der Ausprägung eines bestimmten Organs kann nicht auf den Zustand eines anderen geschlossen werden. Hier begegnet uns das Phänomen der Heterobathmie (Kombination sog. primitiver und sog. fortschrittlicher Merkmale), das im Pflanzenreich häufig angetroffen wird. Diese Situation verbietet es, aus isolierten Pflanzenfragmenten Schlüsse über den gesamten Bauplan zu ziehen (vgl. Bateman et al. 1992, 550).



Aussagen über phylogenetische Zusammenhänge können aus diesen Gründen oft nur in allgemeiner Form im Sinne von gröberen Tendenzen einzelner Strukturen formuliert werden, wohingegen die theoretisch denkbaren Abfolgen bei verschiedenen Strukturen in vielen Fällen nicht zusammenpassen (vgl. Junker 1996).


Abb. 2: Dendrogramm von 16 Taxa oberkarbonischer Lepidophyten. 115 Merkmale wurden zugrundegelegt. Die Zahlen wurden aufgrund der Angaben bei Bateman et al. (1992) zusammengestellt. Sie finden sich in dieser Form nicht im Original.
Abb. 2

Aus dem Oberkarbon ist jedoch eine ganze Reihe insgesamt gut erhaltener Lepidophyten-Gattungen bekannt (Abb. 1), so daß aussagekräftige phylogenetische Analysen möglich sind. Viele oberkarbonische Arten sind auch aus dem Unterkarbon bekannt, kommen dort aber in der Regel in weniger gut erhaltener Form vor. Bateman et al. (1992) führten mit 16 Arten eine umfangreiche cladistische Analyse durch. Darin werden 69 vegetative und 46 generative Merkmale einbezogen. Abb. 2 gibt den "bevorzugten sparsamsten Baum" wieder (d. h. die Zahl der anzunehmenden Konvergenzen und Revisionen ist minimal; s. u.). Da in diesem Überblicksartikel auf die meisten Details nicht eingegangen werden kann, wurde im Dendrogramm lediglich angegeben, wieviele Synapomorphien, Konvergenzen und Reversionen jeweils auftreten (zu den Begriffen siehe Glossar). Dabei sind die einzelnen Merkmale allerdings von unterschiedlichem Gewicht. Einige wichtige Beobachtungen sollen im folgenden hervorgehoben und kommentiert werden. Der an Details interessierte Leser sei an die zugrundeliegende ausführliche Arbeit von Bateman et al. (1992) verwiesen.


Abb. 3: Dendrogramm wie Abb. 2 mit Darstellung der Wuchsformen. Pfeile stehen für Wuchsformübergänge. Abgekürzte Gattungsnamen vgl. Abb. 2. (Nach Bateman 1994)
Abb. 3

Konvergenzen und Reversionen.

Abb. 4: Protolepidodendropsis pulchra, eine Art aus der Familie Sublepidodendraceae. (Aus Schweitzer 1965)
Abb. 4
Auffallend ist die große Zahl von Konvergenzen und Reversionen. Besonders bemerkenswert sind die zu fordernden Konvergenzen bei den Bauplantypen (Bateman et al. 1992, 544). Mindestens sieben Mal muß ein Übergang in Merkmalen der Architektur (der Bauplanmodule) angenommen werden (Bateman 1994, 568; Abb. 3). Im Cladogramm äußert sich das dadurch, daß die einzelnen Gattungen bezüglich der Wuchsform in einer "chaotischen" Reihe auftreten (so Bateman & DiMichele 1992, 77). Da nur ein Teil der bekannten Taxa berücksichtigt ist (nämlich die am besten erhaltenen aus dem Oberkarbon), dürfte es sich dabei nur um einen Teil der überhaupt auftretenden Konvergenzen und Reversionen handeln. Es entsteht der Eindruck eines mosaikartig bunten Durcheinanders von Merkmalskombinationen. Genau dies brachte bereits Meyen (1976, 146) zum Ausdruck, als er feststellte, daß die gegenwärtige Systematik der Lepidophyten die Form eines multidimensionalen Gitters frei kombinierbarer Merkmale annehme.

Abgrenzung von Gattungen und Arten.

Die in der cladistischen Analyse von Bateman et al. (1992) untersuchten Gattungen sind ziemlich gut abgegrenzt; sie unterscheiden sich voneinander durch jeweils eine beträchtliche Anzahl von Merkmalen. So stellen Phillips & DiMichele (1992, 571) beispielsweise fest, daß es auffällig verschiedene Megasporangium-Sporophyll-Komplexe gibt. Die Mikrosporangien und besonders die Mikrosporen ermöglichen scharfe Unterscheidungen zwischen Sigillaria, Diaphorodendron und den Gattungen mit Sporengattung Lycospora (Phillips & DiMichele 1992, 571).1

Innerhalb der Gattungen ist eine Auflösung in die verschiedenen Arten kaum durch qualitative Unterschiede möglich (Bateman et al. 1992, 526, Phillips & DiMichele 1992, 572). Möglicherweise lassen sich die Gattungen jeweils als Grundtypen (im Sinne von Scherer 1993) abgrenzen (siehe aber auch die Überlegungen im Schlußabschnitt).

Abb. 5: Valmeyerodendron. (Aus Jennings 1972)
Abb. 5

Teilanalysen.

Bateman et al. (1992) haben gesonderte Dendrogramme unter Zugrundelegung nur der vegetativen bzw. nur der generativen Merkmale aufgestellt (Abb. 4 und 5). Dabei zeigen sich einige deutliche Unterschiede, die einleitend bereits angedeutet wurden: Manche Gattungen sind nach vegetativen Merkmalen primitiv, nach generativen jedoch fortschrittlich und umgekehrt. Vegetative und generative Trends sind nicht in Deckung zu bringen. Entweder die Zapfenmorphologie oder die Wuchsform ist als konvergent zu betrachten. Dies wird deutlich bei der scheinkrautigen Gattung Hizemodendron, die in der Zapfenmorphologie fortschrittlich, in der Wuchsform jedoch primitiv ist. Der umgekehrte Fall liegt bei Anabathra vor. Sigillaria ist insgesamt nach vegetativen Merkmalen fortschrittlicher als nach generativen, bezüglich der fünf in der Untersuchung berücksichtigten Blattpolstermerkmale jedoch wiederum primitiv. Die nach vegetativen Merkmalen insgesamt primitiveren Gattungen Diaphorodendron und Synchysidendron sind in allen diesen Blattpolstermerkmalen dagegen fortschrittlich (Bateman et al. 1992, 514).

Zu beachten ist, daß auch bei Beschränkung auf den jeweiligen Teil des gesamten Merkmalsspektrums immer noch zahlreiche Konvergenzen und Reversionen zu verzeichnen sind.



Die große Zahl an Konvergenzen und Reversionen ist evolutionstheoretisch gesehen problematisch, insbesondere bei wiederholtem Auftreten und je komplexer die betreffenden Merkmale sind. Bateman et al. (1992) und Bateman & DiMichele (1994) diskutieren eine Lösung, die auf eine Verkleinerung des Problems setzt. Vielleicht können größere morphologische Änderungen auf geringe genetische Unterschiede zurückgeführt werden, wie dies etwa von der Fruchtfliege Drosophila bekannt ist, wo homöotische Mutationen (bei denen ganze Bauteile an falschen Körperstellen realisiert werden) zu bedeutsamen Änderungen führen können.

Solche wiederholt auftretende sprunghafte Evolution (Saltation) soll nach Bateman & DiMichele (1994) die Merkmalswidersprüche in den Cladogrammen verständlich machen. Dabei definieren diese Autoren "sprunghafte Evolution" als genetische Veränderung innerhalb einer Generation, die sich phänotypisch deutlich manifestiert und zu einer neuen evolutionären Linie führt (S. 62, 66). Die Richtung der Veränderung ist unerheblich (Vergrößerung oder - was häufiger ist - Verringerung der Komplexität). Die Autoren sprechen von einem "Neo-Goldschmidtschen Paradigma".

Nach Ansicht von Bateman et al. (1992, 545), Bateman & DiMichele (1994) und Bateman (1994, 572ff.) könnte die chaotische Anordnung der Wuchsformen der Lepidophyten im sparsamsten Cladogramm auf Mutationen (möglicherweise eine einzige) in regulatorischen Genbezirken zurückzuführen sein, die ähnliche sprunghafte Änderungen bewirken.2 Solche Mutationen sollen in frühen ontogenetischen Stadien wirksam sein und dadurch weitreichende Änderungen zur Folge haben. Als Ausgangsform für die verschiedenen Wuchsformen käme ein baumförmiger Vorläufer in Betracht, der durch Heterochronie durch den Verlust eines Bauplanmoduls in andere, einfachere Wuchsformen überführt wurde (Bateman et al. 1992, 545; Bateman 1992, 88; Bateman & DiMichele 1991, 203). Davon durfte freilich die Ausprägung anderer Merkmale, z. B. der Zapfen nicht betroffen sein (vgl. Bateman 1992, 89).

Mit diesem Konzept könnte evolutionstheoretisch ein Teil der Konvergenzen und vor allem der Reversionen erklärt werden. Allerdings läuft diese Lösung darauf hinaus, als Vorläuferform eine ziemlich "komplett" ausgestattete, mit allen vier Bauplanmodulen versehene Vorläuferform zu postulieren (Bateman 1994, 568). Die Entstehung der Merkmale einer solchen hypothetischen Ausgangsform wäre mit diesem Szenario nicht zu begründen. Die Konvergenzen in der Wuchsform entstünden durch unterschiedliche Variation oder Wegfall einzelner Bauteile (Bateman & DiMichele 1994, 83). Diese Vorgänge sind also nicht geeignet, die Entstehung des evolutionär Neuen verständlich zu machen.

Das Auftreten von Mutationen in regulatorischen Bezirken alleine genügt zudem nicht; die Mutanten müssen einen Weg zum Überleben finden. Aufgrund eines extremen genetischen Flaschenhalses wird die genetische Vielfalt im Vergleich zur Elternpopulation stark reduziert, was zu anfangs verringerter Konkurrenzfähigkeit führt. Eine Regulationsmutation bedeutet nämlich das Verlassen eines adaptiven Optimums. "Experimente" sprunghafter Evolution werden daher in der Regel fehlschlagen, und nur gelegentlich zum Erfolg führen, nämlich wenn auch die Umweltbedingungen es erlauben (vgl. Bateman & DiMichele 1994, 81, 84): Es wird postuliert, daß solche Sprünge in einer Art ökologischem Vakuum, d. h. auf Pionierstandorten mit wenig Konkurrenz erfolgen (Bateman & DiMichele 1994, 83; Bateman & DiMichele 1991, 203).

Das geschilderte Überlebensszenario wäre also dann plausibel, wenn zum einen geologisch entsprechende paläoökologische Bedingungen nachweisbar sind und wenn zum anderen die postulierten genetischen Mechanismen sich experimentell bestätigen lassen. Auf diese beiden Aspekte wird hier nicht eingegangen (vgl. dazu Bateman & DiMichele 1994, 83f. und dort angegebene weiterführende Literatur).

Eine wichtige Konsequenz der saltatorischen Evolution, die in der skizzierten Weise erfolgt, ist die Veränderung von weiteren Merkmalen, die sich quasi automatisch als Folge einer Regulationsmutation weiterhin einstellen. Wird z. B. die Morphogenese (Formbildung) durch Heterochronie verkürzt, dann wird nicht nur ein bestimmtes Bauplanmodul wegfallen, sondern es werden konsequenterweise damit gekoppelte Merkmale verschwinden oder verändert werden. Beim Extrembeispiel Hizemodendron (s. Abb. 1) ist allerdings nicht ersichtlich, daß die Häufigkeit der in dieser Gattung zu postulierenden Konvergenzen und vor allem der Reversionen im Zusammenhang mit der postulierten Heterochronie stehen. Auch die konvergenten Merkmale beim Paar Diaphorodendron / Synchysidendron und bei Sigillaria dürften weithin ungekoppelt sein; bei Sigillaria sind Merkmale des Habitus, der Stigmarien, des Cortex, des Periderms, des Blattpolsters, der Blätter, des Sporophylls sowie der Mega- und Mikrosporen betroffen. Das evolutionstheoretische Problem der häufigen Reversionen erscheint also durch die Annahme einer schnellen heterochronischen Reduktion nicht wesentlich entschärft zu werden.



Bateman (1994) diskutiert zwei Möglichkeiten für die Wuchsform des hypothetischen Vorfahren der in der cladistischen Analyse von Bateman et al. (1992) berücksichtigten Gattungen, nämlich eine Ausprägung wie bei der scheinkrautigen Oxroadia oder wie bei der baumförmigen Gattung Paralycopodites (= Anabathra). In beiden Fällen muß die gleiche Anzahl an konvergenten Übergängen in der Architektur angenommen werden. Bateman (1994, 568) bevorzugt Paralycopodites als geeignetste Außengruppe. Das würde bedeuten, daß die ursprünglichste Ausprägung die komplexeste wäre.3 Die nachfolgende Evolution innerhalb der Gruppe würde eine schrittweise Unterdrückung einiger "Entwicklungsschalter" bedeuten, was den Verlust der entsprechenden Module mit sich bringen würde, sowie eine zeitliche Versetzung der Ausprägung anderer Module erfordern (Bateman 1994, 568; vgl. Tab. 3, S. 569 dort).



Als Ausgangsgruppe der Lepidophyten gelten die unter- und mitteldevonischen Protolepidodendrales. Dabei handelt es sich um kleine krautförmige Lycopsiden (Bärlappkräuter), denen die typischen Lepidophytenmerkmale fehlen.

Übergangsformen zwischen krautigen und baumförmigen Lycopsiden sollten im Mittel- bis Oberdevon anzutreffen sein, da im Unterkarbon bereits typische Lepidophyten vorkommen. Tatsächlich sind einige Gattungen bekannt, die bezüglich mancher Merkmale einen Übergangscharakter zeigen. Schweitzer (1969) faßt im Anschluß an Hirmer (1927) solche Gattungen in der Familie Sublepidodendraceae zusammen, die zwischen den Protolepidodendrales und Lepidophyten vermitteln könnten: kleine bis mittelgroße baumförmige Lycopsiden vom Habitus der Schuppenbäume mit einfacher gebauten Blattpolstern, ohne Ligula und ohne Parichnosnarben (ein Beispiel zeigt Abb. 4). Wegen Bruchstückhaftigkeit, unterschiedlicher Erhaltungszustände und enormer intraspezifischer Variabilität der Reste ist die Familie schwer untergliederbar. Die Einteilung in Gattungen basiert auf der Blattstellung und dem Vorhandensein oder Fehlen einer echten Blattnarbe (Schweitzer 1969, 109). Die geringe Erhaltung ermöglicht nur einen "oberflächlichen Vergleich" zwischen dieser Familie und anderen Gruppen paläozoischer Lycopsiden (Jennings 1972, 80). Solange keine besser erhaltenen Formen in größerer Zahl gefunden werden, steht der Übergangscharakter dieser Familie auf schwachen Füßen.

Die hauptsächlichen Merkmale der typischen karbonischen Lepidophyten (z. B. das Stigmariensystem, verschiedene Zapfentypen) treten relativ plötzlich auf. Die Lepidophyten gelten geradezu als typisches Beispiel einer saltatorischen Evolution (Thomas 1978, 323; vgl. Bateman 1994, 532).4 Thomas (1978, 323f.) hält es für denkbar, daß eine Reihe karbonischer Gattungen unabhängig (also polyphyletisch) aus dem devonischen Pool möglicher Vorläufer entstanden sind, was allerdings ein enormes Ausmaß an Konvergenzen erfordern würde.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Bateman et al. (1992) für ihre cladistische Analyse (s. o.) keine geeignete Außengruppe unter den bekannten Taxa wählen konnten, sondern mit einem "hypothetischen Vorfahren" arbeiteten: Mit Hilfe von Computeranalysen rekonstruierte Bateman (1994, 565) das Aussehen eines hypothetischen Vorfahren, der als Außengruppe in Frage käme. Dieser hypothetischen Form könnte die Gattung Valmeyerodendron (Abb. 5) relativ nahe kommen. Von ihr sind jedoch die unterirdischen Organe und Fortpflanzungsorgane unbekannt, so daß eine Nähe zum hypothetischen Vorfahren der karbonischen Lepidophyten unsicher ist. Dies wird auch durch einzigartige Merkmale von Valmeyerodendron wie z. B. die Blattform in Frage gestellt. Nichtsdestotrotz bietet die Rekonstruktion eines hypothetischen Vorfahren eine zukünftige Prüfmöglichkeit anhand weiterer Funde (Bateman 1994, 565).



Die Vielfalt der Formenkonstellationen der oberkarbonischen Bärlappbäume läßt sich leichter im Sinne eines Baukastensystems frei kombinierbarer Merkmale als im Rahmen monophyletischer Rekonstruktionen deuten. Die geschilderten Befunde sind im Rahmen des evolutionären Paradigmas unerwartet. Dessen Vorgabe verursacht eine Reihe von Fragen, die bislang im Wesentlichen nur durch Spekulationen (sprunghafte Evolution) beantwortet werden können. Bemerkenswert ist, daß hier wie auch in anderen Fällen (vgl. z. B. Shubin 1998) aufgrund unerwarteter Merkmalsverteilungen Lösungen durch ein erweitertes Verständnis morphogenetischer Prozesse während der Individualentwicklung gesucht werden.

Möglicherweise können die untersuchten Lepidophyten in wenige oder nur einen Grundtyp im Sinne von Scherer (1993) zusammengefaßt werden. In diesem Falle wären die Merkmale der einzelnen Arten und Gattungen durch schnelle Radiation polyvalenter Stammformen entstanden, vielleicht ähnlich, wie Bateman & DiMichele (1994) sich das vorstellen (s.o.), die eine komplexe Ausgangsform an den Anfang stellen. Kutzelnigg (1993) beschreibt eine ähnliche Situation der Merkmalsverteilungen für die heutigen Maloideen (Kernobstgewächse) und zieht vergleichbare Schlußfolgerungen.



Anmerkungen

  1. Die gute Abgrenzbarkeit auf Gattungsebene wird auch dadurch unterstrichen, daß sich die Abgrenzung der Gattungen mit mehreren in der Untersuchung berücksichtigten Arten bei verschiedenen Auswertungsmethoden nicht ändert. Würde man die Arten einer Gattung auseinanderreißen, ergäbe sich eine deutlich größere Baumlänge der Dendrogramme (Bateman et al. 1992, 526). Bis auf Lepidophloios gilt das auch, wenn die Betrachtung auf generative oder auf vegetative Merkmale beschränkt wird (Bateman et al. 1992, 533f.).
  2. Die Autoren sprechen von D-Genen ("developmental genes") nach Arthur (1984).
  3. Bateman (1994, 580) begründet die Komplexität des hypothetischen Vorfahren wie folgt (vgl. auch Bateman 1996, 96):
    1. Die Morphologie der scheinkrautigen Lepidophyten und der stark reduzierten Chaloneria macht nur dann biologischen Sinn, wenn sie entwicklungsmäßig reduzierte Abkömmlinge baumförmiger Vorfahren seien.
    2. Man sollte annehmen, daß der Erwerb sekundärer Gewebe dazu führte, daß diese im ganzen Pflanzenkörper zunächst einheitlich ausgeprägt waren, und daß regionale Differenzierungen später erfolgen (weil dafür eine komplexere Steuerung erforderlich ist). Allerdings ist die einzige Gattung der cladistischen Analyse von Bateman et al. (1992) mit durchgängigem Sekundärxylem die fortschrittliche, monosporangiate Gattung Diaphorodendron (Bateman 1994, 580).
    3. Aufgrund des entwicklungsbiologischen Sparsamkeitsprinzips wäre zu erwarten, daß bei ursprünglichen Gattungen die überirdischen und unterirdischen Teile einander maximal ähneln. Unter der Annahme, daß ein großes, oft verzweigtes Stigmariensystem als ursprünglich anzusehen ist, folgt daraus, daß solche Gattungen primitiv sein sollten, die eine ausgiebig dichotom verzweigte Krone besitzen (dann besteht eine gute Entsprechung zum Stigmariensystem). Das trifft auf Synchysidendrin, Lepidodendron und Lepidophloios zu, die wiederum sonst relativ wenig plesiomorphe Merkmale aufweisen, sondern "Bäume mit einer Architektur von mittlerer Komplexität" darstellen (Bateman 1994, 581).
    Aus dieser verzwickten Situation schließt Bateman (1994, 581), daß die gesuchte Form, die an der Basis der karbonischen Lepidophyten steht, eine bislang unbekannte Architektur besitzen müsse.
  4. Über verschiedene oberdevonische und unterkarbonische Gattungen schreibt Thomas (1978, 327): "The available evidence seems to suggest that the largest of these plants had a main trunk with a crown of dichotomizing branches. The leaves were generally persistent although they may have withered and collapsed later in life. We know very little about their structure, and no anchoring or rooting organs have been described. The reproductive organs of most genera are unknown, and what little we know of the others suggests that some were homosporous while others were heterosporous." Cichan & Beck (1987, 1750) stellen fest: "Despite the fact that the Lepidodendrales is one of the best-understood plant taxa of the Carboniferous, relatively little is known about the early evolutionary history of the group, in particular the phylogenetic events that occurred prior to the invasion of the coal swamps."


Glossar

Außengruppe:
zum Vergleich einer bestimmten Organismengruppe herangezogene entfernter verwandte Gruppe.
Autapomorphie:
fortschrittliches ("höher entwickeltes"), ein bestimmtes Taxon (taxonomische Gruppe) betreffendes Merkmal.
Cladismus:
Bezeichnung für phylogenetische Systematik (Stammbaumrekonstuktion) auf der Basis gemeinsamer fortschrittlicher Merkmale (-> Synapomorphie).
Dendrogramm:
Verzweigungsschema, das -> Synapomorphien widerspiegelt.
Heterochronie:
Zeitliche Verschiebung von Vorgängen während der Ontogenese (Individualentwicklung), z. B. verfrühte Geschlechtsreife.
Konvergenz:
mehrfach unabhängig entstandenes bau- oder funktionsgleiches Merkmal. (In diesem Artikel werden nur baugleiche Konvergenzen berücksichtigt.)
monophyletisch:
von einem einzigen Vorfahren abstammend.
Synapomorphie:
fortschrittliches Merkmal, das mehrere Taxa einer Abstammungsgemeinschaft besitzen (-> Autapomorphie).


Literatur

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  • Bateman RM (1994) Evolutionary-developmental change in the growth architecture of fossil rhizomorphic lycopsids: scenarios constructed on cladistic foundations. Biol. Rev. 69, 527-597.
  • Bateman RM (1996) Nonfloral homoplasy and evolutionary scenarios in living and fossil land plants. In: Sanderson & Hufford (eds) Homoplasy. The recurrence of similarity in evolution. San Diego, Acad. Press, S. 91-130.
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  • Cichan MA & Beck CB (1987) A woody lycopsid stem from the New Albany shale (Lower Mississippian) of Kentucky. Am. J. Bot. 74, 1750-1757.
  • Hirmer M (1927) Handbuch der Paläobotanik. München.
  • Jennings (1972) A new lycopod genus from the Salem limestone (Mississippian) of Illinois. Palaeontographica B 137, 72-84.
  • Junker R (1996) Evolution früher Landpflanzen. Neuhausen-Stuttgart.
  • Meyen SV (1976) Carboniferous and Permian Lepidophytes of Angaraland. Palaeontographica B 157, 112-157.
  • PhillipsTL & DiMichele WA (1992) Comparative ecology and life-history biology of arborescent lycopsids in Late Carboniferous swamps of Euramerica. Ann. Miss. Bot. Gard. 79, 560-588.
  • Scherer S (1993) Typen des Lebens. Berlin.
  • Schweitzer HJ (1965) Über Bergeria mimerensis und Protolepidodendropsis pulchra aus dem Devon Westspitzbergens. Palaeontographica B 115, 101-137.
  • Schweitzer HJ (1969) Die Oberdevon-Flora der Bäreninsel. 2. Lycopodiinae. Palaeontographica B 115, 117-138.
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  • Thomas BA (1978) Carboniferous Lepidodendraceae and Lepidocarpaceae. Bot. Rev. 44, 321-364.


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