Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 5. Jg. Heft 1 - April 1998


Neue Säugerfunde aus der Erdmittelzeit


von Michael Brandt

Studium Integrale Journal
5. Jahrgang / Heft 1 - April 1998
Seite 34 - 66


Plazentalier in der Erdmittelzeit Australiens?

Die heute lebenden Säugetiere werden in zwei Hauptgruppen unterteilt: die Monotremata und die Theria (Tab. 1). Die Monotremata (Kloakentiere) sind eine kleine Gruppe eierlegender Säugetiere. Zu ihnen gehört z.B. das Schnabeltier. Zu den Theria, welche ihre Jungen lebend gebären, gehören die Marsupialia (Beuteltiere) und die Plazentalia (Säuger mit sehr leistungsfähigem Mutterkuchen).

1985 beschrieben Archer et al. den ersten Säuger der Erdmittelzeit Australiens. Es handelte sich um einen Vertreter der Monotremata. 12 Jahre später wurde auf diesem Kontinent ein noch viel aufregenderer Fund gemacht: Aus Gestein der Unterkreide wurden vier Zähne in einem 2 cm großen Unterkieferfragment geborgen (Rich et al. 1997). Die neue Spezies Aukstribosphenos nyktos wurde von Rich et al. (1997) vorläufig zu den Plazentalia gestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Plazentalia aus der Unterkreide nur aus Asien bekannt. Mit dieser taxonomischen Einordnung wird das erste Auftreten der Plazentalia in Australien um 110 Millionen Jahre zurückverlegt und die allgemein anerkannte Rahmenvorstellung der Stammesgeschichte der sogenannten höheren Säugetiere in Frage gestellt.

Merkmalsbeschreibung.

Abb. 1: Der untere Molar von A. nyktos (nach Rich et al. 1997). Punktierte Flächen sind Abnutzungsgebiete. Die Abnutzungsflächen wangenseitig des Entoconid und zungenseitig der Cristid obliqua weisen auf einen Protoconus (Innenhöcker) auf dem oberen Molar (hinterer Backenzahn) und damit auf einen voll entwickelten tribosphenischen Zahn hin.
1 Entoconid, 2 Entocristid, 3 hintere Cristid des Metaconid, 4 Metaconid, 5 Protoconid, 6 Cristid obliqua, 7 Hypoconid, 8 unbez. Cristid, 9 Hypoconulid. Die Cristid 1 ist ein einmaliges Merkmal (Autapomorphie) von Aukstribosphenos nyktos.

Die Molaren (Backenzähne) von A. nyktos besitzen ein Talonid-Becken, das Abnutzungszeichen auf der Wangenseite des Entoconid und der lingualen Seite der Cristid obliqua (schräge Leiste) aufweist (Abb. 1). Rich et al. (1997) schließen von diesen Abnutzungsflächen auf den unteren Molaren auf einen prominenten Protoconus auf den oberen Molaren. Der Protoconus ist das wesentliche Kennzeichen eines voll tribosphenischen Säugetiers. Marsupialia und Plazentalia besitzen tribosphenische Molaren, die zum Schneiden und Zerquetschen der Nahrung geeignet sind. Dem Unterkiefer von A. nyktos fehlen Merkmale der Marsupialia. Die tribosphenische Molarenstruktur und die Zahnformel mit vier oder fünf Prämolaren und drei Molaren weisen nach Rich et al. (1997) darauf hin, daß A. nyktos ein Plazentalier und damit ein fortschrittlicher Theriavertreter war.

Außer fortschrittlichen Theriamerkmalen besitzt A. nyktos aber auch primitive Merkmale. Dazu gehören insbesondere zusätzlich zum Dentale vorhandene Unterkieferknochen (postdentale Knochen).

A. nyktos verfügt auch über ein einmaliges Merkmal (Autapomorphie), das allein das Erkennungszeichen für die Ordnung der Aukstribosphenida darstellt: Auf den unteren Molaren verläuft vom Hypoconulid eine bogenförmige Leiste nach vorn in das Talonid-Becken auf einen Punkt zu, wo sie auf zwei andere Leisten (hintere Leiste des Metaconid, Entocristid des Entoconid) trifft (Abb. 1).

Konventioneller Vorstellungsrahmen der Säugetierevolution.

Nach weit verbreiteter Vorstellung geht der Ursprung der Säugetiere auf über 200 Millionen Jahre zurück. Die Monotremata werden als sehr alt eingestuft. Die nach evolutionstheoretischen Vorstellungen "höheren" Säugetiere (Marsupialia und Plazentalia) haben sich in der Unterkreide vor 144 bis 98 Millionen Jahren entwickelt. Zu dieser Zeit waren die Kontinente in zwei große Landmassen, Laurasia im Norden und Gondwana im Süden geteilt. Die Paläontologen vermuten, daß die plazentalen Säugetiere zunächst in Asien entstanden und dann nach Nordamerika gewandert seien. Die Plazentalia und Marsupialia blieben bis vor 65 Millionen Jahren auf die nördliche Halbkugel begrenzt. Zu dieser Zeit ermöglichte eine Inselkette eine Migration (Wanderung) beider Säugetierformen nach Südamerika. Danach wanderten nur die Marsupialia weiter nach Süden über den Gondwanakontinent nach Australien. Fledermäuse folgten, aber bodenbewohnende Plazentalia erreichten Australien nicht vor 5 Millionen Jahren, lange Zeit nachdem Australien vom Gondwanakontinent abgebrochen war. Bis zu dieser Zeit driftete Australien aber nahe genug an Südasien, so daß Nagetiere Australien erreichen konnten (Wuethrich 1997).

Diskussion und Bewertung.

Wenn Plazentalia bereits in der Unterkreide Australiens und Asiens gelebt haben, dann muß der Ursprung der höheren Säugetiere zeitlich zurückverlegt werden. Im Evolutionsrahmen wäre eine Abzweigung der Plazentalia von ihren Vorfahren vor dem Aufbrechen des Urkontinentes Pangaea vor 180 Millionen Jahren plausibel. Zu diesem Zeitpunkt war eine Ausbreitung über eine ungeteilte Landmasse bis zum heutigen Australien leicht möglich (Wuethrich 1997).

Jedoch wird Zuordnung von A. nyktos zu den Plazentalia von verschiedenen Forschern bezweifelt. So findet sich die Zahnformel von A. nyktos nicht nur bei Plazentalia, sondern auch bei primitiveren Säugetieren. Die eigenartige Kombination von Zahnmerkmalen (voll tribosphenische Struktur) fortschrittlicher therischer Säugetiere mit einem primitiven Unterkiefer säugerähnlicher Reptilien spricht gegen eine taxonomische Einordnung in die Plazentalia. Deshalb glauben auch einige Paläontologen, daß es sich bei A. nyktos um ein Säugetier handelt, das sich von allen anderen bekannten Säugern völlig unterscheidet (siehe Wuethrich 1997).

Mit einem Mosaik von primitiven und fortschrittlichen Merkmalen vermehrt Aukstribosphenos nyktos die bekannten zahllosen Fossilfunde, die in gängige phylogenetische Konzepte nicht plausibel eingeordnet werden können.


Ein Symmetrodont aus China und seine phylogenetische Bedeutung

Fundbeschreibung.

Tab. 1: Grobe Einteilung der heutigen Säugetiere

Mammalia (Säugetiere)
Monotremata (Kloakentiere)
Theria
Marsupialia (Beuteltiere)
Plazentalia (Säuger mit Mutterkuchen)

Über ein nahezu vollständiges postcraniales Skelett mit Partialschädel und Zähnen eines symmetrodonten Säugers (Zhangheotherium quinquecuspidens) berichten Hu et al. (1997). Die Symmetrodonten sind Säugetiere aus dem Mesozoikum (Erdmittelzeit), von denen bisher nur Zähne und Kieferknochen bekannt waren. Von Evolutionstheoretikern werden sie als Teil der frühen Theriaradiation vor der Divergenz in Marsupialia und Plazentalia eingestuft (vgl. Abb. 2, Tab. 1).

Ein charakteristisches Merkmal der Symmetrodonten ist die Anordnung von drei Höckern auf den Molaren in einem unvollkommenen Dreieck und das Fehlen eines Processus angularis am Unterkiefer.

Am postcranialen Skelett (Skelett unterhalb des Schädels) besitzt Zhangheotherium zahlreiche nichttherische Merkmale. Im Schultergürtelbereich ist eine Interclavicula wie bei den Reptilien und den Monotremata (eierlegende Säugetiere) vorhanden. Gegenüber den Monotremata ist die Interclavicula allerdings reduziert und das Gelenk zwischen Clavicula (Schlüsselbein) und Interclavicula in der Mobilität erhöht. Im Gegensatz zu den abgespreizten Vorderextremitäten der Monotremata nehmen die Ellenbogen der meisten lebenden Theria eine Position nahe dem Brustkorb (parasagittale Haltung) ein. Das postcraniale Skelett von Zhangheotherium weist auf eine mehr abgespreizte Vorderextremitätenhaltung hin. Schließlich läßt das fingerähnliche Promontorium am Schädel von Zhangheotherium auf eine gerade oder nur gering gekrümmte Cochlea (Gehörgangsschnecke) im Innenohr schließen. Bei den Theria ist die Cochlea dagegen spiralförmig (Hu et al. 1997). Insgesamt verfügt Zhangheotherium über wenige theriaähnliche Merkmale und zahlreiche nichttherische Charakteristika.

Funddeutung.

Die cladistische Analyse von Hu et al. (1997) hat zum Ergebnis, daß Zhangheotherium an der Basis der Theria steht und mit den Multituberculata ein Schwesterntaxonverhältnis hat (Abb. 2). Die nächst entwickeltere archaische Theriaform ist Henkelotherium. Ob diese Beziehungen aber auch reale historische Abstammungsverhältnisse repräsentieren, muß stark bezweifelt werden.


Abb. 2: Phylogenetische Beziehungen von Zhangheotherium quinquecuspidens nach einer cladistischen Analyse von Hu et al. (1997). Diskussion siehe Text.

Die Multituberculata werden seit je her als phylogenetisch recht isolierte ausgestorbene Säugergroßgruppe angesehen (Clemens & Kielan-Jaworowska 1979).

Henkelotherium ist zum einen durch zahlreiche Theriamerkmale (Krebs 1991) morphologisch deutlich von Zhangheotherium getrennt. Zum anderen ist Henkelotherium aus dem Oberen Jura (Krebs 1991) sogar noch etwas älter als Zhangheotherium aus dem obersten Jura oder frühesten Kreidezeit (Hu et al. 1997).

Die dreieckförmige Höckeranordnung auf den Mahlzähnen (Molaren) der Symmetrodonta wird als primitives therisches Merkmal gedeutet, von dem sich der sogenannte "tribosphenische" Molar (mit Talonid) der späteren Theria entwickelt habe. Zhangheotherium hat am unteren Molaren keinen Talonid (Anhang) besessen (Hu et al. 1997). Bereits im Mittleren Jura existiert mit Amphitherium aber ein Säuger, der ein Talonid besitzt (Mills 1964) und damit in der Molarenmorphologie entwickelter war als Zhangheotherium. Der Molar von Henkelotherium mit einem Talonid läßt sich aber auch nicht vom Amphitherium-Molar plausibel ableiten (Krebs 1991).

Zusammenfassend ist festzustellen, daß Zhangheotherium quinquecuspidens völlig neue Einblicke in die Anatomie des Schädels und der postcranialen Knochen der Symmetrodonten gibt. Die Abstammungsverhältnisse dieser ausgestorbenen frühen Säugetiere und damit der Theriaursprung bleiben aber auch mit dieser neu entdeckten Form unklar.


Literatur

  • Archer M, Flannery TF, Ritchie A & Molnar RE (1985) First Mesozoic mammal from Australia - an early Cretaceous monotreme. Nature 318, 363-366.
  • Clemens WA & Kielan-Jaworowska Z (1979) Multituberculata. In: Lillegraven J, Kielan-Jaworowska Z & Clemens WA (eds) Mesozoic mammals. Berkeley, pp 99-149.
  • Hu Y, Wang Y, Luo Z & Li C (1997) A new symmetrodont mammal from China and its implications for mammalian evolution. Nature 390, 137-142.
  • Krebs B (1991) Das Skelett von Henkelotherium guimarotae gen. et sp. nov. (Eupantotheria, Mammalia) aus dem Oberen Jura von Portugal. Berliner Geowiss. Abhandl. 133A, 1-109.
  • Mills JRE (1964) The dentitions of Peramus and Amphitherium. Proc. Linnean Soc. London 175, 117-133.
  • Rich TH, Vickers-Rich P, Constantine A, Flannery TF, Kool L & van Klaveren N (1997) A tribosphenic mammal from Mesozoic of Australia. Science 278, 1438-1442.
  • Wuethrich B (1997) Will fossil from down under upend mammal evolution? Science 278, 1401-1402.


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