Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 23. Jg. Heft 1 - Mai 2016
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Intrinsisch unstrukturierte Proteine

von Boris Schmidtgall

Studium Integrale Journal
25. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2018
Seite 84 - 91


Zusammenfassung: Fast ein halbes Jahrhundert lang galten Proteine als biologische Makromoleküle mit stabiler 3D-Struktur und eindeutig definierter biochemischer Funktion. Die Entdeckung der intrinsisch unstrukturierten Proteine (IUP) brachte dieses Paradigma zu Fall und förderte ein neues Forschungsgebiet zutage. Darüber hinaus hat die Entdeckung dieser Proteine auch Konsequenzen für die Evolutionstheorie. Die komplexe Bauweise vieler Proteine, die intrinsisch unstrukturierte Regionen (IUR) enthalten, die ungewöhnlich hohe Informationsdichte von IUP und auffällige Unterschiede in der Ausstattung der Lebewesen mit IUP stellen äußerst sperrige Befunde für den Darwin’schen Mechanismus dar. Handelt es sich bei dieser überaus wichtigen Entdeckung um ein weiteres Schöpfungsindiz?




IUP – sensationell späte Entdeckung von großer Bedeutung

Für ein gründliches Verständnis des Phänomens Leben ist die Kenntnis von Vorgängen auf molekularer Ebene unverzichtbar. Dabei kommt Proteinen (neben Nukleinsäuren) eine Schlüsselrolle zu, da sie an praktisch allen physiologischen Prozessen beteiligt sind bzw. diese steuern. Das Prinzip der Wirkungsweise von Proteinen beruht auf deren Wechselwirkungen mit anderen Biomolekülen, wodurch u. a. chemische Reaktionen katalysiert* werden, Signalübertragung stattfindet oder fehlgefaltete Moleküle wiederhergestellt (in ihre funktionale Form gebracht) werden. Es ist daher nicht überraschend, dass Proteine bereits vor über 100 Jahren Gegenstand umfangreicher wissenschaftlicher Studien waren. Schon 1894 veranschaulichte der Zuckerchemiker Emil Fischer die Wechselwirkung zwischen Zuckermolekülen und Enzymen anhand der „Schlüssel-Schloss“-Analogie – ein einprägsames Modell, das für viele Generationen von Forschern richtungsweisend war. Demnach können Enzyme nur dann eine chemische Reaktion auslösen, wenn die Geometrie des Substrats* genau zu derjenigen des Enzyms passt – wie bei einem Schloss, welches sich nur durch den genau passenden Schlüssel öffnen lässt (Abb. 1).

Abb. 1: Bändermodell eines Tryptophan-Repressors aus E. coli.

Über die genaue Beschaffenheit der dreidimensionalen Struktur der Proteine war damals allerdings nichts bekannt. Es wurde jedoch allgemein angenommen, dass Proteine flexible Makromoleküle seien. Dies änderte sich in den 1950er-Jahren, als die Röntgenstrukturanalyse zu einer bewährten Methode der 3D-Strukturbestimmung von Molekülen wurde. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass Proteine eine kompakt gefaltete und stabile 3D-Struktur aufweisen mit unterschiedlichen Strukturelementen wie a-Helix oder b-Faltblatt (Abb. 1). Daher war seit den 1960er-Jahren die Ansicht vorherrschend, dass eine stabile dreidimensionale Struktur eine notwendige Voraussetzung für die Funktion eines Proteins darstellt. Später wurde diese Auffassung als „Struktur-Funktions-Paradigma“ von Anfinsen (1973) formuliert. Anfinsen hatte am Beispiel einer Ribonuklease* experimentell nachgewiesen, dass Proteine sich von selbst aus einer denaturierten, funktionslosen Form in die ursprüngliche funktionale Form zurückfalten (Abb. 1). Genau genommen besagt das Struktur-Funktions-Paradigma, dass die Aminosäuresequenz eines jeden Proteins dessen 3D-Struktur festlege und diese wiederum die Funktion des Proteins bestimme:

1 Sequenz -> 1 3D-Struktur -> 1 Funktion

Diese Auffassung hielt sich bis Ende der 1990er-Jahre, als vermehrt Proteine nachgewiesen wurden, die sich nicht entsprechend dem Struktur-Funktions-Paradigma verhielten. Diese Proteine waren zwar hochgradig funktional, besaßen aber dennoch keine stabile 3D-Struktur. Dies bedeutet, dass die Position von Untereinheiten der Proteine ständig wechselt. Sie wurden deshalb von einem ihrer Entdecker als intrinsisch unstrukturierte Proteine (IUP) bezeichnet (Dunker 1997). Die Tragweite dieses Befunds kommentierten P. Wright und H. J. Dyson (1999) mit den Worten: „Es wird deutlich, dass die Annahme, eine gefaltete 3D-Struktur sei für die Funktion eines Proteins unabdingbar, neu bewertet werden muss.“

Diese Entdeckung löste eine Lawine an Publikationen auf dem Gebiet der Protein-Biochemie aus. Dabei wurden den IUP immer wieder unterschiedliche Bezeichnungen verliehen, die im Hinblick auf ihre Eigenschaften aufschlussreich sind. So wurden IUP als „schlaff“, „flexibel“ oder „dehnbar“ bezeichnet, um die Plastizität ihrer 3D-Struktur zum Ausdruck zu bringen (Abb. 2). IUP wurden mit dem Attribut „verletzlich“ versehen, da sie gegenüber dem Abbau durch Proteasen* in der Zelle wesentlich empfindlicher sind als Proteine mit stabiler 3D-Struktur. Weitere originelle Beschreibungen wie „tanzende Proteine“, „4D-Proteine“ (die Zeit als vierte Dimension) oder „Proteinwolken“ verdeutlichen die schnelle Fluktuation ihrer Sekundär- und Tertiärstrukturen (Uversky 2011). Und da sie aufgrund dieser Fluktuationen auf Röntgenstrukturaufnahmen unsichtbar sind, wurde auch von „unbeobachteten“ oder „dunklen“ Proteinen gesprochen.

Abb. 2: A Veranschaulichung des Schlüssel-Schloss-Prinzips anhand einer enzymkatalysierten Reaktion. Die Moleküle A und B werden in das aktive Zentrum aufgenommen und dort zur Reaktion gebracht, sodass Produkt C entsteht. Nach Freisetzung des Produkts kann ein neuer Katalysezyklus beginnen. Das Molekül X bleibt unverändert, da es von seiner Geometrie her nicht ins Aktive Zentrum passt. B Das bakterielle Redox-Enzym Thioredoxin ist ein typischer Vertreter der klassischen Proteine mit fester 3D-Struktur. Die rot gefärbten Bereiche repräsentieren a-Helices, während die blauen Bereiche b-Faltblätter darstellen. C Schematische Darstellung des Experiments von Anfinsen. Zu Beginn liegt die Ribonuklease in der funktionalen, gefalteten Form vor, die durch Reduktion (Spalten der S-S-Brücken durch Elektronenübertragungsreaktionen) und hohe Harnstoff-Konzentration in eine ungefaltete, funktionslose Form überführt wird. Anschließend werden Bedingungen (z. B. pH, Salzgehalt der Lösung) eingestellt, unter denen das Molekül sich wieder zurückfalten kann. Durch Oxidation kann das Molekül wieder in die ursprüngliche, funktionale Form zurückgeführt werden.

Ungeachtet ihrer späten Entdeckung handelt es sich bei IUP nicht um eine Randerscheinung, sondern um Makromoleküle mit zentralen Funktionen in der Zelle (s. u.). Zudem wird der Anteil der IUP am Proteom* von Eukaryoten auf etwa 30 % geschätzt (Liu et al. 2009). Dabei können Proteine entweder komplett unstrukturiert sein oder neben geordneten Domänen intrinsisch unstrukturierte Regionen (IUR) enthalten.

Wie kann es sein, dass ungefähr ein Drittel des Proteoms von Eukaryoten bis Ende der 1990er-Jahre übersehen wurde? Es liegt hauptsächlich daran, dass biochemische Methoden zur Isolation und Charakterisierung von Proteinen zur Entdeckung der IUP ungeeignet waren. Üblicherweise wurden Proteine durch Zellaufschluss* und verschiedene Fällungsmethoden* gewonnen. Bei diesen Operationen wird die natürliche Struktur der Zelle zerstört und es resultiert eine homogene Mischung der Zellbestandteile. Dabei werden die häufig vorkommenden Proteasen unkontrolliert freigesetzt. IUP werden von Proteasen sehr viel schneller abgebaut als strukturierte Proteine. Zudem liegen unstrukturierte Proteine aufgrund ihrer Anfälligkeit für Aggregation1* häufig in sehr niedrigen Konzentrationen in der Zelle vor. Diese Umstände verhinderten über einen langen Zeitraum die Entdeckung von IUP. Stattdessen wurden unter Verwendung der üblichen biochemischen Methoden selektiv strukturierte Proteine isoliert. Erst als zunehmend mit Hilfe gezielter Expression* bestimmter Gene Proteine hergestellt wurden, stieß man auf IUP.

Vor ungefähr 20 Jahren sind neuartige Proteine entdeckt worden, die sich von den bisher bekannten Proteinen dadurch unterscheiden, dass sie keine stabile 3D-Struktur aufweisen, sondern schnell zwischen verschiedenen Strukturen fluktuieren. Diese Proteine wurden von Dunker, einem der Entdecker dieses Phänomens, als „intrinsisch unstrukturierte Proteine“ (IUP) bezeichnet. Aufgrund dieser Entdeckung wurde der bis dahin allgemein akzeptierte Leitgedanke relativiert, dass eine stabile 3D-Struktur für die Funktion eines Proteins unverzichtbar ist. Denn ungeachtet der fehlenden Festlegung auf eine 3D-Struktur sind IUP häufig sogar multifunktional. Sie erfüllen in Organismen Funktionen, die die Funktionen rigider Proteine ergänzen. Häufig sind IUP an Vorgängen wie Signalübertragung, dem Zusammenbau und der Faltung von Proteinen (Chaperone) oder der Steuerung der Transkription (Transkriptionsfaktoren) beteiligt. Der Grund für die späte Entdeckung dieser Proteine war die mangelnde Eignung traditioneller biochemischer Methoden zur Isolierung und Charakterisierung von IUP. So konnten IUP erst mit dem Aufkommen der genetischen Methoden Ende der 1990er-Jahre entdeckt werden. Ungeachtet ihrer späten Entdeckung handelt es sich bei dieser Proteinklasse nicht um eine marginale Erscheinung. Bei Eukaryoten sind sogar laut zuverlässigen Abschätzungen ca. 30 % des Proteoms intrinsisch unstrukturiert.

Diese Entdeckung hat aber nicht nur zu einer Neubewertung eines zentralen Paradigmas der Biochemie geführt, sondern stellt das bisher gängige Erklärungsschema der Proteinevolution auf den Prüfstand. Es bedarf einer Erklärung für die Entwicklung hochspezifisch aufgebauter modularer Proteine mit langen unstrukturierten Sequenzen und kurzen Einheiten mit stabiler Faltung. Ebenso ist die z. T. deutlich höhere Informationsdichte (mehrere überlappende Funktionen in einer Sequenz) in multifunktionalen IUP aus Sicht der Evolutionstheorie schwer zu plausibilisieren. Schließlich deuten Abschätzungen darauf hin, dass die Zusammensetzung der Proteome der verschiedenen Domänen des Lebens sehr verschieden sind (Eukaryoten: 30 % IUP, Bakterien: 2-4 % IUP). Diese Diskontinuität der Proteinausstattung passt nicht zu einer Höherentwicklung, die in unmerklich kleinen Schritten zustande gekommen sein soll. Zudem deuten Sequenzvergleiche von IUP darauf hin, dass sie trotz erhöhter Aminosäure-Austauschraten (Mutationen) sich bezüglich ihrer Funktion kaum ändern.

Aus Sicht der Schöpfungslehre sind die Befunde dagegen besser einzuordnen. Die erhöhte Informationsdichte, die in multifunktionalen IUP realisiert ist, ermöglicht eine im Hinblick auf Kompaktheit und Materialeffizienz optimierte Zelle – ein deutliches Schöpfungsindiz. Schließlich lassen sich hochgradig artspezifische IUP-Anteile an den jeweiligen Proteomen der Spezies (wie sie für einige Archaea-Arten gefunden worden sind) ebenfalls besser aus der Perspektive der Schöpfungslehre verstehen.

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Funktionen von IUP
Abb. 3: Schematische Darstellung der schnell wechselnden 3D-Strukturen eines IUP.

IUP unterscheiden sich aber nicht nur im Hinblick auf ihre Beschaffenheit von klassischen strukturierten Proteinen, sondern auch bezüglich ihrer typischen Funktionen in der Zelle. Während strukturierte Proteine hauptsächlich als Enzyme (Katalyse chemischer Reaktionen), Rezeptoren (Wahrnehmung) sowie Transport- und Transmembranproteine fungieren, sind IUP vorwiegend für ergänzende Aufgaben verantwortlich, wie im Folgenden ausgeführt wird (Tab. 1). Durch ihre Flexibilität vermögen IUP viele unterschiedliche 3D-Formen anzunehmen, weshalb sie mit vielen, überaus verschiedenen Biomolekülen spezifisch wechselwirken können. Die Plastizität der IUP ist unverzichtbar für die molekulare Erkennung. Aus diesem Grund sind Proteine, die die Transkription* auslösen oder steuern (Transkriptionsfaktoren), häufig sehr „weich“2. Ein in der aktuellen Literatur häufig behandeltes Beispiel sind die Proteindomänen NCBD (nuclear coactivator binding domain) und ACTR (activator for thyroid and retinoid receptors), die miteinander und mit anderen Proteinen interagieren. Die kleine NCBD-Domäne (etwa 50 Aminosäuren lang) ist u. a. verantwortlich für das Auslösen der unspezifischen Immunantwort, der Proliferation* und der Differenzierung. Bei seiner Interaktion mit ACTR bildet NCBD eine annähernd tetraedrische Form, während es sich zu einem planaren Dreieck formt, wenn es zum Kontakt mit dem Protein IRF-3 kommt (Abb. 3) (Wright & Dyson 2009).

Die Flexibilität der IUP ermöglicht es ihnen auch, als Chaperone zu fungieren. Chaperone sind Proteine, die die richtige Faltung anderer biologischer Makromoleküle (Proteine, RNA) katalysieren oder fehlerhaft gefaltete Moleküle in die richtige Form bringen. Dies ist notwendig, da viele biologische Makromoleküle nicht von sich aus dazu in der Lage sind, die korrekte 3D-Form (Faltung) anzunehmen. Die Katalyse der Faltung oder Faltungskorrektur verläuft über den sogenannten Entropie-Transfer-Mechanismus (Abb. 3) (Tompa & Csermely 2004): Vor der Interaktion liegt das Chaperon (IUP) ungefaltet vor – ein Zustand hoher Entropie*. Dagegen liegt beim fehlerhaft gefalteten Makromolekül ein Zustand geringer Entropie vor. Bei der Interaktion der beiden Moleküle kommt es zu einem Faltungsvorgang des Chaperons und zugleich einer Entfaltung des zu korrigierenden Moleküls. Im Fall des Chaperons sinkt die Entropie, während sie beim anderen Molekül steigt – ein Vorgang, der als „Entropietransfer“ bezeichnet wird. Anschließend löst sich das Chaperon von dem Makromolekül, welches sich dann in die korrekte Form falten kann.Abgesehen von anspruchsvollen Funktionen wie im Fall der Chaperone sind auch recht simple Beispiele bekannt: In vielen großen Proteinen kommen lange, unstrukturierte Regionen vor, die schlicht flexible Verknüpfungen zwischen funktionalen, strukturierten Domänen darstellen. Dieser „modulare“ Aufbau (kleine, strukturierte, funktionale Einheiten; lange, flexible Verknüpfungen) ermöglicht es Proteinen, komplexe molekulare Einheiten wie z. B. das Chromatin* „abzutasten“ und die genau richtige Stelle für die Interaktion aufzufinden (Abb. 3).

Viele Entdeckungen in diesem Forschungsbereich sind allerdings noch unverstanden. Dazu gehören die rätselhaften membranlosen Organellen, die offenbar unverzichtbar für zahlreiche physiologische Vorgänge sind (z. B. die Proteinbiosynthese) und ausschließlich aus IUP bestehen (Uversky 2017). Schließlich wurden auch faszinierende Entdeckungen gemacht, wo IUP nicht im Zusammenhang mit typischen biochemischen Funktionen stehen. Eine sehr eigenartige Aufgabe übernehmen IUP in den mikroskopisch kleinen Bärtierchen. Diese Lebewesen können selbst lange Dürreperioden mit einer Dauer von über zehn Jahren überstehen – dank glasartiger Strukturen, die aus IUP gebildet werden und den Austritt von Wasser verhindern (Knapp 2017). Wie bereits erwähnt, sind IUP aufgrund ihrer späten Entdeckung ein noch relativ wenig erforschtes Phänomen. Es ist also damit zu rechnen, dass auch künftig weitere unerwartete und wichtige Befunde im Zusammenhang mit den flexiblen Proteinen gemacht werden.

Tab. 1: Zusammensetzung und Eigenschaften von IUP und strukturierten Proteinen im Vergleich.
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Fragestellungen in Bezug auf die Evolutionstheorie

Die überaus wichtige Entdeckung der IUP und ihrer Funktionen hat aber nicht nur weitreichende Auswirkungen auf unser Verständnis rein funktionaler biochemischer Aspekte. Sie stellt auch, wie im Folgenden gezeigt wird, neue Fragen an die Darwin’sche Evolutionstheorie (bzw. neodarwinistische Varianten).

Abb. 4: A In Kristallstrukturen beobachtete, unterschiedliche geometrische Formen der Proteindomäne NCBD. Bei der Interaktion mit ACTR nimmt NCBD eine nahezu tetraedrische Form an (A), während es bei Kontakt mit IRF-3 eine planar-dreieckige Form annimmt (B). Aus Wright & Dyson 2009. B Schematische Darstellung der Wirkungsweise eines Chaperons durch den Entropie-Transfer-Mechanismus. Bei der Interaktion mit dem fehlerhaft gefalteten Molekül (blau) nimmt das IUP eine lokale Sekundärstruktur (grün) an (1), während ein anderer Teil (2) zunächst ungefaltet vorliegt. Im nächsten Schritt interagiert der andere Teil des IUP mit dem fehlerhaft gefalteten Bereich des anderen Biomoleküls, dadurch nimmt das IUP auch hier eine definierte Sekundärstruktur an (3 und 4). Gleichzeitig wird das andere Molekül entfaltet (Entropie-Transfer). Schließlich trennen sich beide Moleküle und es kann ein neuer Reparatur-Zyklus beginnen. (Aus Tompa & Csermely 2004) C Schematische Darstellung eines modular aufgebauten Proteins. Die unstrukturierten Verknüpfungen sind als orange Balken dargestellt und die strukturierten Bereiche als blaue Ellipsen.

1. Evolutive Entstehung modular aufgebauter Proteine. Vor der Identifizierung von IUP galten Proteine als Makromoleküle mit einer festen 3D-Struktur. Die Existenz der oben erwähnten, modular aufgebauten Proteine (kurze strukturierte Funktionseinheiten, lange unstrukturierte Verknüpfungen) erhöht bedeutend die Anforderungen an Erklärungen eines evolutiven Zustandekommens dieser Makromoleküle. Es hat sich nämlich gezeigt, dass die 20 kanonischen Aminosäuren in zwei Typen unterteilt werden können: solche, die Strukturlosigkeit fördern, und andere, die typischerweise in geordneten Proteinen vorgefunden werden. Um modulare Proteine aufzubauen, müssten also Aminosäuren auf sehr sorgfältige Weise „sortiert“ werden (Tab. 1). Wie eine solche Sortierung durch einen zukunftsblinden, natürlichen Prozess zustande gekommen sein soll, ist völlig unklar.

2. Evolutive Entstehung multifunktionaler* Proteine. Eine weitere Fragestellung ergibt sich aus der oft vorkommenden Multifunktionalität unstrukturierter Proteine. Lange Zeit war das oben erwähnte Struktur-Funktions-Paradigma ein Leitgedanke in der Erforschung der Proteine. Dies bedeutet, dass jedem Protein nur eine einzige Funktion eigen ist, die sich aus der spezifischen Faltung des Proteins ergibt – also letztlich eine Folge der Vorgabe durch die Information auf der DNA ist. Da jedoch die Selektion ausschließlich auf der Ebene der Proteine stattfindet, ist es ohnehin schwer zu erklären, wie ein zukunftsblinder Vorgang sinnvoll koordinierte Veränderungen auf der DNA herbeiführt, sodass über mehrere Schritte ein monofunktionales Protein hervorgebracht wird. Durch die Entdeckung von IUP wird der Anspruch an die Erklärung wesentlich erhöht, denn in diesem Fall sind in einer Proteinsequenz zugleich mehrere überlappende Funktionen „gespeichert“. Das gilt folglich auch für die zugrundeliegende DNA-Sequenz. Dabei ist zu beachten, dass IUP mit mehreren, strukturell sehr unterschiedlichen Bindungspartnern (z. B. Proteinen und Nukleinsäuren) selektiv interagieren und keineswegs zufällig.

3. Große Diskrepanzen hinsichtlich des IUP-Anteils im Proteom verschiedener Spezies. Da IUP keine Randerscheinung sind, sondern in nicht wenigen Organismen über 30 % des Proteoms ausmachen, wurden Algorithmen erstellt, um vorhersagen zu können, ob eine gegebene Aminosäuresequenz strukturiert oder unstrukturiert ist. Diese Algorithmen werden im Allgemeinen als sehr zuverlässig eingeschätzt. Überraschenderweise ergaben sich große Unterschiede hinsichtlich des Anteils der IUP am jeweiligen Proteom zwischen den verschiedenen Domänen des Lebens (Eukaryoten, Prokaryoten, Archaebakterien). Besonders auffällig ist der markante Unterschied zwischen höheren Organismen (30 % IUP) und Bakterien (2-4 % IUP). Andererseits gibt es auch einige Organismen (z. B. Halobakterien: 34 % IUP), die für ihre Domäne einen ungewöhnlich hohen Anteil an IUP im Proteom aufweisen (Van der Lee et al. 2014). Auch diese Befunde stellen eine immense Herausforderung für evolutionstheoretische Erklärungen dar, da eine kontinuierliche, in sehr kleinen Schritten erfolgende Höherentwicklung derart ausgeprägte Diskontinuitäten in der Proteinausstattung der verschiedenen Domänen des Lebens nicht erwarten ließe.

Können für das Phänomen IUP und die daraus resultierenden Fragen plausible Erklärungen im Sinne der Darwin‘schen Theorie gegeben werden? Dabei ist zu berücksichtigen, dass solche Erklärungen nur auf natürliche Gesetzmäßigkeiten, d. h. Zufall und Randbedingungen, nicht aber auf Planung und Zielsetzung in irgendeiner Form Bezug nehmen dürfen.

Aggregation: Unlösliches Haften von Proteinen aneinander oder an anderen Biomolekülen. Chaperone: Proteine, die die korrekte Faltung anderer Proteine oder RNA-Moleküle katalysieren oder fehlerhaft gefaltete Biomoleküle „reparieren“. Chromatin: Das Material, aus dem Chromosomen bestehen. Es handelt sich dabei um DNA, die auf komplexe Weise um verschiedene Proteine gewunden ist. Entropie: In der Thermodynamik bezeichnet dieser Begriff das Maß an Unordnung eines Systems. Übertragen auf Biomoleküle kann gesagt werden, dass gefaltete Moleküle eine geringere Unordnung aufweisen als ungefaltete. Fällungsmethoden: Generell werden in der Chemie bestimmte Moleküle aus einer Lösung isoliert, indem sie durch das Einstellen bestimmter Bedingungen unlöslich gemacht werden und sich am Gefäßboden absetzen. Bei Proteinen werden üblicherweise der Lösung Salze (z. B. Ammoniumsulfat) abgestuft hinzugesetzt, sodass verschiedene Fraktionen von Proteinen sich am Gefäßboden absetzen. Katalyse: Beschleunigung chemischer Reaktionen. multifunktional: Mehrere unterschied­liche Funktionen ausübend. Proliferation: Allgemeiner Begriff für das Wachstum von Gewebe oder Zellen. Proteasen: Enzyme, die Proteine in kleinere Fragmente spalten. Die Spaltung erfolgt an der Peptidbindung durch das Einlagern eines Wassermoleküls (Hydrolyse). Proteom: Gesamtheit aller Proteine einer Spezies. Ribonuklease: Enzym, das die Spaltung von RNA-Molekülen katalysiert. Substrat: Allgemeiner Begriff für ein Molekül, das mit einem Protein interagiert bzw. von einem Enzym zur Reaktion gebracht wird. Transkription: Übersetzung der DNA in messenger-RNA (mRNA), der erste Schritt bei der Bildung von Proteinen in den Zellen. Zellaufschluss: Durch bestimmte Chemikalien hervorgerufene Zerstörung der Membran (Außenwand) einer Zelle.

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Erklärungsversuche für IUP im Rahmen der Evolutionslehre

Bevor potenzielle evolutionstheoretische Erklärungen für IUP angeführt werden, seien einige generelle Aspekte in Bezug auf das Variationspotential der Proteinstruktur erwähnt. Abgesehen von der völlig ungelösten Frage nach der evolutiven Entstehung einfacher funktionaler Proteine sind für die Entwicklung neuer biochemischer Funktionen (Makroevolution) häufig umfangreiche Veränderungen der Proteinstruktur nötig. Im Sinne einer evolutionstheoretischen Erklärung wäre eine Höherentwicklung primitiver kleiner Proteine hin zu größeren komplexeren Proteinen durch viele kleine Veränderungen (Mutationen) denkbar. Allerdings dürfte der Spielraum für solche Veränderungen generell nicht besonders groß sein. Nahezu alle bekannten Proteine, ob groß oder klein, sind für ihre biochemische Funktion optimal beschaffen und reagieren oft schon auf kleine Veränderungen wie Punktmutationen* sehr empfindlich. Proteine interagieren mit anderen biologischen Makromolekülen über bestimmte Oberflächen, die aus hydrophilen (wasserliebenden), hydrophoben (wasserabweisenden) und geladenen Aminosäuren (negativ oder positiv) zusammengesetzt sind. Dabei müssen die Oberflächen eine ausgewogene Mischung der Aminosäuren aufweisen, damit die Balance zwischen Aggregation (unlösliches Haften) und zu schwachem Kontakt gehalten werden kann. Überdies würden zu starke Wechselwirkungen selektive Kontakte unmöglich machen, während zu schwache Wechselwirkungen ungenügend sind für einen signifikanten biologischen Effekt (z. B. Signalübertragung). Brauchbare Erklärungen für die Entwicklung von neuen Proteinfunktionen müssen diese Einschränkungen berücksichtigen. Welche Hypothesen wurden für die Makroevolution von hypothetischen Vorläufern von Proteinen hin zu IUP vorgeschlagen?

Das Zustandekommen neuer Merkmale und Funktionen bei Lebewesen, sei es auf biochemischer oder auf biologischer Ebene, wird im Rahmen der Evolutionstheorie durch Extrapolation mikroevolutiver Mechanismen auf hypothetische makroevolutive Vorgänge erklärt. Insbesondere Mutationen kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Dieser Ansatz wird auch für die evolutive Herkunft von IUP herangezogen. Da IUP sich in ihrer Struktur und den biochemischen Eigenschaften deutlich von strukturierten Proteinen unterscheiden, wird angenommen, dass auch die evolutiven Mechanismen, die zu ihrer Entstehung geführt haben sollen, verschieden sein müssten. Tompa (2003) formulierte diese Problemstellung nicht lange nach der Entdeckung der IUP wie folgt: „Da die Evolution globulärer Proteine und IUP verschiedene Strategien der Evolution repräsentieren, wirft dieser Anstieg5 die Frage auf, wie das neue genetische Material, das für IUP codiert, erzeugt wird.“ Ungeachtet des damals noch sehr wenig fortgeschrittenen Forschungsstadiums und der äußerst dünnen Datenmenge stellt der Autor voreilig in derselben Publikation schon eine Hypothese zur Beantwortung dieser Frage auf: „Insgesamt ist es die wesentliche Aussage dieser Publikation, dass die Labilität repetitiver genetischer Regionen in Kombination mit der Toleranz von Proteinen gegenüber strukturellen und funktionalen Modifikationen die Ausweitung und funktionale Ausdehnung ermöglicht haben.“ Demnach werden also IUP von besonders labilen genetischen Sequenzen codiert und sind hinsichtlich ihrer Struktur und Funktion generell weniger beständig als strukturierte Proteine.

Nur wenige Jahre später sollte sich zeigen, dass Tompas Hypothese nicht haltbar ist. Es wurde zwar bestätigt, dass die mutationsbedingten Austauschraten der Aminosäuren bei IUP bzw. IUR bedeutend höher sind als im Fall strukturierter Proteine (Brown et al. 2010). Aber mit zunehmender Datenmenge wurde der überraschende Befund gemacht, dass diese Fluktuation der Aminosäure-Sequenz kaum zu einer Änderung der biochemischen Eigenschaften bzw. der Funktion von IUP führt. Dies ging aus mehreren vergleichenden Analysen von IUP/IUR-Sequenzen hervor (Datenbankanalyse). Die Befunde wurden von Brown et al. (2010) wie folgt kommentiert: „Verschiedene Studien individueller Proteinfamilien haben erwiesen, dass die Funktion dieser unstrukturierten Regionen ungeachtet der schnellen Evolution erhalten bleibt.“ Ebenso schreiben die Autoren dieser Studie, dass bei Substitutionen Ordnung vermittelnde Aminosäuren bevorzugt durch ihresgleichen ersetzt würden und Aminosäuren, die Strukturlosigkeit vermitteln, ebenfalls bevorzugt durch ihresgleichen ersetzt würden. Diese Beobachtungen werden ferner gestützt von Dyson und Wright (2005): „Ein charakteristisches Merkmal dieser [flexiblen] Linker4 ist es, dass sie über verschiedene Arten hinsichtlich der Aminosäurezusammensetzung hochgradig konserviert sind, aber nicht bezüglich der Sequenz.“ Dies bedeutet, dass der prozentuale Anteil bestimmter Typen von Aminosäuren (polar, wasserabweisend, geladen) unverändert bleibt, auch wenn sich die Reihenfolge der Aminosäuren in der Sequenz ändert. Nach den Aussagen von Brown et. al (2010) sowie Dyson & Wright (2005) ändert sich überraschenderweise auch nichts an den biochemischen Eigenschaften und der Funktion der IUP – im Gegensatz zu strukturierten Proteinen, bei denen schon geringe Sequenzänderungen massive Unterschiede hinsichtlich der physikochemischen Eigenschaften bewirken können. Die trotz häufiger Mutationen gegebene Beständigkeit der Funktionen von IUP stellt eine erhebliche Barriere für die Makroevolution von IUP dar. Eine plausible Hypothese für den Verlauf der Entwicklung von primitiven Urproteinen hin zu modular und somit hochgradig spezifisch aufgebauten Proteinen erscheint nach derzeitigem Kenntnisstand unerreichbar. Vielmehr bestätigen die Befunde die Existenz der oben beschriebenen engen Grenzen für das Veränderungspotenzial von Proteinen.

Wenn die Veränderung der simplen Linker-Funktion selbst bei schnellerer Evolution kaum zu beobachten ist, dürfte dies bei multifunktionalen IUP generell noch schwieriger zu realisieren sein. Es besteht nämlich ein prinzipieller Unterschied zwischen multifunktionalen Proteinen, die eine feste 3D-Struktur aufweisen, und multifunktionalen IUP: Bei geordneten Proteinen sind unterschiedliche Funktionen an verschiedenen Sequenzabschnitten realisiert, während bei IUP ein und derselbe Abschnitt verschiedene Funktionen beinhaltet. Bei IUP ist also eine deutlich höhere Informations- bzw. Funktionsdichte in einem Abschnitt gegeben. Mutationen würden somit zugleich mehrere Funktionen betreffen. Daher ist in der Literatur auch hier die Rede davon, dass die Evolution „verschiedene Strategien“ befolgt haben müsse, um zu diesen verschiedenen Typen von Proteinen zu gelangen.

Ein Beispiel hierfür ist eine weitere Hypothese von Tompa (2005) in Bezug auf den Ursprung der Multifunktionalität bei IUP: „Im Hinblick auf Evolution wurde angenommen, dass multifunktionale Proteine ursprünglich nur eine Funktion hatten und dann für weitere rekrutiert wurden, da sie über große ungebrauchte und evolutionär uneingeschränkte Domänen verfügten. IUP müssen einen anderen Weg verfolgt haben. Diese Proteine weisen überlappende oder gar identische Interaktionsoberflächen auf. Daher ist es eher wahrscheinlich, dass ihre Funktionen co-evolviert sind, wobei keine der anderen voraus war.“ Diese Behauptung wird von Tompa allerdings nicht weiter begründet und ist derzeit wegen der immensen Komplexität der Fragestellung möglicherweise gar nicht prüfbar. Wie ein solcher Vorgang konkret durch natürliche Vorgänge abgelaufen sein soll, bleibt daher unklar. Seine Aussage wirkt eher wie ein Ausweichen und nicht wie eine Erklärung.

In einem anderen Artikel gibt derselbe Autor indirekt zu, dass ein evolutiver Weg hin zu multifunktionalen IUP (mit überlappenden Funktionen) eine sehr anspruchsvolle Angelegenheit ist: „Die Funktion von Chaperonen ist strukturell und mechanistisch eher anspruchsvoll, da Chaperone5 den Faltungsvorgang einer großen Vielzahl an sehr unterschiedlichen RNA/Protein-Molekülen in einem sehr dichten zellulären Milieu unterstützen müssen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass diese hochgradig ausgeklügelten Proteinmaschinen eine entscheidende frühe Erfindung der Evolution darstellen.“ In diesem Fall umgeht der Autor die erforderliche evolutive Erklärung mit der unbegründeten Annahme, die IUP (hier: Chaperone) seien einfach früh entstanden. Dabei ist diese ad-hoc-Hypothese in keiner Weise plausibel, da normalerweise davon ausgegangen wird, dass große Komplexität das Resultat langer evolutiver Vorgänge ist. Zudem charakterisieren Ausdrücke wie „hochgradig ausgeklügelte Proteinmaschinen“ und „Erfindung“ keinesfalls einen ungerichteten, evolutiven Vorgang, sondern vielmehr das Werk eines intelligenten Urhebers.

Ein sprunghafter IUP-Anstieg setzt überaus komplexe Proteinnetzwerke voraus. Dies ist für die Evolutionstheorie ein sehr sperriger Befund.

Wenn das Vorhandensein der IUP bereits ein weiteres Rätsel für die Evolutionstheorie ist, dürfte es umso schwieriger sein, für die überaus unterschiedlichen Zusammensetzungen der Proteome der drei Domänen des Lebens (s. o.) eine Erklärung zu finden. Da es keinen kontinuierlichen Übergang bezüglich des prozentualen Anteils von IUP zwischen den Domänen des Lebens gibt, muss die Sprunghaftigkeit des Übergangs plausibel gemacht werden. Ein Sachverhalt, der das Problem verschärft, ist die große Empfindlichkeit vieler IUP gegenüber Aggregation und Mutationen. Fehlfunktionen von IUP sind die Ursache einer Vielzahl an Erkrankungen bei Menschen, die mit der Aggregation dieser Proteine im Zusammenhang stehen (u. a. Krebs, Herz- und Blutgefäß-Erkrankungen, Diabetes und neurodegenerative Krankheiten wie Parkinson oder Alzheimer, Uversky 2008). Wright und Dyson (2015) fassen diese Problematik wie folgt zusammen: „Die Konzentration von IUP in Zellen ist sehr eng kontrolliert, um eine exakte Signalübertragung in Zeit und Raum zu gewährleisten. Und Mutationen in IUP sowie Veränderungen ihrer Konzentration ziehen häufig Krankheiten nach sich.“ IUP sind also auf ein gut ausgebautes Netzwerk an Proteinen angewiesen. Ein sprunghafter Anstieg des IUP-Anteils im Proteom muss daher auch mit einem sprunghaften Anstieg der gesamten Komplexität der regulatorischen Proteinnetzwerke einhergehen. Dies ist für die evolutionstheoretischen Modelle, die nur unmerklich kleine Schritte der Höherentwicklung zulassen, ein weiterer überaus sperriger Befund.

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Erklärungsversuche für IUP im Rahmen der Evolutionslehre

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das spät entdeckte und überaus wichtige Phänomen IUP ein weiteres schwerwiegendes Problem für evolutionstheoretische Modellierungen darstellt. Auch wenn dieses Forschungsgebiet der Biochemie noch relativ jung ist und weitere interessante Details künftig hinzukommen mögen, werden die hier diskutierten evolutionstheoretischen Probleme vermutlich noch verschärft. Es deutet nämlich einiges darauf hin, dass IUP eine optimale Funktionsweise der Zelle ermöglichen. Wright und Dyson (2005) beziehen sich darauf in einer Betrachtung der Multifunktionalität dieser Proteine: „In der Tat wurde neulich darauf hingewiesen, dass ohne gekoppeltes Binden und Falten intrinsisch unstrukturierter Domänen die Proteine etwa die 2-3-fache Größe haben müssten, um solch ausgedehnte Bindungsflächen zu bilden. Dies würde entweder zu einer noch dichter gepackten Zelle oder zu größeren Zellen führen.“ Dieser Aussage ist zu entnehmen, dass die IUP ein weiterer Beleg für die optimale Kompaktheit und Materialeffizienz der Zelle sind – ein deutliches Schöpfungsindiz.

IUP sind ein weiterer Beleg für die Optimalität und Effizienz der Zelle – ein deutliches Schöpfungsindiz.

Im Hinblick auf Mutationen (den „Motor“ der Evolution) gibt es Hinweise, dass die Mutationsraten von IUP von ihrer Funktion abhängig sind und nicht ungeregelt verlaufen (Colak et al 2013). Zudem sind Mutationen sogar laut Van der Lee (2014) zum Erhalt der Konkurrenzfähigkeit des Immunsystems nützlich: „In diesem Sinne ermöglicht die evolutionäre Flexibilität unstrukturierter Regionen Proteinen des Immunsystems des Wirts mit schnell variierenden Viren zu konkurrieren und dabei ihre Funktion aufrechtzuerhalten.“ Dies klingt allerdings eher nach Fitnesserhalt als nach Höherentwicklung. Schließlich konnten erste Belege dafür gefunden werden, dass der IUP-Gehalt der Proteome von Archaea-Arten hochgradig artspezifisch ist (Van der Lee et al. 2014). Ein hohes Maß an Optimalität, Mutationen als fitnesserhaltender Faktor und artspezifische Merkmale sind allerdings gute Indizien für Schöpfung. Es wird also einmal mehr deutlich, dass die Untersuchung der Zelle, die lange Zeit eine „Black Box“ war (Behe 1996), für weitere Überraschungen sorgt.

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Anmerkungen

1 Die Aggregation von Proteinen ist die Ursache für die Bildung unlöslicher Niederschläge, die Zellfunktionen behindern und so gefährliche Krankheiten auslösen können.

2 Dies umschreibt ein Protein, das zu einem prozentual hohen Anteil (> 50 %) intrinsisch unstrukturierte Regionen (IUR) aufweist.

3 Gemeint ist hier der markante Unterschied hinsichtlich des IUP-Anteils am Proteom von Prokaryoten (2-4 %) und Eukaryoten (30 %).

4 Verknüpfende flexible Einheit zwischen zwei rigiden Untereinheiten in einem multifunktionalen Protein.

5 In diesem Fall sind Chaperone mit hohem Anteil an unstrukturierten Sequenzen gemeint.

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Literatur

Anfinsen CB (1973)
Principles that govern the folding of protein chains. Science 181, 223-230.
Behe M (1996)
Darwin‘s Black Box. New York.
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Studium Integrale Journal 25. Jg. Heft 2 - Oktober 2018