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Darwins „kleiner warmer Tümpel“
und die Entstehung von RNA-Molekülen

von Harald Binder

Studium Integrale Journal
25. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2018
Seite 41 - 43


Zusammenfassung: Der mutmaßliche Ursprung des Lebens ist den empirischen Methoden der Naturwissenschaften unzugänglich. Simulationsexperimente nehmen typischerweise nur extrem kleine Ausschnitte ins Visier und erscheinen bisher nicht wirklich überzeugend. Jüngst haben Wissenschaftler versucht, die Synthese erster RNA-Moleküle mit Hilfe entsprechender Algorithmen auf Rechnern zu modellieren.




Einführung

Charles Darwin skizzierte 1871 in einem Brief an einen befreundeten Botaniker, Joseph Hooker, das Bild eines kleinen warmen Tümpels („warm little pond“), um seine Gedanken über einen möglichen Ursprung von Leben darzustellen – ohne den traditionell geglaubten Schöpfer zu bemühen. Dieses Bild wird bis in die Gegenwart aufgegriffen, wenn es darum geht, irgendwelche Aspekte einer denkbaren Lebensentstehung zu veranschaulichen; auch der Begriff „Ursuppe“ gehört in diesen Zusammenhang.

Abb. 1: Grand Prismatic Spring, eine Thermalquelle im Yellowstone National Park, hier in einer Luftaufnahme, könnte als Modell für einen „kleinen warmen Tümpel“ dienen. Der größte Durchmesser beträgt hier 91 m. (Wikipedia, gemeinfrei)
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RNA-Polymere aus der Ursuppe?

Das Makromolekül RNA (Abb. 2) spielt in Zellen ganz verschiedene Rollen und erfüllt dabei unverzichtbare Aufgaben, z. B. bei der Informationsübertragung und bei Regulationsprozessen. Ein großer Teil der Wissenschaftler, die sich mit Modellen zur Entstehung des Lebens beschäftigen, spricht dieser langkettigen Nukleinsäure eine hohe Bedeutung bei der Entstehung des Lebens zu: Das Modell der RNA-Welt (auf RNA basierende Vorläufersysteme von Zellen) gilt derzeit – bei allen Problemen – als der aussichtsreichste Ansatz für eine Lebensentstehung ohne zielgerichtete Beeinflussungen irgendwelcher Art. Wie RNA in der Zelle gebildet und genutzt wird, lernen Studenten der Lebenswissenschaften heute im Grundstudium, und Chemiestudenten können im Labor die Bausteine der RNA synthetisieren. Wir wissen also, wie diese biologisch so bedeutsame Substanz hergestellt werden kann. Die Herausforderung für die Erforschung der RNA-Welt besteht darin, dass es dort keine Chemiker mit entsprechend ausgestatteten Laboren gibt. Die bisher vorgebrachten Ideen, wie RNA durch ungesteuerte Prozesse, d. h. ohne Einsatz von Know-how, entstanden sein könnte, sind durch bisher vorliegende Experimente nicht vertrauenswürdig belegt, da diese typischerweise aufgrund chemischer Erfahrung konzipiert sind und entsprechend ausgeführt werden.

Naturwissenschaftler, die Prozesse zur Entstehung des Lebens auf der Erde erforschen wollen, finden für das angenommene Ereignis in der Erdgeschichte keine Daten, die sich empirisch mit dem Ursprung des Lebens verknüpfen lassen. Sie müssen Modelle formulieren, die nicht im Widerspruch zu bekannten Befunden stehen und deren Vertrauenswürdigkeit durch Verträglichkeit mit akzeptierten Erkenntnissen aufgezeigt werden muss. Experimentell ist der mutmaßliche Vorgang nicht zugänglich, Simulationsexperimente sollten weitgehend unspezifische Ausgangssituationen aufweisen, wenige Synthesestufen enthalten und extrem hohe Ausbeuten liefern.

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Ein Computer-Modell
Abb. 2: Stilisierte Darstellung eines RNA-Moleküls mit den entsprechenden Stickstoffbasen. (wikipedia)

Pearce et al. (2017) haben den Versuch unternommen, durch numerische Modellierung, d. h. mit entsprechenden Algorithmen, auf dem Computer die Bildung erster RNA-Polymere zu simulieren. In Zusammenarbeit mit Astrophysikern (s. u.) setzten sie für ihr Modell Ausgangs- und Randbedingungen ein, die anhand von heutigen Befunden unter Zugrundelegung entsprechender Modelle bestimmt und von Fachleuten als plausibel angesehen werden. Auf der hypothetischen frühen Erde betrachten die Autoren für ihr Modell vor allem kleine wassergefüllte Tümpel (1-10 m Durchmesser und 1-10 m Tiefe). In diesen sollen die ersten Reaktionen zur Synthese von RNA-Makromolekülen bei gemäßigten Temperaturen ablaufen. Hier werden Referenzdaten aus ökologischen Studien von verschiedenen, weltweit verteilten Tümpeln mit Temperaturen von 20 °C bzw. 65 °C zugrunde gelegt. Die Wasserlöcher sollen ausgeprägte Änderungen des Wasserspiegels aufweisen – bis hin zum Austrocknen – aufgrund der als zyklisch angenommenen Abfolge von Phasen starken Niederschlags und Trockenheit. Ihre Größenbegrenzung ist durch Überlegungen zur Konzentration der im Wasser gelösten Stoffe begründet, denn bei großem Wasservolumen ist die Konzentration der relevanten Chemikalien so gering, dass keine Synthesereaktionen zu erwarten sind. Aus diesem Grund sprechen die Autoren hydrothermalen Tiefseequellen in einem Ur-Ozean keine Bedeutung zu (Konzentrationsproblem).

Die bisher vorgebrachten Ideen, wie RNA durch ungesteuerte Prozesse, d. h. ohne Einsatz von Know-how, entstanden sein könnte, sind durch bisher vorliegende Experimente nicht vertrauenswürdig belegt.

Für die Anlieferung von Stickstoffbasen (N-Heterozyklen) für die RNA-Nukleotide betrachten Pearce et al. interstellare Staubteilchen (interstellar dust particles, IDPs) und bestimmte Typen von Meteoriten. In kohligen Chondriten (Meteorite mit bis zu ca. 3 % Kohlenstoffanteil) sind analytisch Stickstoffverbindungen (darunter auch N-Heterozyklen) nachgewiesen worden. Aufgrund von Mechanismen, die die Synthese und Anreicherung von RNA-Molekülen verhindern (wie UV-Strahlung, Hydrolyse oder Versickerung), zeigen die Modelle, dass die IDPs trotz der vergleichsweise höheren Liefermenge im Vergleich zu den Fragmenten der Meteoriten keine Rolle spielen. Für die Synthese von RNA-Molekülen aus den angelieferten Stickstoffverbindungen nehmen die Autoren günstige Bedingungen zur Phosphorylierung, Nukleotidbildung (Verknüpfung mit Zucker D-Ribose) und der Bildung von RNA-Ketten durch Polymerisation der Nukleotidbausteine an (ohne die jeweiligen Probleme und Herausforderungen zu diskutieren, werden ausgewählte empirische Arbeiten zitiert). Die Autoren beziehen sich auf das RNA-Nukleotid Adenin, dessen Synthese in Simulationsexperimenten im Vergleich zu den anderen Nukleotiden leicht gelingt.

Die Modellierungen von Pearce et al. (2017) ergeben nun bei Zugrundelegung etablierter Zeitvorstellungen für die hypothetische Frühzeit der Erde (einschließlich vieler weiterer günstiger und sehr optimistischer Randbedingungen), dass RNA sehr rasch entstanden sein muss, unmittelbar nachdem die Bedingungen (wie z. B. Temperatur oder flüssiges Wasser) es zuließen. Die Autoren gehen davon aus, dass die RNA-Welt ca. 200 bis 300 Millionen Jahre, nachdem die Erde „bewohnbar“ geworden sei, vorhanden war, nämlich vor über 4,17 Milliarden Jahren.

RNA-Polymere müssen sehr rasch entstanden sein, da die Bausteine rasch wieder eliminiert werden.

Das Modell zeigt darüber hinaus, dass RNA-Polymere sehr rasch entstanden sein müssen (innerhalb eines bis weniger Nass-Trocken-Zyklen), da sonst zerstörende Prozesse die chemischen Substanzen durch Photolyse (UV-Strahlen) und Hydrolyse (auflösende Wirkung von Wasser) sowie vor allem durch Versickerung von gelösten Stoffen eliminieren. Die genannten destruktiven Effekte betreffen sowohl die erhofften synthetisierten RNA-Polymere als auch deren Bausteine. Dadurch werden die Verbindungen weiteren Entwicklungsschritten zur RNA-Welt entzogen. In einem Kommentar begrüßt Deamer (2017) diese mathematische Studie, weil wir über die frühe Erde so wenig wissen. Positiv bewertete er auch den Mut der Autoren, sich auf Randbedingungen festzulegen, die nicht immer dem Trend der (vorwiegend chemischen) Fachkollegen folgen. Er erinnert daran, dass Simulationsexperimente zur Synthese der RNA-Bausteine durchaus Lücken aufweisen und dass die Polymerisation von Nukleotiden bisher noch nicht unter „natürlichen“ Bedingungen demonstriert worden sei (hier hatten Pearce et al. (2017) Arbeiten von Deamer und Kollegen zitiert).

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Diskussion

Zukünftige Untersuchungen werden zeigen müssen, wie belastbar die Modellierung von Pearce et al. (2017) angesichts empirischer Befunde ist. Beim derzeitigen Kenntnisstand sollte aber auf jeden Fall auch festgehalten werden, dass selbst dann, wenn man sehr günstige Randbedingungen für das Modell ansetzt, eine Aussage des Modells lautet, dass RNA-Bausteine (so sie vorhanden sind) rasch zu Polymeren verknüpft werden müssen, da es eine Vielzahl von effizienten Prozessen gibt, die diese eliminieren. Das Modell zeigt also, dass, selbst wenn man die chemischen Syntheseprobleme als gelöst betrachtet, für die Etablierung einer RNA-Welt nur ein kleines Zeitfenster zur Verfügung stünde.

Für den hier ins Blickfeld genommenen kleinen Ausschnitt zur Lebensentstehung sind verschiedene Aspekte gar nicht problematisiert, die für die RNA-Synthese im Labor erhebliche Herausforderungen darstellen, wie z. B. die zeitliche Steuerung der Nass-Trocken-Zyklen (durch ungeregelte Größen wie Wind, Temperatur oder Regen), die mit der Vorlage bzw. der Zugabe der geeigneten Ausgangsstoffe zusammenpassen muss.

Für die Etablierung einer RNA-Welt steht nur ein kleines Zeitfenster zur Verfügung.

Aus chemischer Perspektive erstaunen bei Veröffentlichungen zur Chemie der Lebensentstehung immer wieder die Schlussfolgerungen, die aus Simulationsexperimenten gezogen werden. Ausgehend von reinen Ausgangssubstanzen werden unter Laborbedingungen biochemisch relevante Substanzen erzeugt. Auf einer hypothetischen frühen Erde gibt es jedoch weder reine Ausgangsverbindungen noch voreingestellte, optimierte Laborbedingungen. Wenn, wie Pearce et al. (2017) annehmen, in einem kleinen warmen Tümpel durch Nass-Trocken-Zyklen begünstigt Polymerisationsreaktionen ablaufen sollten, dann ist nicht davon auszugehen, dass nur Nukleotide polymerisieren. Man muss davon ausgehen, dass sich in einer solchen Lösung eine Vielzahl reaktiver Komponenten befindet. Dies hat zur Folge, dass in einem so skizzierten Szenario nach aller chemischen Erfahrung eine völlig unübersichtliche und unbrauchbare Mixtur entsteht.

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Literatur

Deamer D (2017)
Darwin's precient guess. Proc. Natl. Acad. Sci. USA, doi: 10.1073/pnas.1715433114.
Pearce BKD, Pudritz RE, Semenov D & Henning TK (2017)
Origin of the RNA world: The fate of nucleobases in the warm little ponds. Proc. Nat. Acad. Sci. USA, doi: 10.1073/pnas.1710339114.


Studium Integrale Journal 25. Jg. Heft 1 - Mai 2018