Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 23. Jg. Heft 1 - Mai 2016
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Streiflichter


Studium Integrale Journal
24. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2017
Seite 119 - 129




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Abb. 1: Künstlerische Darstellung einer eiszeitlichen Landbrücke zwischen Britannien und Frankreich. (Bild/Credit: Imperial College London, freundl. Zurverfügungstellung)

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Ist es britischer Humor – oder professionelles Marketing? Jedenfalls machte im Frühjahr die Kunde von „Brexit 1.0“ binnen Stunden eine Runde um den Globus.

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Abb. 2: Karte und Profil. Oben: Bathymetrische Karte des NO-Teils des Ärmelkanals; koloriert und schattiert. C, V, TSR, diverse Sandrücken; LC, Lobourg Channel (Lobourg-Kanal); NPV, Northern Palaeovalley (nördliches Paläotal); P, platform (Plattform); SI, streamlined island (stromlinienförmige Insel); X-X‘, Profillinie. Unten: Geologisches Profil X-X‘ entlang der Nordflanke des sog. Wealdon-Sattels. Sedimentfolge des britischen Kreide-Systems: WC, Weald Clay; LGS, Lower Greensand; GC, Gault Clay; Chalk (Kreide-Formationen, undifferenziert). Es wird angenommen, dass die Steilstufe aus Kreidegesteinen den ehemaligen Rücken der Landbrücke über der heutigen Straße von Dover bildete (Fortsetzung in Frankreich!). Abbildungen aus Gupta et al. (2017), ihre Fig. 4 (teilweise in Übersetzung). (CC BY 4.0)

Die Trennung Britanniens von Europa soll katastrophischer Natur gewesen sein, wahrscheinlich im Verlauf von Monaten. Das hatten Gupta et al. (2007) bereits vorgeschlagen: Durch einen Ausbruch eines im Nordosten der heutigen Straße von Dover gelegenen Schmelzwasserstausees, der eine vermutete Landbrücke zwischen den heutigen Städten Dover und Calais zerstörte. Als direkte Indizien waren Phänomene am Boden des Ärmel­kanals aufgezeigt worden, vergleichbar mit denen des Channeled Scabland (USA), die nur durch extreme, hoch-energetische Flutereignisse (Megafluten) entstehen können (vgl. Kotulla 2014).

Pünktlich zur Veröffentlichung des Artikels Zweistufige Öffnung der Straße von Dover und die Entstehung der britischen Insel (in Übersetzung) kommentierte der Leitautor Sanjeev Gupta die neue Arbeit in einer Pressemitteilung seiner Universität (Imperial College London): „Der Bruch dieser Landbrücke zwischen Dover und Calais war unbestreitbar eines der wichtigsten Ereignisse in der britischen Geschichte, die bis zum heutigen Tage verholfen hat, die Identität unserer Inselnation zu formen. Als die Eiszeit endete und die Meeresspiegel stiegen und so der Talgrund endgültig geflutet wurde, verlor Britannien seine physische Verbindung zum Festland. Ohne diesen dramatischen [Damm-] Bruch wäre Britannien noch ein Teil von Europa. Das ist Brexit 1.0 – der Brexit, für den niemand gestimmt hat“ (Smith 2017).

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Abb. 3: Die mit Sediment gefüllten Hohlformen (schwarz; sog. „fosses“, Gruben) im Untergrund der Straße von Dover (grau); schematisch. Abbildung aus Gupta et al. (2017), ihre Fig. 6 (Ausschnitt; Einfügungen verändert, ohne geologische Bezeichnungen). (CC BY 4.0)

Erst kürzlich waren weitere Megaflut-Phänomene im Ärmelkanal von Collier et al. (2015) untersucht worden, insbesondere Strom-geformte, stromlinienförmige Inseln. In der neuen Arbeit nun präsentieren Gupta et al. (2017) direkte Indizien für die Existenz der Landbrücke. Sie beschreiben Strukturen im Lobourg-Kanal in der Straße von Dover (Abb. 2), die auf neuen Sonardaten zur Seebodenvermessung (Bathymetrie) sowie hochauflösenden See-seismischen Profilen des Untergrundes basieren.

Die verfüllten Strukturen (sog. „fosses“, Gruben) sind dreidimensional isolierte Hohlformen, nahezu kreisförmig bis elliptisch, im Kilometerbereich, mit Eintiefungen bis über 100 m. Sie treten nur in einem 7 km breiten WNW-OSO-orientierten Gürtel zwischen Dover und Calais auf, senkrecht zur Meeresstraße (Abb. 3). Sie werden als gigantische Strudelkessel (plunge pools) interpretiert. Demzufolge seien sie Überreste (Erosionsstrukturen) von Wasserfällen, die sich bildeten, als die Schmelzwasser über die Landbrücke (natürlicher Damm) übertraten (Abb. 1). Dabei stürzten die Wassermassen an zahlreichen Stellen entlang des 32 km langen Rückens 100 m in die Tiefe (Smith 2017) und bildeten am Fuße tiefe Hohlformen (Strudelkessel).

Die Anordnung dieser Hohlformen lässt auf eine rückwärts-schreitende Erosion der Landbrücke schließen (etwa 7 km Richtung NO), bis diese schließlich kollabierte. Die „Fosse“-Strukturen sind mit Sediment gefüllt; diese Sedimentfüllungen werden vom Lobourg-Kanal angeschnitten, sind also teilweise wiederum erodiert worden. Gupta et al. (2017) schließen aufgrund dieser zwei Erosionsereignisse auf eine zweiphasige Öffnung der Straße von Dover: Stufe 1) Überlauf – initiale Erosion; Stufe 2) Bruch (der Landbrücke) – finale Erosion.

Wie diese Ereignisse in die Quartärstratigraphie zu verankern sind, ist allerdings unklar; diskutiert werden z. B. die Elster- und Saale-Phase. Gupta et al. (2017) schlagen deshalb vor, durch Kernbohrungen Proben aus dem „Fosse“-Gebiet zu gewinnen.

Michael Kotulla

[Collier JS, Oggioni F, Gupta S, García-Moreno D, Trenteseaux A & De Batist M (2015) Streamlined islands and the English Channel megaflood hypothesis. Global and Planetary Change 135, 190-206 • Gupta S, Collier JS, Palmer-Felgate A & Potter G (2007) Catastrophic flooding origin of shelf valley systems in the English Channel. Nature 448, 342-345 • Gupta S, Collier JS, Garcia-Moreno D, Oggioni F, Trentesaux A, Vanneste K, De Batist M, Camelbeeck T, Potter G, Van Vliet-Lanoe B & Arthus JCR (2017) Two-stage opening of the Dover Strait and the origin of island Britain. Nat. Comm., doi: 10.1038/ncomms15101 • Kotulla M (2014) Megafluten. Studium Integr. J. 21, 4-11 • Smith C (2017) Brexit 1.0: scientists find evidence of Britain’s separation from Europe. Pressemitteilung des Imperial College London vom 4. April 2017.]


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Zecken (Ixodida), diese blutsaugenden Spinnentiere (Arachnida), wurden wiederholt in fossilem Harz aus unterschiedlichen Lagerstätten beschrieben. Poinar (2017) beschreibt eine spektakuläre Entdeckung einer vollgesaugten Zecke in Dominikanischem Bernstein. Das Besondere an dem Fund ist, dass die Zecke am Rücken aufgebrochen ist und von Roten Blutkörperchen (Erythrozyten) umgeben ist. Dominikanischer Bernstein wird in Sandsteinformationen gefunden, die geologisch ins Obere Eozän bis Untere Miozän gestellt werden (was einem radiometrischen Alter von ca. 40-20 Millionen Jahren entspricht). Poinar ordnet die Zecke – ein Jungtier (Nymphe) – aufgrund ihrer Körpermerkmale der Gattung Amblyomma zu. Das ursprüngliche Stück fossilen Harzes wurde nachhaltig bearbeitet, um die Zecke und vor allem auch die Erythrozyten mikroskopisch möglichst gut darstellen zu können.

Die Erythrozyten sind aufgrund der – im Detail unbekannten – Fossilisierungsprozesse (Taphonomie) angefärbt, sodass sie lichtmikroskopisch dokumentiert werden können. Die Größe der Erythrozyten, die keinen Zellkern enthalten (Durchmesser: 7-8 µm; Dicke: 2 µm; bikonkav), legen ein Säugetier als Blutquelle und damit als Wirt der Zecke nahe. Die eigentliche Besonderheit aber ist, dass in den Erythrozyten verschiedene Stadien von Parasiten vorliegen, die Poinar den Piroplasmen (Piroplasmida) zuordnet. Diese parasitieren in Blutkörperchen und werden von Zecken übertragen, die damit als Vektoren fungieren. Poinar hat nach eingehender Dokumentation den Bernstein aufgebrochen, um Gewebereste aus der Zecke entnehmen und mikroskopisch untersuchen zu können. In Epithelzellen des Darms konnte er verschieden Stadien des Parasiten nachweisen.

Der Wirt der Zecke und damit die Blutquelle kann aufgrund der Befunde nicht identifiziert werden. Die Größe der Erythrozyten spricht für Hunde (Canidae), Hasenartige (Lagomorpha) oder Primaten. Der Fossilbericht von Hispaniola (Haiti und Dominikanische Republik) liefert allerdings keinen Hinweis auf Hunde oder Hasenartige. Poinar geht deshalb von Primaten aus, die auch entsprechend fossil überliefert sind. Er spekuliert konkreter über Neuwelt- oder Breitnasenaffen (Platyrrhini), die untereinander Fellpflege betreiben; dies könnte auch eine mögliche Erklärung für die zerstörte Zecke und die Blutreste sein.

Der Autor hat mit dieser Studie den frühesten fossilen Nachweis von Säugetier-Erythrozyten mit Blutparasiten erbracht, die Zecken als Vektor nutzen. Dieser Befund belegt damit auch, dass diese parasitäre Ökologie sehr früh im Fossilbefund auftritt und der heutigen gleicht.

H. Binder

[Poinar Jr. G. (2017) Fossilized mammalian erythrocytes associated with a tick reveal ancient piroplasms. J. Med. Entomol.; doi: 10.1093/jme/tjw247]


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Abb. 1: Form von Pygostylen von Vögeln aus dem geologischen System der Kreide, dargestellt im Verhältnis von Pygostyl-Länge zur Länge des Laufbeins (Tarsometatarsus). Crualispennia gehört zwar zu den Gegenvögeln; die Form seines Pygostyls tendiert eher zu den Ornithuromorpha und unterscheidet sich deutlich von Pgyostylen der Gegenvögel. (Nach Wang et al. 2017; CC SA 4.0)

In den letzten 30 Jahren wurden ungewöhnlich viele fossile Gattungen von Vögeln in den geologischen Schichten der Unterkreide entdeckt. Nach dem berühmten oberjurassischen Urvogel Archaeopteryx gehören diese Formen zu den stratigraphisch ältesten Gattungen. Die meisten von ihnen lassen sich zwei deutlich unterscheidbaren Gruppen zuordnen, den sogenannten Gegenvögeln (Enantiornithes) und den „Vogelschwänzen“ (Ornithurae). Letztere haben ihren Namen daher, dass sie wie heutige Vögel eine kurze Schwanzwirbelsäule mit einem Pygostyl besaßen (das sind mehrere verschmolzene Schwanzwirbel), an dem ein Fächerschwanz ansetzt. Dagegen besaßen Archaeopteryx und einige andere Gattungen von „Urvögeln“ eine lange Schwanzwirbelsäule und entsprechend einen Fiederschwanz.

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Abb. 2: Schulter und Vorderextremität von Cruralispennia multidonta. a Foto, b Strichzeichnung. Balken: 10 mm. (Aus Wang et al. 2017, verändert; CC SA 4.0)

Wie so oft zeigt sich auch bei den Vögeln der Unterkreide, dass mit der Zunahme von Funden mögliche Abstammungsverhältnisse nicht klarer werden, sondern immer schwieriger zu rekonstruieren sind. Die Anzahl der evolutionstheoretisch anzunehmenden Konvergenzen von wichtigen Merkmalen nimmt zu, sodass sich Merkmalswidersprüche häufen. Das heißt, es muss mehrfache Entstehung weitgehend baugleicher Merkmale angenommen werden – evolutionstheoretisch problematisch.

Der neue Fund. Ein jüngst beschriebener Fund aus der Huajiying-Formation Nordwestchinas (Unterkreide, 131 Millionen radiometrische Jahre), der aufgrund zahlreicher anatomischer Merkmale zu den Gegenvögeln gestellt wurde (Wang et al. 2017, 6), trägt weiter zu diesen Merkmalswidersprüchen bei. Die Huajiying-Formation ist die geologisch älteste Schicht, in der fossile Vögel geborgen wurden, nur übertroffen vom fränkischen Oberjura mit seinen Archaeopteryx-Fossilien. Der neue Fund wurde aufgrund seiner ungewöhnlich befiederten Beine Cruralispennia genannt (crus = Schenkel, pennae = Federn). Außerdem handelt es sich trotz seines geologischen Alters um eine abgeleitete („höherentwickelte“) Form. Das heißt: Sie steht gemäß phylogenetischer Analysen nicht im Bereich der Basis der Gruppe, sondern tief eingeschachtelt weiter oben im Cladogramm (Ähnlichkeitsbaum). Nach Auffassung der Bearbeiter ist dies „unerwartet“ (Wang et al. 2017, 1), weil evolutionär an der Basis einer Gruppe natürlich mit „primitiven“ Formen gerechnet wird. Die Autoren sprechen von einer „stratigraphisch-phylogenetischen Diskrepanz“ (Wang et al. 2017, 7).

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Abb. 3: Ungewöhnliche Form einiger Federn an den Schenkeln von Cruralispennia. Näheres im Text. Balken: 10 mm. (Aus Wang et al. 2017; CC SA 4.0)

Besonders überraschend ist der Besitz eines pflugförmigen Pygostyls, dessen Form für Ornithurae typisch ist (Gegenvögel haben sonst ein längliches Pygostyl; vgl. Abb. 1). Wang et al. nehmen an, dass es konvergent zu den Ornithurae entstanden ist, was die homoplastische Natur der frühen Vogelevolution aufzeige. (Homoplasie ist ein Sammelbegriff für Konvergenzen, Parallelismus und Rückentwicklungen.) Ebenfalls bisher nicht bekannt unter den Gegenvögeln der Unterkreide war die Ausbildung eines extrem schlanken Coracoids (Rabenbein) bei Cruralispennia (Abb. 2); bisher war diese Form des Coracoids nur bei Formen aus der Oberkreide bekannt. Übergangsformen zwischen Formen mit Fiederschwanz und den Pygostylia sind nicht bekannt (Wang et al. 2017, 8).

Ungewöhnlich sind auch die bereits erwähnten Federn an den Schenkeln, die im körpernahen Bereich drahtartig sind und distal fädige Spitzen besitzen. Diese Federform war bisher unbekannt und erweitert das ohnehin bereits reichhaltige Spektrum von Federformen bei frühen Vögeln, das die Vielfalt heutiger Federtypen noch übersteigt. Wang et al. bezeichnen sie als „PWFDTs“ – „proximally wire-like part with a short filamentous distal tip“. Ansonsten ist fast das ganze Skelett von verkohlten Federresten umgeben, neben haarartigen Körperfedern sind auch flächige asymmetrische Schwungfedern erhalten.

Auffällig ist schließlich der Besitz von 14 Zähnen auf dem Dentale, was den Artnamen C. multidonta motiviert hat. Fast alle Gegenvögel besitzen weniger Zähne. Interdentalplatten (dreieckige Zwischenzahnwände), wie sie bei Archaeopteryx und theropoden Dinosauriern und z. T. auch bei anderen Sauriern bekannt sind, wurden nicht nachgewiesen. Histologische Befunde an den Knochen deuten darauf hin, dass Cruralispennia schnell wuchs und vermutlich binnen eines Jahres ausgewachsen war; für die Gegenvögel ein weiteres ungewöhnliches, als abgeleitet interpretiertes Merkmal.

Der neue Fund trägt zum Bild eines plötzlichen fossilen Erscheinens einer erheblichen Formenvielfalt in der Unterkreide bei. Auch unter den Ornithurae (ebenfalls Unterkreide) findet sich eine abgeleitete Gattung – Archaeornithura – ausgerechnet unter den geologisch ältesten Formen (vgl. Wang et al. 2015).

R. Junker

[Wang M et al. (2015) The oldest record of ornithuromorpha from the early cretaceous of China. Nat. Comm. 6:6987, doi: 10.1038/ncomms7987 • Wang M, O’Connor JK, Pan Y & Zhou Z (2017) A bizarre Early Cretaceous enantiornithine bird with unique crural feathers and an ornithuromorph plough-shaped pygostyle. Nat. Comm. 8:14141, doi: 10.1038/ncomms14141]


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Fossilien von Vögeln aus Familien, die auch heute existieren (Neornithes), sind erst aus dem Tertiär bekannt, treten ab dem Eozän aber „explosiv“ in großer Fülle und in die verschiedenen Vogelordnungen abgrenzbar auf (Brusatte et al. 2015). Daher wird auch von einem „Big-Bang-Modell“ der Vogelevolution gesprochen (Feduccia 2003, Claramunt & Cracraft 2015, 1). Nur sehr vereinzelt sind dagegen Vogelgattungen der Neornithes aus Sedimentgesteinen der Oberkreide fossil bekannt. Im Rahmen evolutionstheoretischer Modellierungen wurde auf der Basis molekularer Daten (Sequenzvergleiche bei heute lebenden Arten) dagegen meist ein sehr viel früherer evolutionärer Ursprung ermittelt, wobei verschiedene Studien sehr unterschiedliche Ergebnisse erbrachten. In einer jüngeren Studie, in der vergleichende Sequenzdaten und fossile Daten kombiniert wurden, bestimmten Claramunt & Cracraft (2015) das Alter des hypothetischen gemeinsamen Vorfahren der Neornithes auf 95 Millionen radiometrische Jahre (MrJ); knapp 30 MrJ älter als die ältesten Fossilfunde dieser Gruppe. Aus den molekularen Daten schlossen sie außerdem, dass sich die Neornithes erst im Tertiär (ab 66 MrJ) nennenswert aufspalteten, dass diese Radiation aber weltweit sehr schnell erfolgt sei. Auch molekulare Daten aus den Studien von Jarvis et al. (2014) und Prum et al. (2015) stützen das Big-Bang-Modell. Das gleichsam „verspätete“ Aufspalten erkläre zum Teil das weitgehende Fehlen von Fossilfunden der Neornithes in Sedimentgesteinen der Kreide, so Claramunt & Cracraft (2015, 8). Auch die Zartheit von Vogelskeletten wurde als Grund für den Fossilmangel angeführt.

Nun berichtet eine Forschergruppe von einem Fossil eines spatzengroßen, baumlebenden Vogels aus Schichten in New Mexico/USA, die bereits dem unteren Paläozän zugeordnet werden (62,5 MrJ, Ksepka et al. 2017). Gefunden wurden Bruchstücke des Kiefers, der Wirbelsäule und des Pygostyls (unteres Ende der Wirbelsäule aus verschmolzenen Wirbeln), der Schulter sowie Teile von Arm-, Bein- und Fußknochen. Die Tsidiiyazhi abini („kleiner Morgenvogel“) benannte Art wird zu einer ausgestorbenen Linie der Mausvögel (Coliidae) gestellt. Da diese Gruppe nach phylogenetischen Analysen (auf der Basis vergleichender Analysen heutiger Vogelordnungen) relativ „hochentwickelt“ ist, also ziemlich weit oben im mutmaßlichen Stammbaum der Neornithes steht, muss unter evolutionstheoretischen Voraussetzungen angenommen werden, dass zahlreiche unterschiedliche Vogellinien zu diesem Zeitpunkt ebenfalls existierten. Da diese – auf der Basis der o. g. vergleichenden Studien – andererseits erst im Tertiär entstanden sein sollen, bleibt für deren Radiation im evolutionstheoretischen Langzeitrahmen nur sehr wenig Zeit, nämlich weniger als 4 Millionen Jahre, was das „Big-Bang-Modell“ klar stützt. Doch das bedeutet ein ernsthaftes Problem: Selbst im Rahmen des Langzeitkonzepts der Historischen Geologie scheinen wenige Millionen Jahre viel zu wenig zu sein, um ausgehend von einem gemeinsamen Vorfahren eine evolutive Entstehung so unterschiedlicher Vogelbaupläne zu ermöglichen wie Eulen, Raubvögel, Coraciimorphae (zu denen z. B. die Eisvögel, Wiedehopfe und Spechte gehören) und viele andere Gruppen. Diese Situation ist übrigens den Verhältnissen bei den plazentalen Säugetieren sehr ähnlich (Ksepka et al. 2017, 1).

Es kommt ein weiteres Problem hinzu: Der spezialisierte Fuß war semizygodaktyl, d. h die erste Zehe stand nach hinten und die 4. konnte fakultativ ebenfalls nach hinten gestellt werden, und sehr ähnlich wie der Fuß von Eulen gebaut. Aufgrund der Merkmalsverteilungen bei den Vogelordnungen muss aber mit dreifach unabhängiger (konvergenter) Entstehung dieses spezialisierten Merkmals gerechnet werden; darüber hinaus muss sogar angenommen werden, dass die voll zygodaktylen Ordnungen der Papageien (Psittaciformes) und Spechtvögel (Piciformes) nicht näher mit dem semizygodaktylen Linien verwandt sind (Ksepka et al. 2017, 5). Auch aus den Ergebnissen der Untersuchung von Jarvis et al. (2014) folgt, dass viele Konvergenzen angenommen werden müssen, und einmal mehr widersprechen sich morphologische und molekulare Sequenzdaten. Sowohl diese Befunde als auch die mutmaßlich rasante Radiation widersprechen evolutionstheoretischen Erwartungen klar.

Ein plötzliches In-Erscheinung-Treten verschiedenster Formen könnte besser als durch zeitraubende Evolution durch ein Hervortreten der bereits vorhandenen Grundtypen aus geologisch nicht überlieferten Lebensräumen erklärt werden, was einem Schöpfungsansatz ebenso entgegenkommt wie eine ausgeprägt mosaikartige Verteilung mit zahlreichen Konvergenzen. Letzteres ist der Fall, weil im Rahmen eines Schöpfungsansatzes von einer freien Kombinierbarkeit von Merkmalen ausgegangen werden kann, anders als bei Annahme einer gemeinsamen Abstammung. Wie bei vielen anderen „Explosionen“ („big bangs“) dieser Art stellt sich für den Schöpfungsansatz allerdings die Frage, in welchen Lebensräumen die bei der „Explosion“ hervortretenden Formen zuvor gelebt haben und warum sie in älteren bzw. in den älter datierten Schichten nach bisheriger Kenntnis fossil gar nicht überliefert sind.

R. Junker

[Brusatte SL, O’Connor JK & Jarvis ED (2015) The origin and diversification of birds. Curr. Biol. 25, R888-R898 • Claramunt S & Cracraft J (2015) A new time tree reveals earth history’s imprint on the evolution of modern birds. Sci. Adv. 2015;1:e1501005 • Feduccia A (2003) ‘Big bang’ for tertiary birds? Trends Ecol. Evol. 18, 172-176 • Jarvis ED, Mirarab S et al. (2014) Whole-genome analyses resolve early branches in the tree of life of modern birds Science 346, 1320-1331 • Ksepka DT, Stidham TA & Williamson TE (2017) Early Paleocene landbird supports rapid phylogenetic and morphological diversification of crown birds after the K–Pg mass extinction. Proc. Natl. Acad. Sci., doi: 10.1073/pnas.1700188114 • Prum RO, Berv JS et al. (2015) A comprehensive phylogeny of birds (Aves) using targeted next-generation DNA sequencing. Nature 526, 569-573]


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Abb. 1: Vereinfachte Modelle der Beckenanatomie der Saurischia (Echsenbeckensaurier) bzw. Sauropodomorpha und Ornithischia (Vogelbeckensaurier) und mögliche Neugruppierung der Theropoden. (Beckenmodelle: CC-BY-SA 4.0)

Die Dinosaurier werden traditionell schon seit 130 Jahren in zwei Hauptgruppen unterteilt: die Saurischia („Echsenbeckensaurier“) und Ornithischia („Vogelbeckensaurier“). Zu den Ornithischia gehören bekannte Gattungen wie Triceratops oder Stegosaurus. Bekannte Vertreter der Saurischia sind langhalsige Sauropoden wie Brontosaurus und räuberische Theropoden wie der berühmte Tyrannosaurus, aber auch viele kleinere Formen, aus denen die Vögel hervorgegangen sein sollen. Wie aus den beiden Bezeichnungen hervorgeht, wird dem Bau des Beckens eine besondere Bedeutung beigemessen. Die Ornithischier besaßen ein vierstrahliges Becken, das damit dem Becken von Vögeln oberflächlich ähnlich war (vgl. Abb. 1). Dennoch werden die Vögel stammesgeschichtlich von den Theropoda und damit einer Gruppe der Saurischia abgeleitet, deren Becken reptilienartig dreistrahlig ist (Abb. 1).

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Abb. 2: Cladogramm mit Einbeziehung der nur fragmentarisch erhaltenen und umstrittenen Gattung Nyasasaurus. Näheres im Text. (Nach Baron et al. 2017, Online-Zusatzmaterial)

Nun wird aufgrund einer neuen umfangreichen anatomischen Analyse von 74 Dinosaurierarten, bei der 457 Merkmale verglichen wurden, diese bislang unangefochtene Zweiteilung der Dinosaurier in Frage gestellt (Baron et al. 2017; Padian 2017). Die Forscher untersuchten vornehmlich geologisch ältere Dinosaurier-Gattungen aus der Trias und dem Unterjura und fanden dabei 21 anatomische Merkmale, die die Theropoden nicht mit den Saurischia, sondern mit den Ornithischia verbinden, es handelt sich z. B. um Merkmale am Kiefer, an der Wirbelsäule, an den Beinen und an den Fußknochen (Baron et al. 2017, 502f.). Daher schlagen sie nun vor, die Theropoden mit den Ornithischia zur Gruppe der Ornithoscelida zu­sammenzufassen. Damit sind die Theropoden nicht mehr die Schwestergruppe der Sauropoden, sondern werden aus den Saurischia herausgenommen und als Schwestergruppe der Ornithischia angesehen (Abb. 1). Das bedeutet einen erheblichen Umbau des Dinosaurier-Stammbaums.

Konsequenzen. Für die Taxonomen, die die Ähnlichkeitsbeziehungen verschiedener Organismen und Organismengruppen erforschen, ist ein solches Ergebnis an sich keine Überraschung. Neue Erkenntnisse können etablierte Modelle nun einmal mehr oder weniger stark verändern. In diesem Fall liegt eine gewisse Brisanz allerdings darin, dass populäre Evolutionsvorstellungen für die Abstammung der Vögel von Dinosauriern betroffen sind. So wird in wissenschaftlichen Meldungen der Tagesmedien angemerkt, dass der neue Stammbaum besser zur Evolution der Vögel passe, da diese aus den Theropoden abgeleitet werden und diese mit den „Vogelbecken-Dinosauriern“ nun in engere Verbindung gebracht werden. Doch diese Einschätzung ist irreführend. Denn auch wenn die Ornithischier mit der Theropoden-Linie verknüpft sind, ändert das nichts daran, dass die Theropoden kein „Vogelbecken“ besaßen und somit das vierstrahlige Vogelbecken nicht als Erbe der Ornithischier gewertet werden kann.

Die tiefgreifende Umgruppierung der Theropoden zeigt einmal mehr: Merkmale und Merkmalsverteilungen sind keine objektiven Anzeiger von Verwandtschaftsverhältnissen. Homologien und somit als abstammungsbedingt gedeutete Ähnlichkeiten können sich bei veränderter Datenlage als Konvergenzen entpuppen, also als unabhängig entstandene Ähnlichkeiten ohne gemeinsame Vorfahren – und umgekehrt. Die Deutungen können auch wieder zurückspringen, je nach aktueller Datenlage. Jedenfalls sind die Gemeinsamkeiten zwischen Theropoden und Sauropoden, aufgrund derer diese beiden Gruppen bisher zu den Saurischiern gestellt worden waren, nicht verschwunden, sondern müssen nun als Konvergenzen interpretiert werden. Die neue Umgruppierung hat außerdem zur Folge, dass sogenannte hypercarnivore Merkmale, die auf vornehmliche Spezialisierung auf Fleischnahrung hinweisen, bei den Herrerasauriern und den Theropoden konvergent entstanden sein müssen. Die Herrerasaurier sind im neuen System Schwestergruppe der Sauropodomorpha (Baron et al. 2017, 504).

Insgesamt stellen sich damit die Ähnlichkeitsbeziehungen immer mehr als Netzwerk dar, während bei einer Baumdarstellung mit vielen Merkmalswidersprüchen gerechnet werden muss. Das entspricht nicht evolutionstheoretischen Erwartungen.

Unter dem Zusatzmaterial publizierten Baron et al. ein Cladogramm mit Einbeziehung der nur fragmentarisch erhaltenen Gattung Nyasasaurus, deren systematische Stellung als Dinosaurier umstritten ist. Dieses Cladogramm (Abb. 2) ist in zweierlei Hinsicht auffällig: Erstens müssten sich die Dinosauriergruppen in sehr kurzer Zeit aufgespalten haben und zweitens müssten zahlreiche Geisterlinien angenommen werden, d. h. fossile Nachweise folgen für alle Dinosaurierlinien später, z. T. sehr viel später, als nach dem Cladogramm zu erwarten wäre.

R. Junker

[Baron MG, Norman DB & Barrett PM (2017) A new hypothesis of dinosaur relationships and early dinosaur evolution. Nature 543, 501-506 • Padian K (2017) Dividing the dinosaurs. Nature 543, 494-495.]


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Thunfische (Thunnus) sind sehr schnell schwimmende und z. T. sehr große Raubfische (1-4,5 m lang, mit einer Masse von 20-700 kg; griech. tuno: eilen, stürmen). Beim Schwimmen erfolgt der Vortrieb vor allem durch die Schwanzflosse, während der Rumpf praktisch nicht bewegt wird. In den echten Knochenfischen (Teleostei) – zu dieser Teilklasse der Knochenfische (Osteichthyes) gehören die Thunfische – weist das Lymphatische System Ähnlichkeiten zu dem von Säugetieren bekannten System auf. Das Lymphatische System ist an der Immunantwort und am Flüssigkeitsausgleich (Homeostase) innerhalb des Körpers beteiligt (in enger Kopplung an das Blutsystem).

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Abb. 1: Blauflossen-Thunfisch (Thunnus orientalis) (aes 256, CC BY 2.1 jp)

Ein Team um die amerikanische Biologin Barbara Block konnte in einer Studie nachweisen, dass das Lymphatische System beim Thunfisch auch für eine ganz andere als die übliche Funktion genutzt wird: die Regulierung der Bewegung der After- und 2. Rückenflosse (Pavlov et al. 2017). Diese anspruchsvolle Zusatzfunktion ist erstaunlich. Die Untersuchungen wurden an Nordpazifischen Blauflossen-Thunfischen (Thunnus orientalis) und Gelbflossen-Thunfischen (Thunnus albacares) durchgeführt.

An der Basis der 2. Rückenflosse befindet sich ein nicht komprimierbares Lymphgefäß, das auch in der Flosse die Räume zwischen den Flossenstrahlen durchzieht. Das Lymphgefäß vor und hinter dem nicht komprimierbaren Bereich ist in Muskelgewebe eingebettet, durch das es komprimiert werden kann. Als Folge davon wird die Lymphe in den nicht komprimierbaren Teil unter und zwischen den Flossenstrahlen der 2. Rückenflosse gepresst und diese dadurch steil aufgestellt. Dasselbe System findet sich auch bei der Afterflosse. Der Anstellwinkel der 2. Rückenflosse und der Afterflosse verändert sich in den untersuchten Thunfischen synchron. Mit dem Aufstellen der Flossen kann der Thunfisch die Steuerung seiner Schwimmrichtung beeinflussen.

Anders als bei bisher bekannten Beispielen für Anwendungen der Hydraulik im Tierreich wird bei Thunfischen das Zusammenwirken von Muskeln und Lymphgefäßen zur Manipulation des Skeletts genutzt: Die Muskeln wirken als hydraulische Pumpen, die die Lymphflüssigkeit durch die Gefäße pumpen und den Druck und das System steuern und regulieren. Die Flossenstrahlen wandeln dann diesen Druck in mechanische Energie um.

Die erstaunlichen Zusammenhänge des hydraulisch genutzten Lymphatischen Systems in Thunfischen sind auch im Zusammenhang mit der Entwicklung von Tauchrobotern, die in steigender Zahl zur Erforschung der noch vergleichsweise wenig bekannten submarinen Welt entwickelt werden, von Interesse, besonders was deren Steuerbarkeit betrifft. So schreibt Michael S. Triantafyllou, Direktor des Center of Ocean Engineering, MIT, in einem Begleitbeitrag im Untertitel: „Wie Thunfische die Form ihrer Flossen regulieren, während sie scharfe Kurven schwimmen, das legt höchste Ingenieurskunst nahe.“ („How tuna control fin shape while making sharp turns suggests optimum engineering design.“)

In der Tat, beim Versuch, Details der Schöpfung ins Auge zu fassen und besser zu verstehen, gerät man immer wieder ins Staunen und ist von Neuem fasziniert.

H. Binder

[Pavlov V, Rosental B, Hansen NF, Beers JM, Parish G, Rowbothan I & Block BA (2017) Hydraulic control of tuna fins: A role for the lymphatic system in vertebrate locomotion. Science 357, 310-314 · Triantafyllou MS (2017) Tuna fin hydraulics inspire aquatic robotics. Science 357, 251-252.]


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In Lehrbüchern für Genetik wird die Frage nach der Entstehung von neuen Genen vor allem mit Genduplikation mit anschließender Herausbildung einer neuen Funktion in einer der beiden Gene beantwortet. Daneben sind auch weitere Wege bekannt, auf denen neue Gene entstehen können, z. B. Funktionalisierung von nicht codierender DNA.

Ein amerikanisches Wissenschaftlerteam um John Werren hat die rasche Veränderung der Gene für die Toxine in parasitären Wespen untersucht, um neue Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie neue Genfunktionen entstehen (Martinson et al. 2017). Parasitäre Wespen legen mittels eines Legestachels ihre Eier in andere Lebewesen, wo sie sich typischerweise unter massiver Beeinträchtigung des Wirtes entwickeln – letzterer überlebt den Schlupf der Wespenlarven nur selten. Bei der Überwältigung des potenziellen Wirtes setzten die fortpflanzungsfähigen Wespen verschiedene, jeweils passende Gifte ein.

Martinson et al. fanden in den Giftdrüsen als Hauptursache für veränderte Giftzusammensetzungen die sog. cis-Regulation der Expression von bekannten Genen. Die Autoren fanden Hinweise darauf, dass viele Gene verschiedene Funktionen erfüllen können. Sie vermuten, dass Kooption, damit ist die Nutzung eines vorhandenen Gens für eine neue Funktion gemeint, ein Prozess ist, der bisher unterschätzt wurde, vor allem in Zusammenhängen, in denen schnelle Veränderungen vorkommen, wie das bei den Giftzusammensetzungen der parasitären Wespen der Fall ist. Dieser Befund belegt die Flexibilität von Organismen, da sie eine Gruppe von Genen höchst variabel einsetzen können. Die Ursache dieser Flexibilität konnte bisher nicht erhellt werden, sie wird in Publikationen typischerweise evolutionären Prozessen zugeschrieben, aber sie könnte auch voreingestellt, auf irgendeine Art programmiert sein. Das könnte auch für andere Mechanismen der Genentstehung wie der oben erwähnten Funktionalisierung gelten.

H. Binder

[Martinson EO, Mrinalini, Kelkar YD, Chang C-H & Werren JH (2017) The evolution of venom by Co-option of single-copy genes. Curr. Biol. 27, 2007-2013.]


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Abb. 1: Der Schleim der Hellbraunen Wegschnecke (Arion subfuscus) hat es in sich. (Foto: H. Krisp, Creative Commons Attribution 3.0 Unported licence)

Wissenschaftler der Harvard Universität, Cambridge, USA, haben einen Klebstoff entwickelt, der an feuchten, flexiblen Oberflächen hält und sehr dehnfähig ist. Bisher bekannte Klebstoffe wirken als Zellgift (d. h. sie sind cytotoxisch), haften nur sehr schwach auf biologischem Gewebe und können unter nassen Bedingungen nicht angewendet werden. Bei der Entwicklung des neuen Klebstoffs, der aus zwei Schichten besteht, haben sich Li et al. (2017) nach eigenen Worten inspirieren lassen von dem Schleim, den die Hellbraune Wegschnecke (Arion subfuscus, Abb. 1) zu ihrer Fortbewegung und Abwehr absondert. Dessen Aufbau und Belastbarkeit hatten Wilks et al. (2015) dokumentiert. Dabei konnten sie zeigen, dass die hohe Belastbarkeit auf einer doppelten Netzwerkstruktur beruht: Zwei verschiedene molekulare Netzwerke durchdringen sich gegenseitig und dieses System ist um ein Vielfaches mehr belastbar als es jedes der beiden Netzwerke für sich wäre. Die beiden Schleimkomponenten im Schleim von A. subfuscus enthalten zum einen negativ geladene Glycoproteine, die in der Gelelektrophorese unterschiedliche Größe zeigen, zum anderen Heparin-ähnliche Polysaccharide. Bereits länger ist bekannt, dass Schnecken (und auch noch weitere Weichtiere wie z. B. Muscheln) durch Abgabe bestimmter Proteine in ihren Schleim diesem eine auffällig große Haftkraft verleihen können (Pawlicki et al. 2004).

Der von Li et al. (2017) nach diesem Vorbild entwickelte Klebstoff weist eine Schicht auf, die aufgrund von elektrostatischen Wechselwirkungen, kovalenten Bindungen und physikalischer Durchdringung auf dem Untergrund haftet, und zwar auch unter nassen Bedingungen. Die zweite Schicht sorgt durch die Verteilung der Energie im Netzwerk für eine hohe Belastbarkeit und verhindert das Reißen des Klebstoffmaterials. Die Autoren konnten den Klebstoff an einem schlagenden Schweineherzen, an dem Blut austrat, anwenden und die Blutung durch Kleben bei aufrechterhaltenem Blutdruck stillen. Auch an Rattenleber konnten sie tiefe, blutende Wunden kleben und so die Wirksamkeit des neuen Klebstoffs an weiteren Gewebetypen demonstrieren.

So könnte durch weitere Entwicklungen aus einem zunächst wenig auffälligen Naturstoff von Tieren, die bei Gartenbesitzern in keinem guten Ruf stehen, ein sehr wirksames Hilfsmittel für die Humanmedizin entstehen. Vielleicht steht damit Chirurgen schon in absehbarer Zeit ein Klebstoff zum Verschluss von Wunden an inneren Organen zur Verfügung, der unter nassen Bedingungen und hochbelastbar Gewebe verbinden kann.

H. Binder

[Li J, Celiz AD et al. (2017) Tough adhesives for diverse wet surfaces. Science 357, 378-381 • Pawlicki JM, Pease LB et al. (2004) The effect of molluscan glue proteins on gel mechanics. J. Exp. Biol. 207, 1127-1135 • Wilks AM, Rabice SR et al. (2015) Double-network gels and the toughness of terrestrial slug glue. J. Exp. Biol. 218, 3128-3137.]


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Clown-Fangschreckenkrebse (Odontodactylus scyllarus, Abb. 1) sind farbenprächtige Krebstiere (Crustacea). Sie nutzen zwei ihrer Extremitäten als keulenförmige Fangbeine, um die Gehäuse von Schnecken mit einem blitzartigen und kraftvollen Schlag zu zertrümmern, um an die Tiere als Nahrung zu gelangen. Dieser Schlag dauert nur etwa ein Fünfzigstel der Dauer eines Lidschlages. Die Beschleunigung der Fangbeine ist mit rund 100 000 Metern pro Quadratsekunde mit der Beschleunigung eines Projektils im Gewehrlauf zu vergleichen. Die Geschwindigkeit beträgt dabei bis zu 31 Meter pro Sekunde (ca. 110 Kilometer pro Stunde). Dabei sind die beiden Keulen kleiner als der kleine Finger eines Kindes – trotzdem brechen sie damit Schneckengehäuse auf, für die der Mensch einen kräftigen Hammerschlag benötigt. Immerhin gehören Schneckengehäuse zu den bruchsichersten Materialien, die bei Lebewesen bekannt sind. Diese Fähigkeit wird durch ein ausgeklügeltes und perfekt aufeinander abgestimmtes System ermöglicht.

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Abb. 1: Der Fangschreckenkrebs Odontodactylus scyllarus: ein „Schmetterer“. Die Endgelenke der Fangbeine sind zu Keulen verdickt. (Silke Baron, CC BY 2.0)

Ultraschnelle Bewegungen wie der Schmetterschlag eines Fangschreckenkrebses funktionieren mit Hilfe eines Feder-Klinken-Prinzips, ähnlich dem Schießen mit Pfeil und Bogen. Ein federähnlicher Mechanismus speichert potenzielle Energie, die durch eine Entriegelung explosionsartig freigesetzt wird. Bei den Fangschreckenkrebsen funktioniert dieser Mechanismus folgendermaßen: Die Krebse besitzen wie Menschen Muskeln, die Gelenke strecken, sogenannte Extensoren, und Muskeln, die Gelenke beugen, sogenannte Flexoren. Die Extensoren im Fangbein bewegen dessen keulenförmigen Teil nach außen, während die Flexoren ihn wieder an den Körper heranziehen. Beim Ausführen des Schlages werden Flexoren und Extensoren gleichzeitig kontrahiert (d. h. die Muskeln werden zusammengezogen). Dabei drückt der große Extensor eine biegsame und elastische sattelähnliche Struktur des Exoskeletts zusammen (Abb. 2). Der kleinere Flexor zieht währenddessen eine Verdickung seiner Sehne über einen kleineren Höcker innerhalb des Fangbeines, sodass die Sehne hinter diesem einhaken kann. Da der Flexor damit eingerastet ist, kann er die großen, entgegengerichteten Extensorenkräfte kompensieren, um bei einer Entspannung des Flexors die gespeicherte elastische Energie schlagartig freizulassen – dabei wird das keulenförmige Ende des Fangschreckenkrebses sehr kraftvoll nach vorn geschleudert.

Die Zertrümmerung des Gehäuses beruht aber noch auf einem anderen Effekt: Bei der Zertrümmerung bildet sich kurzzeitig eine große Blase zwischen der keulenähnlichen Verdickung des Fangbeines des Fangschreckenkrebses und dem Ziel (Schneckengehäuse). Dieses Phänomen nennt man „Kavitation“: Sehr schnelle Bewegungen im Wasser können einen Unterdruck erzeugen, der Dampfblasen hervorbringt, die wiederum sofort kollabieren und dabei viel Energie freisetzen – in Form von Wärme, Licht und Schall. Dies ist auch bei rotierenden Schiffsschauben und Turbinen zu beobachten. Die Kavitation führt dazu, dass Fangschreckenkrebse mit einem Hieb quasi zweimal zuschlagen: das erste Mal, wenn das Fangbein auf das Gehäuse prallt, und das zweite Mal, wenn die Druckwelle der implodierenden Kavitationsblase eintrifft.

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Abb. 2: Fangbein des Fangschreckenkrebses. Aus Patek (2016), mit freundlicher Genehmigung von American Scientist.

Um sich bei dem gewaltigen Aufprall nicht selbst Schaden zuzufügen, ist die Keule der Fangschreckenkrebse, mit dem sie diesen Schlag ausführen, aus perfekt abgestimmten Materialien aufgebaut: Die äußere Schicht der Keule vorwiegend aus Phosphorverbindungen wie Kalziumphosphat und Kalziumkarbonat macht sie sehr hart und sie ist stark mineralisiert. Im Inneren der Keule herrscht eine starke Schichtung vor, was die Eigenschaft und den Vorteil aufweist, dass die Energie des Aufpralls effektiv zerstreut wird und Mikrorisse im Inneren statt an der Oberfläche entstehen.

Mit dieser Technik ist der Clown-Fangschreckenkrebs fähig, eine der schnellsten Bewegungen auf unserem Planeten auszuführen – diese Fähigkeit ist ohne die verschiedenen perfekt aufeinander abgestimmten anspruchsvollen Komponenten undenkbar. Durch die Erkenntnisse, die an den Fangbeinen gewonnen wurden, profitieren nicht allein Physik, Ingenieurwesen und Ökologie – sie bieten auch einen klaren Hinweis für eine durchdachte Schöpfung.

M. Kurz

[Patek S (2016) Die schnellsten Bewegungen von Lebewesen. Spektr. Wiss. 2/2016, S. 20-27.]


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Die von Ernst Heackel 1866 als Naturgesetz beschriebene Behauptung, dass Organismen während ihrer frühen Individualentwicklung (Embryogenese, Fetogenese) einen Formwandel durchlaufen, welcher ihre Stammesgeschichte widerspiegelt, galt bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts als wissenschaftlich widerlegt (Ullrich 1998). Vor allem vergleichend-anatomische und erste experimentelle Untersuchungen konnten zeigen, dass die deskriptiven und die kausalen Aussagen des Biogenetischen Grundgesetzes falsch sind, d. h. sowohl die bloßen Beschreibungen der embryonalen Prozesse als auch die behaupteten Ursachen dafür haben sich als nicht haltbar erwiesen. Unbeeindruckt von immer wieder aufflammender Kritik (z. B. Richardson et al. 1997) überlebte der Gedanke, in Embryonen doch das Bild ihrer stammesgeschichtlichen Vorfahren zu sehen, auch das 20. Jahrhundert. Eine interessante Studie von L. Sallan (2016) an fossil erhaltenen Fischembryonen des Knochenfisches Aetheretmon, der zuletzt in 350 Millionen Jahre alt datierten Sedimenten gefunden wurde, zeigt eindrucksvoll, dass deren frühe Entwicklungsstadien speziell in der Schwanzregion bis in den mikroskopischen Bereich hinein keine Unterschiede zu denen moderner Knochenfische aufweisen (Abb. 1). Hätte Haeckel recht, müssten diese urtümlichen Fische in ihrer frühen Entwicklung primitivere Stadien aufweisen, die ihrer hypothetischen Stammesgeschichte entsprechen, so die Autorin. Doch deren Entwicklung ist genauso modern wie die der heutigen Knochenfische.

Die Berufung auf Haeckels Biogenetisches Grundgesetz (auch in seiner abgeschwächten Form als Grundregel) dokumentiert ein immer wieder zu beobachtendes Phänomen bei der Interpretation naturhistorischer Fakten: Eingängige Hypothesen überleben auch vielfache Schwächung oder gar ihre Widerlegung. Ob der durch Sallan erneut erfolgte Nachweis der Falschheit der Behauptungen Haeckels tatsächlich dazu führen wird, dass diese als Erklärungsansatz aus wissenschaftlichen Artikeln, populären Medien, Schul- und Lehrbüchern verschwinden, ist allerdings fraglich.

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Abb. 1: Phylogenie und kaudale Ontogenese bei den Strahlenflossern. Der Vergleich ontogenetischer Stadien der Schwanzentwicklung bei heute lebenden Strahlenflossern mit fossil erhaltenen Stadien ihrer hypothetischen Vorfahren ist nahezu identisch. Die heute beobachtbare Ontogenese der Schwanzregion kann deshalb keine Rekapitulation der Phylogenese sein. Die embryonalen Anlagen und die endgültigen Schwanzflossen sind blau, während die ontogenetischen Anlagen und die endgültigen Strukturen des Schwanzes fossiler Formen als Verlängerung der Wirbelsäule und die dazugehörigen Flossen-/Dermalstrukturen rot dargestellt sind. A Hypothetische phylogenetische Abfolge der Strahlenflosser (Actinopterygii) unter Berücksichtigung der Baupläne der Schwanzregionen der jeweiligen ausgewachsenen Gattungen (Details einzelner Formen siehe auch E-H). B Ontogenetische Stadien der Entwicklung der Schwanzregion beim heute lebenden Hecht (Maßstabsbalken = 1 mm), die man als Rekapitulation interpretieren könnte. C Fossil erhaltene, embryonale und ausgewachsene Entwicklungsstadien der Schwanzregion von Aetheretmon. D Die kaudale Ontogenese des Kugelfisches Monotrete (Schwarze Skalenleisten = 0,5 mm). (Aus Sallan 2016, mit freundlicher Genehmigung)

H. Ullrich

[Richardson MK et al. (1997) There is no highly conserved embryonic stage in the vertebrates. Anat. Embryol. 196, 91-10 • Sallan L (2016) Fish ‘tails’ result from outgrowth and reduction of two separate ancestral tails. Curr. Biol. 26, 1224-1225 • Ullrich H (1998) Die Wiederentdeckung eines Irrtums. Individualität und Variabilität von Wirbeltierembryonen im Konflikt mit phylogenetischen Konzeptionen. Stud. Integr. J. 5, 3-6.]


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Der Mars ist noch lebensfeindlicher als bislang gedacht: Denn Perchlorate an der Marsoberfläche verstärken die bakterizide Wirkung des UV-Lichtes. Dies schließen Wadsworth & Cockell (2017) aus Laborversuchen, bei denen sie Bakterien den nachgestellten Bedingungen der Marsoberfläche aussetzten.

Die Studie bezieht sich auf ältere Analyse-Daten, Bodenproben des Phoenix Mars Lander (2008) sowie Spektralanalysen des Mars Reconnaissance Orbiter (2015). Die Konzentration der Perchlorat-Anionen (ClO4) in den Bodenproben betrug zwischen 0,4-0,6 Gew.-%.

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Abb. 1: Der NASA-Marsrover Curiosity bei der Arbeit auf der Marsoberfläche, „Bagnold-Dünenfeld“. Die Szene ist aus 57 Bildern zusammengesetzt, ohne Arm des Rovers. (Foto/Credit: NASA/JPL-Caltech/MSSS; 19. Januar 2016)

Die zahlreichen Versuchsreihen waren ausnahmslos mit Zellen des Bakteriums Bacillus subtilis durchgeführt worden. Zuerst wurden die Mikroben in einer mit Magnesiumperchlorat angereicherten Lösung (0,6 Gew.-%) UV-bestrahlt. Während nach 30 Sekunden die Vitalität vollständig verloren ging, war die Kontrollgruppe ohne Magnesiumperchlorat (erst) nach 60 Sekunden vollständig sterilisiert. Dann wurde die „felsige“, silikatische Umgebung der Marsoberfläche nachgestellt. Im Vergleich zur Lösung erfolgte die Sterilisation etwas langsamer, der verstärkende Perchlorat-Effekt war ebenfalls zu beobachten. Beim Austesten weiterer Mars-relevanter Umweltparameter wie z. B. anaerobe Konditionen und polychromatische Bestrahlung trat bei niedriger Temperatur (4 °C) ein verzögernder Effekt ein, aber letztlich wirkten die bestrahlten Perchlorate bakterizid. Eine Verringerung der Perchlorat-Konzentration um eine Größenordnung hatte keinen Einfluss auf die Wirkung, eine Erhöhung dagegen verringerte die Zeitdauer bis zum Komplettverlust der Vitalität. Schließlich wurde der Einfluss weiterer Bestandteile des Marsbodens wie Sulfate und Eisenoxide getestet.

Zusammenfassend stellen Wadsworth & Cockell (2017) fest, dass die heutige Oberfläche des Mars in hohem Maße Zellen-schädigend sei. Grund dafür sei ein toxischer Cocktail aus Oxidanzien, Eisenoxiden, Perchloraten und UV-Strahlung. Demnach ist die Marsoberfläche für Mikroben nicht nur lebensfeindlich, sondern tödlich.

Einige Wissenschaftler vertreten die Ansicht, dass mit dem damaligen Viking-Release-Experiment (1976), einem „Stoffwechsel-Experiment“, stoffwechselbedingte (mikrobielle) Aktivität – stellvertretend für mikrobielles Leben – in einer Bodenprobe (möglicherweise) nachgewiesen wurde (vgl. Levin & Straat 2016). Die Ergebnisse dieser Studie lassen diese Schlussfolgerung allerdings nicht zu.

Zur Frage eines (mikrobiellen) Lebens auf dem Mars gilt festzuhalten: Auf dem Mars ist bisher kein (mikrobielles) Leben gefunden bzw. direkt oder indirekt nachgewiesen worden – weder rezent (gegenwärtig lebend) noch fossil. Deshalb haben auch aktuelle Mars-Missionen einen anderen Fokus. Die Mission Mars Science Laboratory (MSL) mit dem Rover Curiosity (engl.: Neugier, Abb. 1) nämlich hat das Ziel, bewerten zu können, ob der Mars jemals eine Umgebung hatte, die mikrobielles Leben hätte unterstützen können. Mit NASA-Worten: eine Bewohnbarkeit („habitability“) festzustellen. Dies wird seitens der NASA bejaht (12. März 2013): Der Rover habe solche Konditionen gefunden. Eine Gesteinsprobe, ein feinkörniger Tonstein, aus der Yellowknife Bay im Gale-Krater wird als solche interpretiert. Dies aber ist weder ein Nachweis noch ein Indiz für einstmaliges (mikrobielles) Leben auf dem Mars.

M. Kotulla

[[Levin GV & Straat PA (2016) The case of extant life on Mars and its possible detection by the Viking Labeled Release Experiment. Astrobiology 16, 798-810 • Wadsworth J & Cockell CS (2017) Perchlorates on Mars enhance the bacteriocidal effects on UV light. Sci. Rep. 7, doi:10.1038/s41598-017-04910-3 • Links: NASA: www.nasa.gov/mission_pages/msl/index.html]



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Studium Integrale Journal 24. Jg. Heft 2 - Oktober 2017