Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 23. Jg. Heft 1 - Mai 2016
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Die elementaren Grundlagen von Zellen verstehen:
minimale Zellen und minimale Genome

von Harald Binder

Studium Integrale Journal
24. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2017
Seite 111 - 114


Zusammenfassung: Die heute verfügbaren Methoden zur Analyse und Synthese von DNA-Makromolekülen bis hin zum kompletten Erbgut (von Mikroorganismen) eröffnen Möglichkeiten, Lebewesen nachhaltig zu manipulieren. Mit dem Konzept des Minimalgenoms versuchen Biowissenschaftler einen elementaren Organismus zu erzeugen, der nur die allernötigsten Funktionen aufweist. Die Hoffnung ist, dass neben der technischen Nutzung solcher Minimalzellen diese zu einem grundlegenden Verständnis des Phänomens „Leben“ beitragen.




Der Weg zum ersten synthetischen Genom

John Craig Venter – ein extrovertierter amerikanischer Biochemiker und umtriebiger Unternehmer – hat mit Mitarbeitern grundlegende und spektakuläre Beiträge zur genetischen Analyse (DNA-Sequenzierung) von Lebewesen einschließlich des Menschen geleistet. Venter hat 2006 vier von ihm (mit-) gegründete Institutionen in einem Institut unter seinem Namen vereinigt: J. Craig Venter Institute (JCVI). Schon 1995 hatten die Forscher die Genomsequenz von Mycoplasma genitalium veröffentlicht, dem Mikroorganismus mit dem kleinsten Erbgut, das autonomes Leben im Labor in Kulturmedien ermöglicht (Fraser et al. 1995). 13 Jahre später präsentierten sie die Synthese dieses Genoms, das 582 970 Basenpaare (bp) umfasst (Gibson et al. 2008). Dabei hatten sie sich im Labor durchaus biotechnischer Methoden bedient: Sie nutzten E. coli-Bakterien und Hefezellen, um Bruchstücke des Erbguts unterschiedlicher Größe zu klonen. Bis heute ist es nicht möglich, allein mit chemischen Synthesemethoden Makromoleküle dieser Größe zuverlässig zusammenzubauen.

Gibson et al. (2010) berichteten über die erfolgreiche Transplantation eines umfangreicheren, ebenfalls synthetisch erzeugten Mycoplasma-Genoms in Mycoplasma capricolum-Zellen. Die Autoren konnten den Nachweis erbringen, dass Zellen aus M. capricolum-Kulturen nach entsprechender Behandlung das synthetische Genom in die Zellen aufgenommen haben und dass ihr Stoffwechsel nun durch letzteres und nicht mehr durch das ursprüngliche Erbgut gesteuert wird. Es handelt sich also um eine massive Genmanipulation an Mikroben; das gesamte Erbgut wurde verpflanzt. Wie in den entsprechenden Bakterienzellen das ursprüngliche Erbgut abgeschaltet wurde und das synthetische dessen Funktion übernommen hat, ist im Detail noch nicht verstanden. Den neuen, durch Genomtransplantation erzeugten Organismus nannten Gibson et al. Mycoplasma mycoides JCVI-syn1.0.

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Auf der Suche nach dem kleinstmöglichen Erbgut

In einer weiteren Veröffentlichung dokumentieren Hutchison III et al. (2016) misslungene Versuche, auf der Grundlage biologischer Kenntnisse ein kleinstmögliches Genom, ein sogenanntes Minimalgenom, zu synthetisieren und dessen Funktionalität durch Transplantation in Zellen, die sich dann weiter vermehren sollten, zu demonstrieren. Das sehr prominent besetzte Forscherteam am JCVI konnte keine lebensfähigen Zellen mit transplantierten minimalen Genomen vorweisen. In einem Begleitbeitrag (Service 2016) wird Venter mit den Worten zitiert: „Wir sind gescheitert. … Ich war überrascht.“ Für ihn ist klar, dass „unsere gegenwärtige biologische Kenntnis nicht ausreicht, sich hinzusetzen, um einen lebenden Organismus zu konstruieren und ihn dann zu bauen.“1

In derselben Arbeit beschreiben Hutchison III et al. darüber hinaus eine erfolgreiche Strategie, mit der sie in zyklischen Verfahren testen, welche Gene der Mikroorganismen verzichtbar sind, ohne dass die Vitalität der Organismen verloren geht; diese Gene werden als nichtessenzielle Gene bezeichnet.2 Das ringförmige Chromosom von M. mycoides JCVI-syn1.0 enthält 1 077 947 bp und 901 Gene. Dieses Genom konnten Hutchison III et al. auf 531 490 bp – also im Umfang halbiert – und 473 Gene reduzieren – bei Erhaltung der Lebensfähigkeit. Dieses reduzierte Chromosom wiederum konnte erfolgreich synthetisiert und in andere Mycoplasma-Zellen transplantiert werden. Dieser Organismus, der als JCVI-syn3.0 bezeichnet wird, ist derzeit derjenige mit dem kleinsten Genom. In Laborkulturen wurden die Reproduktionsraten der beiden genomtransplantierten Organismen bestimmt. Die Verdopplungszeiten betragen für JCVI-syn1.0 63 Minuten und für JCVI-syn3.0 178 Minuten. (Zum Vergleich: Die Verdopplungszeit für E. coli liegt je nach Stamm bei ca. 20 Minuten.) Das reduzierte Genom macht sich also in verringerter Vitalität bemerkbar, z. B. in der reduzierten Verdopplungsrate.

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Das Konzept des Minimalgenoms
Abb. 1: Dem Minimalgenom kann man sich auf die Weise annähern, dass man das Erbgut eines „einfachen“ Mikroorganismus weiter verkleinert und prüft, ob er mit reduziertem Genom noch lebensfähig ist. (Grafik: © Mopic, fotolia.com)

Die hier skizzierten Bemühungen zur Herstellung einer minimalen Zelle bzw. eines Minimalgenoms basieren auf der Idee, dass ein (Mikro-) Organismus, der auf die allernotwendigsten Bestandteile reduziert ist, den Zugang zu einem elementaren Verständnis von „Leben“ eröffnet und wie es funktioniert. J. C. Venter ist als Unternehmer gleichzeitig davon überzeugt, dass sich eine solche Minimalzelle als Chassis – also quasi als Grundlage – für Organismen eignet, die für spezielle technische Aufgaben ausbaufähig und nutzbar ist. Er denkt dabei z. B. an Abbau von Öl (nach entsprechenden Katastrophen an Bohrstellen oder Tankerunfällen auf dem Meer) oder an Biosynthese von Spezialchemikalien.

Glass et al. (2017), Mitarbeiter am JCVI, gebrauchen als Analogie für das Konzept von Minimalzellen die Nutzung des Wasserstoff­atoms durch die Physiker im 19. und 20. Jahrhundert für die Bemühungen, den Aufbau der Materie im subatomaren Bereich zu verstehen. Der in der Physik erfolgreiche reduktionistische Denkansatz soll in den Biowissenschaften zu einem grundlegenden Verständnis des Phänomens „Leben“ verhelfen. Die Minimalzelle sollte das kleinstmögliche Genom aufweisen, in dem kein Gen verzichtbar ist, sodass der Verlust eines beliebigen Bausteins zu ihrem Tod führt; d. h. die Minimalzelle weist keine Redundanz auf. Sobald die ersten Genome sequenziert und verfügbar waren, nutzten Wissenschaftler in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre diese Daten, um durch vergleichende Genomik den Umfang eines Minimalgenoms abzuschätzen. Gil und Mitarbeiter (2004) haben in einer häufig zitierten Arbeit durch Vergleich konservierter Gene von M. genitalium, dem endosymbiontischen Bakterium Buchnera aphidicola (es lebt in Pflanzenläusen; Scherer 2007) sowie E. coli und B. subtilis ein Minimalgenom aus 206 proteincodierenden Genen postuliert. Auch in experimentellen Studien wurde versucht, den Umfang eines Minimalgenoms abzuschätzen. Dazu wurde in verschiedene Mycoplasma-Arten mithilfe von Transposons, das sind sogenannte „springende Gene“, Antibiotikaresistenz3 an nicht vorhersagbaren Stellen im Genom eingefügt. Wird nun die Antibiotikaresistenz in ein vorhandenes Gen eingebaut und dessen Funktion dadurch zerstört, so kann das Bakterium sich nicht mehr vermehren, wenn es sich um ein essenzielles Gen handelt; wird dagegen ein nichtessenzielles Gen zerstört, kann das Bakterium in einem Kulturmedium wachsen, welches das entsprechende Antibiotikum enthält. Glass et al. (2017) stellen die Ergebnisse verschiedener Studien zusammen, wonach die Genome von Mycoplasma nach Abzug der nichtessenziellen4 Gene noch 406 bis 480 Gene enthalten. Die Zahl der nichtessenziellen Gene korreliert mit der Genomgröße (1080 bis 531 Kilobasen; kb) bzw. der Anzahl der Gene (901 bis 473). Mit E. coli und B. subtilis wurden ebenfalls Experimente zur Reduktion des Genoms durchgeführt. Es zeigte sich, dass von beiden Mikroorganismen im Labor auch dann noch lebensfähige Kolonien erhalten werden, wenn ihr Genom um bis zu 35 % reduziert wurde. Diese Studien zielten aber nicht auf die Ermittlung eines Minimalgenoms.

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Hoffnungen und offene Fragen

Für den derzeitigen Kenntnisstand bleibt festzuhalten, dass der Organismus mit dem kleinsten Genom, der in einer Laborkultur wächst, von M. genitalium abgeleitet ist. Die ursprünglichen 507 Gene sind beim M. mycoides JCVI-syn3.0 auf 473 Gene reduziert durch Eliminierung von nichtessenziellen Genen. Von den 473 Genen codieren 438 für Proteine und 35 für RNA. In den Supplementary Materials dokumentieren Hutchison III et al., dass die Eliminierung von 53 der 473 Gene das Wachstum in der Laborkultur nicht beeinflusst, d. h. sie sind möglicherweise ebenfalls nichtessenziell. Glass et al. (2017) schätzen durch Extrapolation der Daten aus den oben genannten Studien das Minimalgenom von M. mycoides JCVI-syn3.0 auf 413 Gene, was 60 nichtessenziellen Genen entsprechen würde (wenn diese entfernt würden, wäre aber vermutlich die Wachstumsgeschwindigkeit der Kultur weiter verringert). Von 149 der 473 Gene ist derzeit die Funktion unbekannt (das sind 31,5 %). Glass et al. bemerken, dass dies „verdeutlicht, wie unvollständig unsere Kenntnis der Zellbiologie wirklich ist. Man muss alle Funktionen der Zellbestandteile kennen, um vollständig zu verstehen, wie Leben durch die Gene der Minimalzelle festgelegt ist.“5

Abb. 2: Welche Komponenten sind für eine denkbar einfache Zelle unverzichtbar, um sie am Leben zu erhalten? (CC BY-SA 3.0)

Eine wirkliche bottom-up-Erzeugung einer Minimalzelle, also ausgehend von elementaren, kleinsten Bausteinen, ist bisher nicht gelungen. Wenn Glass et al. (2017) den Begriff „bottom-up-Design“ im Zusammenhang mit der Synthese des von M. genitalium abgeleiteten Genoms verwenden, so verschleiert dies, dass in dem Projekt zwar die sehr erstaunliche Leistungsfähigkeit der Polynukleotid-Synthese demonstriert werden konnte, aber im Grunde genommen mit großem (bio-)technischem Aufwand das kleinste natürliche Genom nachgebaut wurde. Wenn es eines Tages gelingen würde, eine Minimalzelle mit einem minimalen Genom aus einfachen chemischen Ausgangsprodukten zu synthetisieren, also eine funktionsfähige Zelle, die die typischen Kennzeichen von „Leben“ aufweist; was wäre dann gezeigt? Damit wäre demonstriert, dass unter intelligenter Nutzung modernster biowissenschaftlicher Erkenntnisse und komplexer Laborausstattung die denkbar einfachste Form eines Lebewesens nachgebaut worden ist. Die Frage nach der ursprünglichen Entstehung des Lebens ist grundsätzlich anderer Natur und sie wäre davon nicht berührt oder gar beantwortet.

Der Bau einer Minimalzelle würde beweisen, dass dafür intelligente Nutzung biowissenschaftlicher Erkenntnisse und eine komplexe Laborausstattung nötig ist.

Die Minimalzelle wird typischerweise in engem Zusammenhang mit dem Minimalgenom thematisiert. Dieser Aspekt bringt die derzeit typische Ansicht vieler Biowissenschaftler zum Ausdruck, dass die DNA, das Erbgut, für ein Lebewesen das Wesentliche sei. Dabei ist dies alles andere als gesichertes Wissen, und das DNA-zentrierte Verständnis von Leben wird z. B. von dem prominenten Physiologen Denis Noble scharf kritisiert (Noble 2011). Noch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde eine ganz andere Sicht auf das Phänomen „Leben“ formuliert, wie Friedrich Engels das in den Fragmenten zur „Dialektik der Natur“ zum Ausdruck bringt: „Leben ist die Daseinsweise der Eiweißkörper, deren wesentliches Moment im fortwährenden Stoffwechsel mit der äußeren sie umgebenden Natur besteht und die mit dem Aufhören dieses Stoffwechsels auch aufhört und die Zersetzung des Eiweißes herbeiführt. Wenn es je gelingt, Eiweißkörper chemisch darzustellen, so werden sie unbedingt Lebenserscheinungen zeigen, Stoffwechsel vollziehen, wenn auch noch so schwach und kurzlebig.“

Wie in vielen aktuellen biowissenschaftlichen Studien zur Minimalzelle klingt aber auch bei Engels wie fast selbstverständlich der Gedanke an, dass „Leben“ machbar, synthetisierbar sei. Der Nachweis dafür steht aber nach wie vor aus. Bis heute finden wir „Leben“ in Form von Lebewesen vor, ohne zu wissen, wie das Phänomen „Leben“ ins Dasein kommt; es ist einfach da, wir finden es vor und können es zum Gegenstand unserer Untersuchungen machen. Darüber hinaus sind wir nach wie vor nicht in der Lage, Leben annähernd vollständig zu beschreiben und zu erfassen; wir verstehen es nicht wirklich und können nur Teilaspekte erklären. Die Hoffnung, dass ein Verständnis eines Minimalgenoms – wie auch immer es am Ende aussehen mag – zu einem tieferen Verständnis des Phänomens „Leben“ führt, bleibt bisher jedenfalls unerfüllt. Es ist nicht auszuschließen, dass Leben ein nichtmaterieller Aspekt innewohnt – ein ganz alter Gedanke!

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Anmerkungen

1 „The big news is we failed,“ Venter says. „I was surprised.“ Neither chromosome produced a living microbe. It‘s clear, Venter says, that „our current knowledge of biology is not sufficient to sit down and design a living organism and build it.“

2 Populärwissenschaftlich wurde die Studie z. B. in Spektrum der Wissenschaft (Ring 2016) aufgearbeitet.

3 Diese dient im Experiment zur Selektion, d. h. man setzt dem Kulturmedium das Antibiotikum zu, sodass nur die Mikroben wachsen können, die die Antibiotikaresistenz integriert haben.

4 Hutchison III et al. (2016) definieren neben den nichtessenziellen Genen (NE) noch quasi-nichtessenzielle Gene (QN).

5 „That we have no clear idea of the functions performed by 149 of 473 genes in the minimal gene set makes it clear how incomplete our knowledge of cellular biology really is. To fully understand how life is specified by the genes of a minimal cell, one must know all of the functions of the cell components.“

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Literatur

Engels F (1962)
Dialektik der Natur. S. 554-568. www.mlwerke.de/me/me20/me20_554.htm.
Fraser CM, Gocayne JD et al. (1995)
The minimal gene complement of Mycoplasma genitalium. Science 270, 397-403.
Gibson DG, Benders GA et al. (2008)
Complete chemical synthesis, assembly and cloning of a Mycoplasma genitalium genome. Science 319, 1215-1220.
Gil R, Silva FJ, Pereto J & Moya A (2004)
Determination of the core of a minimal bacterial gene set. Microbiol. Mol. Biol. Rev. 68, 518–537.
Glass JI, Merryman C, Wise KS, Hutchison III CA & Smith HO (2017)
Minimal cells – real and imagined. Synthetic biology: Tools for engineering biological systems. Cold Spring Harb. Perspect. Biol., doi: 10.1101/cshperspect.a023861.
Hutchison III CA, Chuang R-Y et al. (2016)
Design and synthesis of a minimal bacterial genome. Science 351, aad6253-1 – aad6253-11.
Lluch-Senar M, Delgado J et al. (2015)
Defining a minimal cell: essentiality of small ORFs and ncRNAs in a genome-reduces bacterium. Mol. Syst. Biol. 11, 780.
Noble D (2011)
Neo-Darwinism, the Modern Synthesis and selfish genes: are they of use in physiology? J. Physiol. 598, 1007-1015.
Ring C (2016)
Die Jagd nach dem Minimalgenom. Spektrum der Wissenschaft; www.spektrum.de/news/die-jagd-nach-dem-minimalgenom/1406410 (14. 8. 2017).
Scherer S (2007)
Bakterielle Endosymbionten von Pflanzenläusen mit stark reduzierten Genomen. Stud. Integr. J. 14, 66-73.
Service RF (2016)
Synthetic microbe has fewest gens, but many mysteries. Science 351, 1380-1381.


Studium Integrale Journal 24. Jg. Heft 2 - Oktober 2017