Genetische Mechanismen der Mikroevolution
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Abb. 1: Blau und rot blühende Arten des Bartfadens (Penstemon) werden von verschiedenen Bestäubern besucht. Links die von Bienen bestäubte blau blühende Art Penstemon leonardii (Andrey Zharkikh, CC BY 2.0) Penstemon triflorus (Stan shebs, CC BY-SA 3.0), rechts die von Kolibris bestäubte Art Penstemon barbatus (CC BY-SA 3.0). |
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Zu genau diesen zwei Fragen hat das Forscherehepaar Grant kürzlich einen Übersichtsartikel im Wissenschaftsjournal Science vorgelegt (Grant & Grant 2017). Die Grants sind für ihre langjährige Arbeit mit Darwinfinken auf den Galapagosinseln bekannt. Sie haben bereits früher einiges zur Artbildung geschrieben (vgl. Junker 2012), wobei sie im Allgemeinen ökologische Ansätze verfolgten. Doch auch zur Genetik haben sie viel Interessantes zu sagen.
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Manche Mechanismen beruhen auf bereits vorhandener Variation, bei anderen entsteht neue Variation. |
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In ihrem Artikel stellen sie acht genetische Mechanismen vor, von denen in den letzten Jahren gezeigt werden konnte, dass sie zur Artbildung (Speziation) beitragen können. Zu jedem Mechanismus führen sie Beispiele an. (Weitere Details zu vielen der Beispiele kann man bei Futuyma & Kirkpatrick 2017 finden.) Grob gesagt lässt sich die Liste der Mechanismen in zwei Gruppen aufteilen: Diejenigen, die auf bereits vorhandener Variation beruhen, und die, bei denen neue Variation entsteht.
Mikroevolutive Prozesse, bei denen neue Variation entsteht. Für die Entstehung phänotypischer Variation (d. h. die äußere Gestalt betreffend) sind häufig Gene entscheidend, die die Individualentwicklung (Ontogenese) eines Organismus beeinflussen. Dabei kann es sich z. B. um Transkriptionsfaktoren handeln, die eine Vielzahl anderer Gene regulieren können, oder um Signalmoleküle, die räumliche Muster bei der Embryonalentwicklung festlegen. Ein Beispiel hierfür liefern die Grants aus ihrer eigenen Arbeit: Bei den Darwinfinken gehören Größe und Form des Schnabels zu den artbestimmenden Merkmalen, wobei mehrere der daran beteiligten Gene bekannt sind. Bei einem Gen, HMGA2, konnte zudem eine Verschiebung der Allelfrequenzen (d. h. ihrer Häufigkeiten) in der Population in Zusammenhang mit einem starken Selektionsdruck durch Dürre beobachtet werden.
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Abb. 2: Durch Rückkreuzungen von Mischlingen mit einer der Elternarten kann die Gesamtvariabilität einer Art erhöht werden, hier am Beispiel des Falters Heliconius mit (von oben nach unten) vier Formen von H. numata, zwei Formen von H. melpomene und zwei entsprechenden nachahmenden Formen (Mimikry) von H. erato. (Aus Meyer 2006, CC BY 2.5) |
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Der zweite Mechanismus beruht auf Transposons, den sogenannten „springenden Genen“. Dabei handelt es sich um DNA-Abschnitte, die sich häufig duplizieren und an neue Stellen des Genoms einfügen. Sie sind in der Natur überaus häufig: Fast die Hälfte des menschlichen Genoms besteht aus Kopien verschiedener Transposons. Nun kann es passieren, dass ein Transposon sich beim Kopieren in ein anderes Gen einfügt und dieses dadurch verändert oder ausschaltet. So entstand etwa die dunkle Form des ansonsten hellen Birkenspanners, dessen Industriemelanismus das wohl bekannteste Fallbeispiel natürlicher Selektion ist.
Der dritte Mechanismus ist die Inversion. Hin und wieder passiert es, dass während der Genomduplikation ein Stück eines Chromosoms herausbricht und dann verkehrt herum wieder eingesetzt wird. Diesen Mechanismus hat man beim Kampfläufer, einem nordeuropäischen Watvogel, nachweisen können. Die Männchen dieser Art kommen in drei Variationen vor, die beim Balzverhalten von Bedeutung sind und ursprünglich auf eine große Inversion zurückgehen.
Als viertes sind Mehrfachmutationen zu nennen: Akkumulationen kleiner, unabhängiger Mutationen, die jede für sich häufig nur ein einziges Basenpaar betreffen, aber zusammen einen größeren Effekt haben. Das wurde z. B. bei einer Population nordamerikanischer Hirschmäuse beobachtet, die anders als die meisten ihrer Artgenossen auf hellem sandigen Boden leben. Hier kam es zu einer Ansammlung von Mutationen in einer Genregion, die die Fellfärbung bestimmt, wodurch die Mäuse insgesamt heller wurden und somit besser getarnt waren.
Auch Verlustmutationen können evolutionär von Bedeutung sein. Bei manchen Pflanzengattungen kann es zu plötzlichen Änderungen der Blütenfarbe kommen, so z. B. bei Ipomoea und Penstemon (Abb. 1). In diesen Fällen ist der Farbumschlag von Blau nach Rot sehr viel häufiger als umgekehrt. Grund dafür ist, dass die Rotfärbung durch eine Verlustmutation in der Anthocyan-Produktion entsteht, die nur schwer reversibel ist. Da bei diesen Pflanzen Individuen mit blauen Blüten von Bienen bestäubt werden, solche mit roten Blüten jedoch von Kolibris, kann auch eine solch simple Mutation den Anstoß zur Artaufspaltung geben.
Prozesse, die auf bereits vorhandener Variation beruhen. Die drei übrigen Mechanismen setzen voraus, dass bereits genetische Variation vorhanden ist. Das ist etwa bei der parallelen Evolution nah verwandter Arten der Fall. Das hier angeführte Fallbeispiel ist der Dreistachlige Stichling, ursprünglich ein Salzwasserfisch, der nach der letzten Eiszeit in viele Süßwassergewässer vordrang. Dabei wurden die neuen Populationen isoliert, entwickelten sich jedoch fast überall in gleicher Weise weiter und bildeten auf gleichem genetischen Weg je eine Oberflächen- und eine Tiefwasserform aus, die sich durch die Anzahl von Panzerplatten und Bauchstacheln unterscheiden.
Manchmal passiert es auch, dass Arten, die in neue Umgebungen kommen, auf einmal eine Variation zeigen, die bis dahin versteckt war. Man spricht dann von kryptischer Variation. Beispielsweise kann das Gen, das die Augengröße des Mexikanischen Höhlenfisches bestimmt, seine volle Wirkung erst in dunklen Höhlengewässern entfalten. Hier ist jedoch noch vieles unbekannt.
Der letzte Mechanismus ist schließlich die Rückkreuzung, auf Englisch introgressive hybridization. Diese findet statt, wenn ein Mischling zweier Arten sich wiederum mit einer seiner Elternarten kreuzt. Dadurch kann genetische Variation der einen Art in den Genpool der anderen Art überführt und somit die Gesamtvariabilität der zweiten Art erhöht werden. Für dieses Phänomen gibt es viele Beispiele, etwa die Flügelfärbung bei Faltern der Gattung Heliconius (vgl. Abb. 2) oder die Insektizidresistenz bei Anopheles-Mücken. Auch bei Menschen soll es eine Rolle gespielt haben: Die heutigen Einwohner des tibetanischen Hochlandes weisen genetische Ähnlichkeiten mit den Denisovaner-Frühmenschen auf, die wohl durch Hybridisierung zustande kamen. Besonders spannend ist die Rückkreuzung, wenn dadurch Phänotypen entstehen, die außerhalb der Variationsbreite beider Elternarten liegen, was vermutlich auf eine Neukombination von Genen zurückzuführen ist. So konnte z. B. die Sonnenblumen-Art Helianthus paradoxus Salzwiesen besiedeln.
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