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Streiflichter


Studium Integrale Journal
24. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2017
Seite 53 - 64




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Abb. 1: Die Wüstenameise Cataglyphis fortis ist eine Meisterin in Navigation. (Foto: R. Wehner, aus Nature 411, 752, Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

Ameisen sind nicht nur fleißig und stark, sie sind auch flexibel. Wenn die Last selbst den kraftstrotzenden Sechsbeinern zu schwer zum Tragen wird, schalten sie auf Rückwärtsgang und „Allradmodus“ um.

Ameisen sind stark! Das sieht man auch am Artnamen der Wüstenameise Cataglyphis fortis, die von Neurobiologen der Universität Ulm in den lebensfeindlichen tunesischen Salztonebenen untersucht wurde. Weil sie bis zum Zehnfachen ihres eigenen Körpergewichts tragen können, kommen sie eher selten in Verlegenheit beim Abtransport von Nahrung. Falls die Kraft für das Tragen nicht mehr ausreicht, gehen sie erstmal auf Schieben über, und nur im Extremfall verlegen sie sich aufs Ziehen, wobei sie natürlich mit dem Hinterteil voran laufen müssen. Die Ulmer Wissenschaftler untersuchten, wie die Ameisen das Rückwärtslaufen bewerkstelligen und auch, wie sie sich dabei orientieren, da ja Fühler und Augen in die falsche Richtung orientiert sind.

An Ameisenstraßen im Haus kann jeder selbst beobachten, dass die Eindringlinge sich an nur schwer entfernbaren Geruchsspuren (Pheromonen) orientieren. Bei der Nahrungssuche in der Wüste scheint das bei Cataglyphis nicht der Fall zu sein. Vielmehr fanden die Wissenschaftler heraus, dass sich die schnellen und tagaktiven Wüstenameisen am Landschaftspanorama orientieren und den Stand der Sonne und den Polarisationsgrad des Lichtes als Kompass nutzen. So finden sie gleichermaßen zielstrebig zum Nest zurück, unabhängig davon, ob sie vorwärts oder rückwärts unterwegs sind. Als besonders erstaunlich stellte sich heraus, dass die Wüstenameisen zusätzlich einen Schrittzähler nutzen, dessen Vektor-Auswertung vielfach komplizierter sein muss als die der gerade so beliebten Fitness-„wearables“, insbesondere wenn sich die Ameisen mit unkoordiniert erscheinenden Schrittfolgen im Rückwärtsgang bewegen.

Normalerweise sind beim Vorwärtslaufen immer das Vorder- und Hinterbein einer Seite und das Mittelbein der gegenüberliegenden Seite neuronal gekoppelt.

Auf diese Weise ist eine schnelle Fortbewegung möglich. Das ändert sich auch beim Tragen von Lasten im Vorwärtsgang nur wenig, und auch im Rückwärtsgang können Ameisen im Prinzip noch „tripod“ laufen (Videos zu den verschiedenen Fortbewegungsarten: http://datadryad.org/resource/doi:10.5061/dryad.7k82t). Wenn es dann beim Rückwärts-Schleppen aber wirklich schwer wird, wird das Schrittmuster unregelmäßig. Die verschiedenen Beine zeigen unterschiedliche Schrittlängen und -frequenzen, wobei entgegen der Erwartung beides nicht gegenläufig korreliert. Die schiebenden Vorderbeine machen die kleinsten Schritte, die vorangehenden Hinterbeine die längsten. Die Dreibein-Koppelung wird aufgehoben und jedes Bein wird separat angesteuert, wobei zumeist fünf der sechs Beine Kontakt zum Boden halten. So schaffen es die Ameisen, auch schwerste Lasten zum Nest zu transportieren.

In diesem Punkt ist das Design der Ameisen offensichtlich anders als unser technisches, wo z. B. bei Traktoren gerade, wenn es schwer wird, die Differenzialsperre eingelegt wird, um über Achsen zu koppeln, während die Ameisen in dieser Situation entkoppeln. Vielleicht sollte man den Ratschlag aus den Sprüchen der Bibel „geh zur Ameise, Fauler, sieh an ihr Tun und lerne von ihr“ einmal in Bezug auf das Ameisendesign verstehen: Eventuell ergeben sich durch die Bionik neue Ideen für technische Lösungen zur Arbeitserleichterung.

H.-B. Braun

[Pfeffer SE, Wahl VL & Wittlinger M (2016) How to find home backwards? Locomotion and inter-leg coordination during rearward walking of Cataglyphis fortis desert ants. J. Exp. Biol. 219, 2110-2118 • Pfeffer SE & Wittlinger M (2016) How to find home backwards? Navigation during rearward homing of Cataglyphis fortis desert ants. J. Exp. Biol. 219, 2119-2126]


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Flexibilität ist ein typisches Merkmal von Lebewesen, ohne die sie in wechselnden Lebensumständen gar nicht lebensfähig wären. Immer mehr Befunde deuten darauf hin, dass Lebewesen ein programmiertes Potenzial von Anpassungsmöglichkeiten besitzen, das ihrer Art hilft, bei Umweltstress zu überleben. Zum einen besitzen Lebewesen Plastizität; damit sind Fähigkeiten gemeint, die Lebewesen als Antwort auf besondere Umweltreize abrufen können, ohne dass das Erbgut dabei verändert wird (Beispiel: verdickte Hornhaut bei mechanischer Beanspruchung). Diese Änderungen werden typischerweise nicht an die Nachkommen weitergegeben (außer bei epigenetischer Vererbung, die einige Generationen lang möglich ist; vererbt wird allerdings das Potenzial zur individuellen Anpassung).

Lebewesen können aber auch im Laufe einiger Generationen neue Fähigkeiten durch vererbbare genetische Veränderungen (Mutationen) entwickeln. Bekannte Beispiele sind Antibiotikaresistenzen. Die neuen Fähigkeiten erfordern dabei keine grundlegenden Innovationen, sondern beruhen auf der Komplexität (inklusive Redundanz) vorhandener Stoffwechselwege. Sie sind oft innerhalb weniger Generationen verfügbar, was darauf hindeutet, dass ein gewisses Potenzial an Mutationen ausgelöst werden kann, das sich bei starken Umweltveränderungen günstig auswirken kann. Diese Änderungen könnten in einem weiten Sinne als Vorprogrammierung verstanden und interpretiert werden.

Das Bild kann online nicht zur Verfügung gestellt werden.
Abb. 1: Killifisch Fundulus heteroclitus (http://www2.dnr.cornell.edu/cek7/nyfish/
Cyprinodontidae/mummichog.html)

Ein Beispiel dieser Art untersuchten Reid und Mitarbeiter (2016) beim Killifisch (Fundulus heteroclitus). Diese Fischart lebt an der Atlantikküste Nordamerikas in einem an vielen Stellen durch Dioxine, Schwermetalle und andere (giftige) Chemikalien stark kontaminierten und somit verschmutzten Lebensraum. Die vorherrschenden Konzentrationen sind für viele Wasserorganismen tödlich, aber einige Killifisch-Populationen haben sie überlebt, sie vertragen eine bis zu ca. 8000-fache Konzentration von schädlichen Stoffen im Vergleich zu ihren Artgenossen, die den Giftstoffen nicht ausgesetzt sind.

Genetische Untersuchungen an 384 Exemplaren aus sauberen und verschmutzten Gewässern offenbarten eine interessante Kombination von Befunden und Veränderungen:

  1. Die Fische in nicht verseuchten Gewässern haben große Populationen und große genetische Vielfalt.
  2. Die in verseuchten Gewässern lebenden Fische besitzen eine geringere genetische Vielfalt. Das ist nicht überraschend und lässt sich dadurch erklären, dass ihre Population zwischenzeitlich stark dezimiert wurde und dadurch nur ein Teil der früheren Vielfalt erhalten blieb.
  3. Bei den betreffenden Tieren treten Verlustmutationen von Komponenten des Signalwegs des AHR-Rezeptors (aryl hydrocarbon receptor) auf. Diese Verluste sind insofern vorteilhaft, als an diese Rezeptoren unter anderem Dioxine und Phenylverbindungen andocken. Damit wird gewissermaßen eine Einbruchsstelle für tödliche Veränderungen eliminiert.
  4. Allerdings wird der AHR-Rezeptor auch für Signalwege benötigt, die den Hormon- und Sauerstoffhaushalt, den Zellzyklus und das Immunsystem regulieren. Doch einige Mutationen ermöglichen die Kompensation für das Fehlen der stillgelegten Gene durch andere Stoffwechselwege – eine Art „Umgehungsstraße“. Ein Backup ist somit durch wenige Veränderungen möglich.

Es zeigt sich also, dass eine Kombination aus anfänglicher großer genetischer Vielfalt, Verlust und Kompensation das Überleben ermöglichen. Tobler & Culumber (2016) kommentieren (in Übersetzung): „Bereits bestehende genetische Variation erleichterte eine schnelle Anpassung an giftbelastete Umgebungen dadurch, dass vorhandene vorteilhafte genetische Varianten rekrutiert wurden, sodass eventuelle Zeitverzögerungen vermieden werden können, die auftreten könnten, wenn evolutive Antworten von neu auftretenden günstigen Mutationen abhängig wären.“

Ein weiterer Befund scheint darauf hinzudeuten, dass die Änderungen in gewisser Weise vorprogrammiert sind: Die Killifische mussten sich zwar in unterschiedlichen Regionen völlig unabhängig voneinander an die Verschmutzungen anpassen, aber dennoch sind die einzelnen Populationen auf genetischer Ebene erstaunlich ähnlich. Bei ganz zufälligen Änderungen ist das nicht zu erwarten. Eine Programmierung kann zwar naturwissenschaftlich nicht bewiesen werden, aber die Befunde sind damit besser verträglich als mit einem reinen Zufallsszenario. Die Schnelligkeit der Veränderungen führen die Wissenschaftler darauf zurück, dass der variable Anteil in den Fischgenomen besonders hoch ist; ein Umstand, der auch bei pestizidresistenten Insekten bekannt ist (Albat 2016). Das Beispiel zeigt, dass Resistenzen keine neuen Proteine oder Stoffwechselwege benötigen, sondern dass sogar Verluste zum Überleben beitragen können.

R. Junker

[Albat D (2016) Fischige Anpassungskünstler. http://www.wissenschaft.de/leben-umwelt/biologie/-/journal_content/56/12054/14988471/Fischige-Anpassungs k%C3%BCnstler/ • Reid NM, Proestou DA, et al. (2016) The genomic landscape of rapid repeated evolutionary adaptation to toxic pollution in wild fish. Science 354, 1305-1308; doi: 10.1126/science.aah4993 • Tobler M & Culumber ZW (2016) Swimming in polluted waters. Science 354, 1232-1233, doi: 10.1126/science.aal3211]


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Der sogenannte „Spitzpanzer“ – Acanthostega (Abb. 1) – aus dem Oberdevon spielt eine prominente Rolle in evolutionären Hypothesen zur Entstehung der Tetrapoden (Vierbeiner) ausgehend von Fischen. Denn er lebte zwar wie Fische ausschließlich im Wasser, besaß aber Finger und damit ein typisches Vierbeiner-Merkmal.

Eine detaillierte Neu-Untersuchung von 200 fossilen Acanthostega-Knochen und 14 Schädel-Fossilien dieser Gattung zeigte nun, dass es sich dabei fast ausnahmslos um Jungtiere handelt (Sanchez et al. 2016; vgl. Fröbisch 2016). Das macht die Beurteilung der Lebensweise der ausgewachsenen Formen schwieriger, als sie ohnehin schon war. Die neuen Befunde sprechen dafür, dass die Tiere im Jugendstadium nicht in der Lage waren, an Land zu kriechen. Die Funde stammen von mindestens 20 Individuen und befinden sich alle in einem kleinen Areal der Britta-Dal-Formation des Oberdevons Ostgrönlands; Sanchez et al. (2016) vermuten, dass sie gemeinsam bei einer Dürre nach einer Schichtflut verendet sind.

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Abb. 1: Modell von Acanthostega (Staatliches Museum für Naturkunde in Stuttgart, CC BY-SA 3.0)

Anders als in populärwissenschaftlichen Darstellungen behauptet, ist das aber keine neue Erkenntnis. Denn schon bisher deuteten viele anatomische Merkmale darauf hin, dass Acanthostega ausschließlich wasserlebend war – trotz des Besitzes von acht Fingern, eine ungewöhnliche Merkmalskombination (vgl. zusammenfassende Darstellung bei Junker 2004). Gründe dafür waren u. a.: Die Bezahnung gleicht insgesamt zeitgenössischen Fleischflosser-Fischen und keinem Tetrapoden, der Schädel ist mit dem Schultergürtel relativ fest verbunden, Acanthostega ähnelt im Kiemenskelett kiemenatmenden Lungenfischen, die Wirbelsäule ist von vorne bis hinten auffallend gleichförmig, ähnlich wie bei Fischen wie dem Quastenflosser Eusthenopteron, eine Verbindung Becken-Wirbelsäule bestand vermutlich nur durch Bänder; die Hüfte konnte dadurch kaum das Körpergewicht tragen; insgesamt wirken die Extremitäten eher als Paddel denn als Füße (Clack 2002, 122-127; vgl. Zusammenfassung bei Junker 2004). Clack (2002, 124) stellt als Gesamteindruck fest: Fast alle Merkmale von Acanthostega legen ein ausschließliches Wasserleben nahe. Die relativ starren Extremitäten waren vermutlich gut geeignet, um mit kräftigen Paddelstößen plötzlich aus der Ufervegetation Beute zu erhaschen. Vermutlich lebte Acanthostega in vegetationsreichen Uferzonen, in denen eine tetrapodenartige Extremität passend war. Wie alle anderen oberdevonischen Tetrapoden ist auch Acanthostega ausschließlich zusammen mit Fischen fossil überliefert (Clack 2002, 110).

Dass es sich um Jungtiere handelt, schließen die Forscher daraus, dass das Oberarmskelett der Tiere noch nicht verknöchert war. Außerdem zeigte eine Untersuchung der inneren Feinstruktur der Knochen mit einem Röntgensynchrotron, dass die Tiere zwar schon sechs Jahre alt und älter waren, ihre Beinknochen aber noch keine Anzeichen für eine Verlangsamung des Wachstums zeigten – ebenfalls ein Hinweis darauf, dass die Tiere noch nicht ausgewachsen waren. Ein knorpeliger Oberarmknochen wäre für die Bewegung an Land ungeeignet gewesen. Sanchez et al. (2016) stellten weiter fest, dass es zwei Größenklassen gab, möglicherweise bedingt durch Entwicklungs-Plastizität (d. h. unterschiedliche Ausprägungen werden durch verschiedene Umweltreize ausgelöst).

Dass Acanthostega wasserlebend war, ist also nicht das Überraschende, wohl aber, dass es sich bei den (nur) in Grönland gefundenen Fossilien um Jungtiere handelt. Damit ist unklar, wie die erwachsenen Tiere ausgesehen haben, welche Rolle sie bei der Entstehung der Vierbeiner gespielt haben könnten und ob sie vielleicht doch auch an Land leben konnten. Die neuen Befunde stellen bisherige Hypothesen in Frage, wonach vermutet worden war, dass die Larven der ersten Tetrapoden die ersten Landgänger waren. Dazu waren die Acanthostega-Jungtiere jedenfalls kaum in der Lage.

Zur Frage nach der Evolution der Vierbeiner steuern die neuen Befunde nichts Wesentliches bei, das nicht schon bekannt war. Es bleibt dabei, dass einzelne Merkmale markant verändert im Vergleich zu potentiellen Vorläufern auftauchen (z. B. im Bereich des Hirnschädels oder der Besitz von Fingern). Das Handgelenk von Acanthostega war späteren Tetrapoden sehr unähnlich (Clack 2002, 137). Neben Merkmalen, in denen Acanthostega abgeleiteter ist als das berühmte Ichthyostega (Carroll 1992, 60), gibt es auch Eigenschaften, bei denen das Umgekehrte zutrifft. Die Wangen und das Schädeldach sind bei Acanthostega und Ichthyostega fest verbunden, im Gegensatz sowohl zu den möglichen Fisch-Vorfahren als auch zu anderen frühen Tetrapoden (Carroll 1992, 60). Das heißt, evolutionär gesehen wäre hier ein Zickzackkurs gefahren worden. Carroll (1992, 60) bemerkt: Verschiedene Spezialisierungen schließen die Möglichkeit einer direkten Vorfahrenschaft für spätere Tetrapoden aus.

Interessant ist auch die Einschätzung von Sanchez zur Bedeutung der neuen Erkenntnisse: „Unsere Studie gibt uns nur einen allerersten Einblick in die Lebensweise eines frühen Tetrapoden. … Wir wollen nun auch die Lebensgeschichte anderer früher Vierbeiner untersuchen. Möglicherweise stoßen wir dabei auf Erkenntnisse, die unser Lehrbuchwissen völlig verändern“ (http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-20592-2016-09-08.html).

R. Junker

[Carroll RL (1992) The primary radiation of terrestrial vertebrates. Annu. Rev. Earth Planet. Sci. 20, 45-84 • Clack JA (2002) Gaining ground. The origin and evolution of Tetrapods. Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press • Fröbisch NB (2016) Evolution: Teenage tetrapods. Nature 537, 311-312 • Junker R (2004) Vom Fisch zum Vierbeiner – eine neue Sicht zu einem berühmten Übergang. Teil 2: Ichthyostega, Acanthostega und andere Tetrapoden des höheren Oberdevons. Stud. Integr J. 11, 59-66 • Sanchez S, Tafforeau P, Clack JA & Ahlberg PE (2016) Life history of the stem tetrapod Acanthostega revealed by synchrotron microtomography. Nature 537, 408-411]


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Das Aussehen vieler Tiere ist darauf ausgelegt, ihre Umgebung möglichst gut nachzuahmen, um darin zu „verschwinden“. Diese als Mimese bezeichnete Strategie findet man sowohl bei Räubern als auch bei Beutetieren – etwa bei der laubähnlich gemusterten Gabunviper oder bei Stabheuschrecken. Von Mimikry spricht man hingegen, wenn eine Spezies einer zweiten sehr ähnlich sieht, um andere Tiere zu täuschen. Ein Paradebeispiel hierfür ist die ungiftige Dreiecksnatter, deren farbenfrohes Muster der gefährlichen Korallenschlange zum Verwechseln ähnlich sieht.

Mimikry findet sich jedoch nicht nur bei Tieren, sondern auch bei manchen Pflanzen. Die Blüte der Hummelragwurz sieht ihrem namensgebenden Insekt so ähnlich, dass männliche Hummeln versuchen, sie zu begatten. Dabei nehmen sie Pollen auf und ersparen der Pflanze somit die kostspielige Nektarproduktion.

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Abb. 1: Kot einer kleinen Antilope (links) und Same von Ceratocaryum argenteum sowie der Dungkäfer Epirinus flagellatus. (Aus Midgley et al. 2015, mit freundlicher Genehmigung)

Südafrikanische Forscher entdeckten kürzlich ein neues Beispiel für pflanzliche Mimikry (Midgley et al. 2015). Ihnen fielen die eigentümlichen Nüsse auf, die ein einheimischer Strauch (Ceratocaryum argenteum) bildet. Verwandte Sträucher verbreiten ihre Nüsse mithilfe kleiner Nagetiere, die diese sammeln und vergraben. Die Nüsse von C. argenteum sind jedoch deutlich größer als die seiner Verwandten und haben außerdem einen penetranten Geruch. Diese Beobachtung brachte die Forscher auf die Idee, dass die Verbreitung in diesem Fall durch Mistkäfer geschehen könnte.

Und tatsächlich: Beobachtungen zeigten, dass die dort heimischen Nager die harten Samen verschmähen. Der Mistkäfer Epirinus flagellatus schien die Nüsse aber mit dem Kot einer kleinen Antilope zu verwechseln (vgl. Abb. 1) und rollte sie weg, um sie unterirdisch zu lagern. Das ist nicht verwunderlich, da die kugelrunden, braunen C. argenteum-Nüsse den Ausscheidungen der Bontebok-Antilope recht ähnlich sehen. Eine chemische Analyse der von den Nüssen abgegebenen Duftstoffe offenbarte überdies deutliche Überlappungen mit denen der Fäkalien.

Damit wäre dies das bislang eindeutigste Beispiel für pflanzliche Mimikry bei der Samenverbreitung. Interessant ist, dass der Käfer sowohl visuell als auch olfaktorisch (durch Geruch) getäuscht wird. Den Betrug merkt er wahrscheinlich erst, wenn er versucht, seine Eier in die vermeintliche Kotkugel abzulegen – diese ist dafür viel zu hart. Der Pflanze gelingt es so, ihre Samen zu verbreiten, ohne sie dem Risiko des Gefressenwerdens auszusetzen. Sehr wichtig ist für sie auch, dass der Mistkäfer die Nüsse im Sand vergräbt. In einer Gegend, die häufig von Feuer heimgesucht wird, sind die Samen im Erdreich sicher und können überleben, auch wenn die Mutterpflanze verbrennt.

D. Vedder

[Reece JB et al. (2016) Campbell Biologie, 10. Auflage. Pearson Deutschland GmbH, Hallbergmoos • Midgley JJ, White JDM, Johnson SD & Bronner GN (2015) Faecal mimicry by seeds ensures dispersal by dung beetles. Nature Plants 1(10):15141. doi:10.1038/nplants.2015.141]


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Leuchterblumen (Ceropegieae) verdanken ihren deutschen Namen ihrer besonderen Blütenform. Die Kelchblätter sind an der Basis verwachsen, die fünf Kronblätter sind typischerweise an ihrer Spitze ebenfalls verwachsen, wodurch manche Blüten Laternen ähnlich sehen (Abb. 1). Zumindest die Blüten einiger Ceropegia-Arten fungieren blütenökologisch als Fallen, d. h. Insekten werden angelockt und zumindest zeitweise festgehalten (s. auch Kutzelnigg 2011). Natürlicherweise sind die Leuchterblumen auf den Kanarischen Inseln, in Afrika, auf Madagaskar, auf der Arabischen Halbinsel, in Indien, China und bis zu den Philippinen, Neuguinea und Australien verbreitet, in Europa können einige gezüchtete Arten erworben werden.

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Abb. 1: Kletternde Leuchterblume (Ceropegia sandersonii) (CC BY 2.5)

Heiduk et al. (2016) haben Einzelheiten des Täuschungsmanövers bei der in Südafrika heimischen kletternden Leuchterpflanze (Ceropegia sandersonii, Abb. 1) untersucht. Nach den Beobachtungen der Autoren gehören winzige Fliegen der Gattung Desmometopa (Familie Milichiidae) zu den hauptsächlichen Bestäubern von C. sandersonii. Desmometopa-Arten leben kleptoparasitisch, d. h. sie leben auf Kosten anderer Lebewesen, indem sie sich an deren Beute bedienen, um sich selbst zu ernähren (kleptein, gr. stehlen). Die Fliegen nehmen die Lymphflüssigkeit und andere Ausscheidungen z. B. von frischen Beutetieren von Spinnen auf. Diese Beutetiere verbreiten offensichtlich spezifische flüchtige Mischungen von Duftstoffen, welche die Desmometopa-Fliegen sehr effizient und rasch anlocken.

Desmometopa-Arten zeigen eine ausgesprochene Vorliebe für Honigbienen. Daher stellten Heiduk und Mitarbeiter für ihre Studie die Hypothese auf, dass die Blüte von C. sandersonii den Duftcocktail von extrem gestressten bzw. frisch getöteten Honigbienen imitieren könnte und diesen wirkungsvoll als Lockstoff für die potenziellen Bestäuber einsetzt.Zunächst entwarfen die Autoren eine spezielle Versuchsanordnung, um einzelne Honigbienen in Stress zu versetzen und die von ihnen abgegebenen flüchtigen Stoffe gaschromatographisch bestimmen zu können. Die Abgabe dieser Stoffe erfolgt durch Drüsen im Bereich des Stachelapparats, die Nasonov- und Mandibeldrüsen. Ebenso wurde die Zusammensetzung der von der C. sandersonii-Blüte freigesetzten Duftstoffe untersucht. Mit Hilfe von elektrophysiologischen Messungen an den Fliegenantennen konnten Heiduk et al. nachweisen, dass die Stoffzusammensetzungen auffällige Ähnlichkeiten zeigten und dass sich die Tiere durch beide Duftcocktails anlocken ließen. Vier Einzelkomponenten der in beiden Quellen auftretenden Stoffgemische, die jeweils in den Fliegenantennen registriert wurden, wurden nachfolgend anhand synthetischer Stoffe auf ihre Wirkung untersucht. Bei den vier Stoffen handelt es sich um Geraniol, 2-Heptanon, 2-Nonanol und (E)-2-Octen-1-yl-acetat. Eine Mischung dieser vier Stoffe war für die Fliegen hoch attraktiv.

Im Fall der Anlockung und Täuschung von Desmometopa-Fliegen durch C. sandersonii-Blüten liegt eine besonders komplexe Kommunikation durch chemische Stoffe vor: Die Blüte imitiert den Geruch sterbender Honigbienen, einer bevorzugten Nahrungsquelle der kleptoparasitischen Fliege, lockt diese dadurch an und provoziert dadurch ihre Befruchtung. Ein wirksames, aber auch aufwändiges Täuschungsmanöver, dessen Ursprung mit vielen Fragen behaftet ist.

H. Binder

[Heiduk A, Brake I, Tschirnhaus M, Göhl M, Jürgens A, Johnson SD, Meve U & Dötterl S (2016) Ceropegia sandersonii mimics attacked honeybees to attract kleptoparasitic flies for pollination. Curr. Biol. 26, 1-7. • Kutzelnigg H (2011) An der Nase herumgeführt. Stud. Integr. J. 18, 89-93.]


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Jedes Kind kennt die Pusteblume (Löwenzahn Taraxacum officinale) und hat seinen Spaß mit den hübschen Fallschirmchen. Von den einzelnen Früchten – sog. Achänen – geht ein Stiel ab, an dessen oberen Ende Hunderte unverzweigte Haare sitzen; alles zusammen bildet den flugtauglichen Schirm. Viele Korbblütler besitzen solche Schirmchenflieger; sie kommen aber auch beim nicht näher verwandten Baldrian (Valeriana) und bei der Spornblume (Centranthus) vor. Sie wurden also mehrfach „erfunden“ – oder nur einmal und dann mehrmals verwirklicht.

Solche Schirmchen gibt es bei den Korbblütlern in unterschiedlichen Ausstattungen. Die üppigsten „Modelle“ sind beim Bocksbart (Tragopogon) ausgebildet. Von dieser Gattung gibt es auch einige Arten in der heimischen Flora. Bei uns häufig anzutreffen ist der Wiesen-Bocksbart (Tragopogon pratensis), der in frühsommerlichen Wiesen durch sehr große Blütenkörbchen auffällt.

Die kegelförmigen Schirmchen des Wiesen-Bocksbarts wurden kürzlich genauer untersucht. Dessen Früchte sind nämlich 10-20 mal so schwer wie die Früchte des Löwenzahns und damit zu schwer, um durch einen Schirm aus einfachen Haaren nennenswert weit transportiert werden zu können. Schwerere Früchte besitzen denn – sofern sie durch Wind verbreitet werden – häufig Tragflächen wie die Früchte von Linde und Esche oder die Propeller des Ahorns.

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Abb. 1: Schirmchen des Wiesen-Bocksbarts (Tragopogon pratensis). (Foto: W. Borlinghaus)

Doch der Bocksbart kann seine schwere Fracht genauso effektiv durch den Wind verbreiten wie der Löwenzahn. Das schafft er dadurch, dass zum einen seine aus Bündeln hohler Fasern bestehenden Haare gefiedert sind – das ist bei manchen anderen Korbblütlern wie den Kratzdisteln auch der Fall –, zum anderen durch ein Verweben der benachbarten Fiederhärchen; das ist das Besondere beim Bocksbart (Abb. 1). Auf diese Weise wird der Fallschirm derart in Form gehalten, dass er größer und tragfähiger werden kann. Mit bis zu 40 mm Durchmesser gehören die Schirmchen des Bockbarts zu den größten des Pflanzenreichs.

Eine Forschergruppe (Casseau et al. 2015) wollte es noch genauer wissen und untersuchte die Aero­dynamik der Schirmchen. Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass engmaschige Netze zwar den Luftwiderstand erhöhen und damit ein weiteres Fliegen ermöglichen könnten, jedoch ausgeprägte Luftwirbel erzeugen, die das Schirmchen aus der Bahn werfen können. Ist das Netz dagegen grobmaschiger, bleibt die Strömung zwar ruhig und ermöglicht eine stabile Flugbahn, doch sinken die Schirmchen aufgrund des geringeren Luftwiderstands schnell zu Boden. Die maximale Reichweite bei gleichzeitiger Flugstabilität wird durch einen Kompromiss erreicht: Das Gewebe aus den Pflanzenfasern darf weder zu dicht noch zu grob sein – so wird das Optimum erreicht. Die Struktur der Schirmchen des Wiesen-Bocksbarts liegt tatsächlich ziemlich genau am Optimum.

Interessant ist auch noch folgende Beobachtung: Die randständigen Früchte sind fast doppelt so schwer wie die Früchte in der Mitte. Wahrscheinlich hängt das mit zwei unterschiedlichen Verbreitungsstrategien zusammen. Die schwereren Früchte können nicht so weit fliegen und landen in der Nähe der Mutterpflanze. Da sie besser keimfähig sind als kleinere Früchte, haben sie dennoch gute Chancen, zu neuen Pflanzen auszuwachsen. Die leichteren Früchte können dagegen mit dem Wind über größere Strecken transportiert werden und ermöglichen es der Pflanze auf diese Weise eher, neue Lebensräume zu besiedeln.

Dass es nicht trivial ist, einen optimalen Schirmchenbau zu erreichen, merken die Forscher am Schluss ihrer Arbeit indirekt an, indem sie schreiben, dass das Design des Bocksbart-Fallschirms als Vorbild zur Erprobung neuer Materialien für die Konstruktion von Fallschirmen dienen könnte. Die Herausforderung bestehe darin, geeignetes Material zu entwickeln, das die erforderliche Durchlässigkeit besitzt. Schon ein Nachbau erfordert also einiges an Überlegung und Planung.

Mehr als Optimierung? Ob die feinen Strukturen der Bocksbart-Schirmchen durch evolutionäre Optimierungsprozesse entstehen können, ist schwer zu beurteilen. Die Autoren sprechen zwar mehrmals davon, dass die speziellen Strukturen der Schirmchen evolviert seien, doch thematisieren sie die zugrundeliegenden Prozesse nicht, sondern beschreiben nur den Istzustand, also den heute verwirklichten Bau. Auffällig häufig verwenden sie eine teleologische Sprache, als ob Evolution Ziele verfolge. Zum Beispiel schreiben sie, dass verschiedene Designs evolviert seien, um eine größere Fracht tragen zu können (S. 12), oder dass der Fallschirm evolviert sei, um einen Luftwiderstand mit interessanten Eigenschaften zu erzeugen (S. 15). Angesichts der Feinheiten im Bau des Schirmchens (Abb. 1) ist es jedoch keineswegs ausgemacht, dass die Grundstruktur durch den Darwin’schen Versuch-und-Irrtum-Mechanismus entstanden ist. Klar ist nur, dass wir es mit einer ausgesprochen zweckmäßigen und für den gewünschten Zweck optimalen Struktur zu tun haben, bei der verschiedene Aspekte genau aufeinander abgestimmt sind.

R. Junker

[Casseau V, De Croon G, Izzo D & Pandolfi C (2015) Morphologic and aerodynamic considerations regarding the plumed seeds of Tragopogon pratensis and their implications for seed dispersal. PLoS ONE 10(5): e0125040. doi:10.1371/journal.pone.0125040]


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Manche Pferde sind in der Lage, von den typischen Gangarten Schritt, Trab und Galopp abweichende Fortbewegungsarten umzusetzen. Dabei werden die vier Beine in jeweils unterschiedlicher Reihenfolge und Kombination für die Vorwärtsbewegung eingesetzt. Tölt (Passgang) als besondere und vergleichsweise bequem zu reitende Gangart der Islandpferde ist ein bekanntes Beispiel.

Die Bewegungskoordination der Extremitäten bei Säugetieren beruht auf einer musterbildenden Verknüpfung von Neuronen in der Wirbelsäule. Das entsprechende neuronale Netzwerk löst die Kopplung der Bewegung sowie den Einsatz der entsprechenden Muskulatur aus. Andersson et al. (2012) konnten zeigen, dass eine Mutation an einem Gen mit der Bezeichnung DMRT3 mit einer veränderten Fortbewegung bei Pferden zusammenfällt. Weiter beschreiben die Autoren, dass bei Mäusen das DMRT3-Gen in bestimmten Neuronen des Rückenmarks ausgeprägt wird. Mäuse, bei denen DMRT3 zerstört ist (Dmrt3-Null-Mäuse) leiden unter gestörter Koordination ihrer Bein- und Fortbewegung.

Die Mutation im DMRT3-Gen – ein Stopp-Codon verursacht ein verkürztes Genprodukt – scheint in der Züchtung der Islandpferde mit ihrem charakteristischen Repertoire an Gangarten von ausschlaggebender Bedeutung gewesen zu sein.

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Abb. 1: Island-Ponys (pixabay)

Basierend auf den genannten Erkenntnissen (Andersson et al. 2012) haben Promerova et al. (2014) die Genome von 4396 Pferden aus 141 Zuchtlinien auf die entsprechende genetische Veränderung hin untersucht und gefunden, dass das entsprechende Allel weltweit und besonders in der Zucht von Rennpferden auftritt. Jüngst haben Wutke et al. (2016) dieser genetischen Besonderheit in Fossilien von Islandponys aus dem mittelalterlichen England nachgespürt. In 90 untersuchten alten Pferdeproben fanden sie das veränderte Allel in zwei englischen Pferden von 850-900 n. Chr. und in 10 von 13 Pferden auf Island aus dem 9. bis 11. Jahrhundert n. Chr.

In allen weiteren europäischen, inklusive skandinavischen Proben fand sich das entsprechende Allel nicht. Die Verteilung des in den Proben von 6000 v. Chr. (Bronzezeit) bis ins 11. Jahrhundert gefundenen Allels macht es aus Sicht der Autoren wahrscheinlich, dass die sogenannten „Island“-Pferde ursprünglich aus Großbritannien stammen. Vermutlich haben Nordländer (Wikinger) den Vorteil der besonderen Gangart der auf den britischen Inseln vorgefundenen Pferde bemerkt und diese nach Island mitgenommen und dort weitergezüchtet. Die Autoren halten es für sehr wahrscheinlich, dass die Islandpferde mit ihrem charakteristischen Passgang (Tölt) nach dem Import von den britischen Inseln durch die Handelsaktivitäten der Wikinger nach Europa und bis nach Asien Verbreitung fanden. Eine unabhängige Mutation in Asien halten die Autoren für sehr unwahrscheinlich.

Es ist interessant, wie historische Erkenntnisse kombiniert mit verhaltensbiologischen Daten und modernen molekularbiologischen Methoden genutzt werden können, um interessante Fragen anzugehen und zu beantworten. Die Veränderungen im Erbgut von Lebewesen im Verlauf der Generationen, also die Variabilität des Genoms, zeigt sich hier in einem markanten Merkmal von Pferden. Die gewonnenen Erkenntnisse über diese Zusammenhänge machen indirekt die Gangart der Islandponys – die ja an Fossilien nicht direkt beobachtbar ist – zugänglich und ermöglichen so Schlussfolgerungen über vergangene Entwicklungen. Dabei belegt die Anzahl der Autoren wie auch die zurückhaltenden Formulierungen der Autoren bei den Schlussfolgerungen die Komplexität von Untersuchungen dieser Art.

H. Binder

[Andersson LS, Larhammar M, et al. (2012) Mutations in DMRT3 affect locomotion in horses and spinal circuit function in mice. Nature 488, 642-646 • Promerova M, Andersson LS, et al. (2014) Worldwide frequency distribution of the "gait keeper" mutation in the DMRT3 gene. Anim. Genet. 45, 274-282 • Wutke S, Andersson L, et al. (2016) The origin of ambling horses. Curr. Biol. 26, R698-R700.]


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Abb. 1: Seeanemone Nematostella vectensis in einer Petrischale. Aus dieser Art wurde das im Text behandelte Protein isoliert. (CC BY-SA 3.0)

Unsere Fähigkeit zu hören ist eng an die Funktion von sogenannten Haarzellen geknüpft. Diese in der Schnecke (Cochlea) des Innenohrs lokalisierten Zellen spielen sowohl beim Hören als auch beim Gleichgewichtssinn eine zentrale Rolle. Sie können als Mechanorezeptoren mechanische Reize wie Druckdifferenzen oder Flüssigkeitsströmungen in Nervenimpulse umwandeln.

Solche Haarzellen nutzen auch Seeanemonen (Actiniaria). Trotz des botanischen Namens handelt es sich dabei um im Meer lebende, meist sesshafte (hemisessile) Tiere; systematisch gehören sie zu den Blumentieren (Anthozoa). Bei den Seeanemomen befinden sich die Haarzellen an ihren Tentakeln, um Wasserbewegungen z. B. von Beutetieren wahrzunehmen. Im Gegensatz zu Mensch und Wirbeltieren können Seeanemonen beschädigte Haarzellen reparieren.

An den Haarzellen befinden sich Bündel von Härchen (Stereovilli), die an ihrem oberen Ende durch ein Aktinfilament (Aktin ist ein Strukturprotein) miteinander verknüpft und damit gekoppelt sind (Tip-Links). Für die Reizauslösung müssen die Haarbündel mechanisch gekrümmt werden, d. h. die Härchen müssen koordiniert ausgelenkt werden. Die Verknüpfungen der Stereovilli können auf natürliche Weise und im Experiment gekappt werden, wobei die Funktion der Reizwahrnehmung zerstört wird. Das kann z. B. durch Verringerung der Konzentration von Kalziumionen (Ca2+) oder im menschlichen Ohr durch laute Musik geschehen. Bei Wirbeltieren und Menschen sind solche Schädigungen erfahrungsgemäß irreparabel, d. h. die entstandene Schädigung bleibt bestehen.

In der Arbeitsgruppe von Glen Watson an der University of Louisiana in Lafayette werden die Abläufe in den Haarzellen schon seit längerem untersucht. Die Forscher konnten bereits vor Jahren zeigen, dass Seeanemonen geschädigte Haarzellen reparieren können und dass dabei ein Cocktail von „Reparaturproteinen“ in den Schleim, der die Tentakeln umgibt, ausgeschüttet wird. Einige der beteiligten Proteine konnten charakterisiert und ihre Wirksamkeit bei der Reparatur nachgewiesen werden (Tang & Watson 2015).

Jetzt haben Tang et al. (2016) Haarzellen aus dem Innenohr von Mäusen isoliert und im Labor kultiviert. Sie konnten zeigen, dass eine experimentelle Schädigung der Haarzellen durch Behandlung mit Reparaturproteinen aus Seeanemonen rückgängig gemacht werden konnte. Dabei wurde in den Experimenten an den isolierten Zellen nicht die Wiederherstellung ihrer neuronalen Funktion demonstriert, aber es wurde gezeigt, dass sich die reparierten Zellen biochemisch wie normale Haarzellen verhalten. Weiter konnten die Autoren durch vergleichende Untersuchungen in Datenbanken zeigen, dass im Proteom der Maus (Mus musculus) für alle 37 Proteine aus dem Reparaturcocktail von Seeanemonen entsprechende Proteine (Homologe) vorkommen.

Die Autoren betonen wiederholt, dass die bei der Reparatur ablaufenden molekularen Prozesse ungeheuer komplex und bisher erst ansatzweise verstanden seien. Sie äußern die vorsichtige Hoffnung, dass man vielleicht durch weitere Forschung Wege finden könnte, wie krankhafte Schädigungen an menschlichen Haarzellen repariert werden könnten. In ihren jüngsten Erkenntnissen sehen die Autoren Hinweise darauf, dass im Verlauf der Evolution zumindest manche Teilschritte zur Reparatur von Schädigungen an Haarbündeln konserviert worden sind. Eine derartige Interpretation der molekularbiologischen Daten ist zwar durchaus üblich, aber keineswegs zwingend, man könnte auf der Basis eines biblischen Weltbildes auch darüber nachdenken, die bisherigen Erkenntnisse im Sinne einer Degeneration ursprünglicher komplexer Systeme zu betrachten. Den Autor dieser Zeilen lassen diese faszinierenden Erkenntnisse staunen über die komplexen molekularen Mechanismen, die in Lebewesen ablaufen, vor allem aber darüber, wie kunstvoll das alles konzipiert ist.

H. Binder

[Tang P-C & Watson GM (2015) Proteomic identification of hair cell repair proteins in the model sea anemom Nematostella vectensis. Hearing Res. 327, 245-256. • Tang P-C, Müller Smith K & Watson GM (2015) Repair of traumatized mammalian hair cells via sea anemone repair proteins. J. Exp. Biol. 219, 2265-2270.]


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Im Labor von Floyd E. Romesberg am Scripps Research Institute in La Jolla, Californien, USA synthetisieren Mitarbeiter Nukleotide (Bausteine des Erbmoleküls DNA) mit nicht natürlichen Nukleobasen mit dem Ziel, mit solchen Bausteinen den genetischen Code zu erweitern. Die Erbinformation soll im DNA-Makromolekül also nicht nur durch die vier etablierten H-Heterocyclen Adenin (A), Cytosin (C), Guanin (G) und Thymin (T) bzw. deren Basenpaare in der DNA-Doppelhelix (A-T und C-G) repräsentiert werden. Mit chemischen Varianten soll der Code modifiziert und erweitert werden.

Solche nicht natürlichen DNA-Bausteine werden von mehreren Arbeitsgruppen im Labor mit verschiedenen Zielsetzungen synthetisiert. Ist ein entsprechendes Basenpaar hergestellt, dann gilt es in einem nächsten Schritt, die Basenpaarungseigenschaften zu bestimmen und diese mit den Daten der natürlichen Basenpaare zu vergleichen. Um dem Ziel näher zu kommen, diese Basenpaare auch in biologischen Systemen zu nutzen, können dann die Bausteine in DNA-Sequenzen eingebaut und anschließend die Eigenschaften der so veränderten Doppelhelix untersucht werden. Ein sehr kritischer Schritt ist dann der Versuch, im Reagenzglas (in vitro) zu testen, ob derart modifizierte DNA-Stränge in Transkriptions- und Translationsprozessen genutzt werden können (also bei der Übersetzung in Proteine).

Das Bild kann online nicht zur Verfügung gestellt werden.
Abb. 1: Baukasten der synthetischen Biologie.
(© Jakob Schweizer, MPI für Biochemie)

Malyshew et al. (2014) haben erstmals demonstriert, dass DNA mit einem nicht natürlichen Basenpaar in biotechnisch modifizierten E. coli-Bakterien akzeptiert und beim Wachstum in der Kultur auch die synthetischen DNA-Basen an der entsprechenden Position eingebaut werden und erhalten bleiben. Um dies zu ermöglichen, hatten die Autoren die E. coli-Bakterien derart modifiziert, dass Transportproteine aus Algen in die Zellmembran integriert wurden. Diese stellten sicher, dass die nicht natürlichen Nukleotide, die als Triphosphate dem Medium zugegeben worden waren, ins Innere der Bakterienzelle gelangen und dort verfügbar sind. Das nicht natürliche Basenpaar wurde bei der Vermehrung der E. coli-Zellen nicht durch DNA-Reparaturmechanismen herausgeschnitten und entfernt, sondern das erweiterte genetische Alphabet wurde einigermaßen zuverlässig bei der Zellteilung vervielfältigt und weitergegeben. Die Organismen, die einen solchen erweiterten genetischen Code enthalten und nutzen, bezeichnen Malyshew et al. (2014) als semisynthetische Organsimen.

Dieser Prototyp einer Zelle, die in der Lage ist, einen erweiterten genetischen Code zu nutzen, hatte aber gravierende Begrenzungen. Die entsprechende E.coli-Kultur wuchs nur sehr langsam; die Zeit für die Verdoppelung der Zellen war im Vergleich zum ursprünglichen Stamm doppelt so hoch. Das nicht natürliche Basenpaar wurde unter verschiedenen Kulturbedingungen abgebaut – vermutlich aufgrund von Enzymen (Phosphatasen). Schließlich konnten die Bakterienzellen selbst unter optimalen Kulturbedingungen im Verlauf ihrer Vermehrung die genetische Modifikation nicht erhalten.

Um diese grundlegenden Hindernisse zu beseitigen und semisynthetische Mikroorganismen mit einem erweiterten genetischen Code zu kultivieren, veränderte die Arbeitsgruppe ihre Experimente (Zhang 2017).

Die Autoren experimentierten mit Veränderungen des Transportproteins, das sich als zelltoxisch erwiesen hatte, und mit dessen gentechnischer Integration in E. coli. Weiter prüften sie auch alternative unnatürliche Basenpaare. Um zu verhindern, dass das bakterielle Immunsystem (Cas9) die veränderten Sequenzbereiche eliminiert, musste empirisch ermittelt werden, unter welchen Bedingungen dies möglich ist.

Schließlich erhielten Zhang et al. (2017) einen semisynthetischen Mikroorganismus, der stabiles Wachstum zeigte und dabei synthetische Nukleotidtriphosphate in die Zellen aufnahm. In den Bakterienzellen wurden diese stabil in die Nukleinsäure eingebaut und bildeten dort nicht natürliche Basenpaare, und zwar in vielen verschiedenen Sequenzumgebungen. So konnten die Autoren genetisch veränderte E. coli kultivieren, die in ihrem Erbgut sechs verschiedene DNA-Bausteine enthielten und somit drei Basenpaare bilden können. Diese könnten zukünftig, so die Hoffnung der Autoren, als Plattformen dienen, um experimentell den genetischen Code zu erweitern.

Unter technischen Gesichtspunkten ist das ein hochinteressantes Ergebnis, das vielfältige Möglichkeiten eröffnet. Betrachtet man jedoch die Mühe und den enormen Aufwand, der betrieben werden musste, um Bakterienzellen dazu zu bringen, die entsprechenden Veränderungen zu tolerieren und tatsächlich auch – zumindest im Rahmen der bisherigen experimentellen Überprüfung – stabil weiterzugeben, dann könnte dies auch ein Hinweis darauf sein, dass die Art und Weise, wie die Erbinformation im Erbgut abgespeichert ist, nicht so ohne weiteres ausgedehnt und „verbessert“ werden kann.

Wenn sich der Aufbau der DNA mit dem entsprechenden genetischen Code, der sich praktisch in allen Lebewesen etabliert hat, nur mit großem Aufwand manipulieren lässt, dann eröffnet das Fragen um den möglichen Ursprung dieser molekularen Strukturen. Sind es vielleicht doch Konstrukte, d.h. könnten sie letztlich geistigen Ursprungs sein? Jedenfalls sind die natürlichen Konstrukte auffällig robust und selbst mit modernsten Methoden bisher nicht nachhaltig zu modifizieren.

H. Binder

[Malyshew DA, Dhami K, Lavergne T, Chen T, Dai N, Foster JM, Correa jr. IR & Romesberg FE (2014) A semi-synthetic organism with an expanded genetic alphabet. Nature 509, 385-388 • Zhang Y, Lamb BM, Feldman AW, Zhou AX, Lavergne T, Li L & Romesberg FE (2017) A semisynthetic organism engineered for the stable expansion of the genetic alphabet. Proc. Nat. Acad. Sci. USA doi:10.1073/pnas.1616443114.]


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Die heute existierenden Vogelordnungen (Neornithes) erscheinen im Fossilbericht plötzlich in großer Vielfalt in den ältesten Schichten des Tertiärs. Wie bei vielen anderen Tier- und Pflanzengruppen ist von einer explosiven Entfaltung oder Radiation die Rede. In den letzten Jahren wurde zwar immer wieder über Funde von Vertretern der Neornithes auch in der Oberkreide berichtet, doch ändern diese nichts daran, dass die Vielfalt der Vogelbaupläne – gemessen an den Fossilfunden – nach der berühmten Kreide-Tertiär-Grenze abrupt und in einem geologisch kurzen Zeitraum zunimmt. Ein gemeinsamer Vorfahr ist nicht bekannt und der Fossilbericht gibt über die Anfänge der Neornithes fast keine Auskunft (Zhou 2004, 456, 467). Vergleichend-biologische Studien der heutigen Vogelordnungen bestätigen dieses Bild: Cladogramme (Ähnlichkeitsbäume) lassen sich auf der Ebene der Ordnungen kaum auflösen (vgl. z. B. Thomas 2015). Sie gleichen daher in den unteren Teilen eher einem Busch als einen Baum.

Gosses Bild
Abb. 1: Verschiedene Schnabelformen bei heutigen Vögeln; von links: Adler, Flamingo, Tukan. Nach einer aktuellen Studie entstanden verschiedenste Schnabeltypen in sehr kurzer Zeit. (fotolia.com)

Eine solche vergleichende Studie führen Cooney et al. (2017) anhand von 3D-Scans von Schnäbeln von 2028 heutigen Vogelarten aus 194 Familien durch, die im Natural History Museum Tring (England) und im Manchester Museum archiviert sind und einen Großteil des Systems der Vögel abdecken. Das charakteristische Merkmal des Vogelschnabels ist für seine faszinierende Vielfalt von Gestaltungen bekannt. Die unterschiedlichen Schnabelformen ermöglichen den Vögeln, sehr verschiedene Nahrungsquellen zu nutzen. Durch die Kombination der Ergebnisse der Untersuchungen der Schnabelformen mit neueren DNA-basierten Cladogrammen ergab sich, dass die Vielfalt der Schnäbel sehr schnell in der mutmaßlichen evolutionären Geschichte aufgetreten ist, also innerhalb kurzer Zeit stark zunahm. Evolutionstheoretisch folgt daraus, dass ein extrem schneller evolutiver Wandel angenommen werden muss – die Autoren sprechen von „früher schneller Quanten-Evolution“ (Cooney et al. 2017, 345), das bedeutet eine anfänglich sehr schnelle Divergenz (Aufspaltung und Verschiedenwerden) in neue Formen und Funktionen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen änderten sich die Schnabelformen nach der Anfangsdivergenz nur noch relativ geringfügig in der Art eines Fine-Tunings und durch ökologische Anpassungen (vgl. Bhullar 2017).

Fossilfunde wurden in die Untersuchung nicht einbezogen. Bhullar (2017) weist aber darauf hin, dass der Fossilbericht den Befund von Cooney et al. unterstützt, dass eine große Vielfalt von Schnabelformen nach der Kreide-Tertiär-Grenze rasch präsent war, ja dass es anfangs noch weitere Schnabelformen gab, die heute nicht mehr vertreten sind. Die Gründe für dieses Muster mutmaßlicher evolutionärer Sprünge und anschließender Stabilität seien nicht bekannt.

Mikroevolution, Makroevolution und Schöpfung. Die Autoren stellen fest, dass es einen qualitativen Unterschied zwischen Mikroevolution (z. B. Fine-Tuning) und Makroevolution (neuartige Baupläne oder Bauplan-Elemente) gibt. Sie schreiben: „Auf welche Weise mikroevolutive Prozesse addiert werden, um die Ausweitung der gestaltlichen Vielfalt über viel größere evolutionäre Zeiträume hinweg zu formen, ist unklar“ (Cooney et al. 2017, 344). Und weiter: „Untersuchungen an kleineren (evolutiven) Zweigen haben Einsichten in die Rolle der natürlichen Auslese als verändernde Kraft ermöglicht, sie können aber nicht den Prozess erhellen, der die Vielfalt und Diskontinuitäten von Radiationen über längere evolutionäre Zeiträume formt“ (ebd.). Das entspricht vielen ähnlich lautenden Einschätzungen zum Unterschied von Mikro- und Makroevolution.

Das Muster der Entfaltung der Schnabelformen kann bei Zugrundelegung eines Schöpfungsansatzes mit programmierter Variabilität gut erklärt und eingeordnet werden. Dass innerhalb einer Formengruppe eine große Vielfalt relativ plötzlich auftaucht und Cladogramme an der Basis kaum auflösbar sind bzw. anfangs sehr enge Verzweigungen beinhalten, könnte als Indiz dafür gewertet werden, dass es gar keine Abstammung der größeren Einheiten gab, sondern dass diese in fertiger Form durch Schöpfungsakte ins Dasein kamen und sich anschließend ein anfangs bereits angelegtes Potenzial an Ausprägungs- und Spezialisierungsmöglichkeiten entfaltet hat.

Für die biblische Schöpfungslehre bleibt jedoch die Frage offen, warum zum einen Vögel heutiger Grundtypen fossil weitgehend erst ab dem unteren Tertiär überliefert sind, aber auch, weshalb Vögel, die im älteren geologischen System der Kreide fossil überliefert sind, andere Baupläne besitzen als die tertiären und heute lebenden Vögel.

R. Junker

[Bhullar BAS (2017) Catastrophe triggers diversification. Nature 542, 304-305 • Cooney CR, Bright JA et al. (2017) Mega-evolutionary dynamics of the adaptive radiation of birds. Nature 542, 344-347 • Zhou Z (2004) The origin and early evolution of birds: discoveries, disputes and perspectives from the fossil record. Naturwissenschaften 91, 455-471 • Thomas GH (2015) An avian explosion. Nature 526, 516-517]


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Die Vogelgattung Confuciusornis gehört nach dem berühmten oberjurassischen „Urvogel“ Archaeopteryx zu den stratigraphisch ältesten Vögeln. Im Jahr 1995 wurden gut erhaltene fossile Exemplare dieser Gattung in großer Zahl in Süßwasserablagerungen der unteren Kreide im Nordosten Chinas gefunden. Während manche Merkmale (z. B. Becken, Finger, Schädel mit zwei Schläfenfenstern) als „ursprünglich“ eingestuft werden, besaß Confuciusornis – anders als Archaeopteryx und viele andere „Urvögel“ – einen Hornschnabel und eine Reihe weiterer „fortschrittlicher“ Merkmale. So hatte er keinen langen, reptilienähnlichen Schwanz, sondern wie heutige Vögel ein Pygostyl (mehrere verschmolzene Schwanzwirbel), an dem die Schwanzfedern fächerförmig ansitzen. Bei einigen Exemplaren ist auf dem Brustbein ein niedriger Kiel in der hinteren Hälfte zu erkennen; das Rabenbein ist ähnlich wie bei heutigen Vögeln lang und strebenförmig. Wie bei heutigen Vögeln dürften Ellbogen- und Handwurzelgelenk mechanisch gekoppelt gewesen sein, was ebenso wie das gut ausgebildete Federkleid mit asymmetrischen Flugfedern für eine Fähigkeit zu aktivem Flug spricht.

Gosses Bild
Abb. 1: Von Confuciusornis sanctus sind zahlreiche Skelette fossil erhalten. (Eduard Solà, CC BY-SA 3.0)

Die Lebensweise und die Art der Flugfähigkeit von Confuciusornis wurden dennoch kontrovers diskutiert (Wang et al. 2011, 1229). Peters & Ji (1998) hielten den Konfuzius-Vogel wegen der großen Schwingen für einen ausdauernden Segler; ob Confuciusornis klettern konnte, war bisher ebenfalls umstritten (z. B. Feduccia 2001, 143; Chiappe et al. 1999, 1). Nudds & Dyke (2010) hatten eine Studie veröffentlicht, wonach die Schäfte der Federn von Confuciusornis zu schwach für eine Tauglichkeit zu aktivem Flug gewesen seien, doch ihre Schlussfolgerungen wurden wegen methodischer Fehler zurückgewiesen (Paul 2010; Longrich et al. 2012; Lingham-Soliar 2015).

Neue Einsichten zu diesen Fragen und weitere Erkenntnisse über die Flug- und Kletterfähigkeit brachten nun Untersuchungen mit Laser-unterstützter Fluoreszenzmikroskopie (Falk et al. 2016). Damit konnten bisher unbekannte Details der Weichteilanatomie (Bänder, Muskeln, Sehnen) sichtbar gemacht werden. Sie zeigen, dass Confuciusornis „moderner“ gebaut war als bisher angenommen. Die Autoren stellen fest, dass Confuciusornis „eine Reihe relativ moderner Weichgewebe-Strukturen besaß, die fortschrittlicher waren, als erwartet werden konnte“ (Falk et al. 2016, 6). Außerdem konnten gut entwickelte und widerstandsfähige Flughäute (Pro- und Postpatagium an Innen- und Außenseite der Flügel) nachgewiesen werden, was laut Falk et al. enormen Auftrieb ermöglicht haben müsse und zusammen mit den robusten Federschäften für die Fähigkeit zum aktiven Flug spreche. Die Autoren schließen unter evolutionstheoretischen Voraussetzungen, dass das Flughautsystem früh entstand und ein gemeinsames Merkmal (Synapomorphie) aller Vögel sein könnte (Falk et al. 2016, 8).

Auch zur Flügelform konnten neue Erkenntnisse gewonnen werden; diese sei einzigartig gewesen, folgern Falk et al. aus dem erhaltenen Federkleid. Die Breite des Flügels unterstreiche einen anderen Flugstil als bisher angenommen und sei typisch für Vögel, die in einem dicht bewachsenen Lebensraum vorkommen und daher ein hohes Maß an Manövrierfähigkeit benötigen, oder auch für Segler. Sie schließen aus der Flügelstreckung (aspect ratio), dass Confuciusornis in seinem Lebensraum eher Manövrierfähigkeit als Geschwindigkeit benötigte.

Netzförmige Schuppen auf den Beinen, kräftige Fingerpolster und stark gebogene Klauen an den Zehen unterstützen nach Falk et al. nachhaltig die Rekonstruktion als baumlebender Vogel. Die netzförmigen Schuppen sind mehr abgerundet als schildförmig, was die Flexibilität der Zehen verbessert.

Aus den neuen Befunden schließen die Forscher insgesamt, dass Confuciusornis Kurzstrecken gut fliegen konnte und dass dieser Urvogel viele relativ „fortschrittliche“ („advanced“) vogeltypische anatomische Merkmale besaß. Insgesamt war der Konfuzius-Vogel also keinesfalls primitiv, weshalb die Autoren evolutionstheoretisch mutmaßen, dass seine modernen Merkmale viel früher als bisher angenommen entstanden sein müssten; ältere Gesteinsschichten könnten vielleicht entsprechende Antworten über Vorstufen bringen.

Erst kürzlich waren bei einem anderen Vogel aus Schichten der Unterkreide ebenfalls Weichteilmerkmale identifiziert worden, die als überraschend modern charakterisiert wurden und für eine sehr gute Flugfähigkeit sprechen (Navalón et al. 2015), so dass auch in diesem Fall eine Revision bezüglich der Flugfähigkeit vorgenommen wurde: Die Gegenvögel, zu welchen der Fund gerechnet wird, werden nun als gute Flieger angesehen.

Diese Befunde und Interpretationen sind letztlich aber nicht überraschend. Der Besitz asymmetrischer Federn wie bei Confuciusornis und anderen Vögeln aus Kreideschichten macht nur Sinn, wenn die betreffenden Arten flugfähig wären; dafür aber benötigen sie zugleich auch eine ausgefeilte passende Weichteilanatomie. Flugfähigkeit erfordert einen Komplex von Merkmalen und Fähigkeiten – vom geeigneten „Baumaterial“ für die Federn bis zum Verhalten mit den dafür erforderlichen Gehirnleistungen und Rückkopplungsmechanismen. Eine schrittweise Entstehung einer Grundausstattung ist hier kaum denkbar. Die neuen Daten zu Confuciusornis bestätigen diese Sicht.

R. Junker

[Chiappe LM, Ji SA, Ji Q & Norell MA (1999) Anatomy and systematics of the Confuciusornithidae (Theropoda, Aves) from the late Mesozoic of northeastern China. Bull. Amer. Mus. Nat. Hist. 242, 1-89 • Falk AR, Kaye TG, Zhou Z & Burnham DA (2016) Laser fluorescence illuminates the soft tissue and life habits of the Early Cretaceous bird Confuciusornis. PLoS ONE 11(12): e0167284. doi:10.1371/journal.pone.0167284 • Feduccia A (2001) The problem of bird origins and early avian evolution. J. Ornithol. 142 Sonderheft 1, 139-147 • Hou L, Zhou Z, Gu Y & Zhang H (1995a) Confusiusornis sanctus, a new late Jurassic sauriurine bird from China. Chinese Sci. Bull. 40, 1545-1551 • Hou L, Zhou Z, Martin LD & Feduccia A (1995b) A beaked bird from the Jurassic of China. Nature 377, 616-618 • Lingham-Soliar T (2014) Feather structure, biomechanics and biomimetics: the incredible lightness of being. J. Ornithol. 155, 323-336 • Longrich NR, Vinther J, Meng Q, Li Q & Russell AP (2012) Primitive wing feather arrangement in Archaeopteryx lithographica and Anchiornis huxleyi. Curr. Biol. 22, 2262-2267 • Navalón G, Marugán-Lobón J, Chiappe LM, Sanz JL & Buscalioni A (2015) Soft-tissue and dermal arrangement in the wing of an Early Cretaceous bird: Implications for the evolution of avian flight. Sci. Rep. 5:14864 • Paul GS (2010) Comment on „Narrow Primary Feather Rachises in Confuciusornis and Archaeopteryx Suggest Poor Flight Ability“. Science 330, 320b • Peters D & Ji Q (1998) The diapsid temporal construction of the Chinese fossil bird Confuciusornis. Senckenbergiana lethaea 78, 153-155 • Wang X, Nudds RL & Dyke GJ (2011) The primary feather lengths of early birds with respect to avian wing shape evolution. J . Evol. Biol. 24, 1226-1231]


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Studium Integrale Journal 24. Jg. Heft 1 - Mai 2017