In der Paläanthropologie wird allgemein angenommen, dass man von Knochenüberresten weitgehend auf die Funktion der Hand und damit auf mögliches Werkzeugverhalten früher Homininen* schließen kann. So werden beispielsweise einige menschenähnliche Merkmale der Hand von Australopithecus sediba (Kivell et al. 2011) und Homo naledi (Kivell et al. 2015) als Hinweise auf eine potenzielle Fähigkeit der Nutzung und Herstellung von Steinwerkzeugen bei diesen frühen Homininen interpretiert und als ein Argument für deren menschliche Vorfahrenschaft gewertet. Sind solche weitreichenden Schlüsse basierend allein auf Knochenmerkmalen gerechtfertigt? Eine neuere kinematische Untersuchung der menschlichen Hand in Beziehung zur Morphologie* des Os lunatums* (Mondbeines) lässt daran stark zweifeln.
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Abb. 1: Das Os lunatum mit den Formvarianten Typ I und II. Beim Typ I des Os lunatum existiert nur eine distale konkave Gelenkfläche für die Artikulation* mit dem Os capitatum. Mit diesem Typ des Os lunatum ist ein Os capitatum und Os hamatum assoziiert, deren proximale Enden zusammen eine leichte Krümmung bilden, die nur durch das Os-capitatum-Os hamatum-Gelenk unterbrochen ist. Bei diesem Gelenktyp bildet das Os-capitatum-Os-hamatum-Gelenk eine Linie mit dem Os-lunatum-Os-triquetrum-Gelenk. Beim Typ II artikuliert das Os lunatum hauptsächlich mit dem Os capitatum, bildet aber auch distoulnar ein zweites separates Gelenk mit dem Os hamatum. Der proximale Pol des Os hamatum erstreckt sich dabei nach proximal über die Krümmung des proximalen Poles des Os capitatum hinaus. Die Gelenkflächen auf Os capitatum und Os hamatum für die Artikulation mit dem Os lunatum liegen in ihrem Kontaktbereich einem vom Os lunatum gebildeten Grat gegenüber. Dieser Grat wird durch den Kontakt der beiden gegeneinander abgewinkelten Gelenkflächen für das Os capitatum und das Os hamatum auf dem Os lunatum gebildet (Viegas 1992). |
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Das Os lunatum ist ein Knochen der proximalen (körpernahen) Handwurzelreihe. Es hat eine halbmondförmige Form und ist dorsal (hinten) und lateral (seitlich) keilförmig konfiguriert. Es variiert deutlich in der Form (Watson et al. 1996, Gupta & Al-Moosawi 2002, van de Giessen et al. 2010), wobei zwei Formvarianten (Abb. 1) ein besonderes wissenschaftliches Interesse erfahren haben. Diese beiden Varianten werden als Typ I und Typ II bezeichnet.
Beim Typ I existiert nur eine distale* konkave Gelenkfläche für die Artikulation* mit dem Os capitatum*. Beim Typ II artikuliert das Os lunatum distal hauptsächlich mit dem Os capitatum, bildet aber distomedial* ein zweites separates Gelenk mit dem Os hamatum*. Die Ausdehnung der zweiten Gelenkfläche für die Artikulation mit dem Os hamatum variiert zwischen 1 und 6 mm (Viegas 1992). Die Häufigkeit von Typ I wird mit 27 % bis 34,5 % und von Typ II mit 65,5 % bis 73 % in der Literatur angegeben (Viegas 2001).
Brain et al. (2015) haben eine interessante Untersuchung vorgelegt, in der sie Zusammenhänge zwischen den beiden Formvarianten des Os lunatum und dem Bewegungsmuster der Handwurzel beim Menschen aufdeckten. Die Autoren analysierten an acht Handwurzeln (jeweils vier von Typ I und Typ II) von Leichen sechs Freiheitsgrade der Bewegung bei Beugung-Streckung (jeweils 15°) und radioulnarer* Deviation (Abwinklung) (jeweils 20°). Die Untersuchung wurde mit einer mechanischen Vorrichtung, der sogenannten Stewart-Plattform, durchgeführt. Damit können Bewegungen in sechs Freiheitsgraden mit hoher Genauigkeit gemessen werden. Das System wurde speziell für biomechanische Tests entwickelt. Man hat damit die Möglichkeit, Objekte in physiologischer Weise zu bewegen.
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Abb. 2: Das Handgelenk bei Beugung (15°) und Streckung (15°) in der Bewegungsebene. Die rote Linie weist auf die gut bewegten Gelenke (≥ 50%). Die schwarzen Balken weisen auf die wenig bewegten Gelenke (< 4°). Der Typ des Os lunatum bestimmt die gut bewegten und die wenig bewegten Gelenke. Bei Typ I wechseln bei Beugung-Streckung die gut bewegten Gelenke zwischen den radiocarpalen und midcarpalen Gelenken. Bei Typ II sind bei Beugung und Streckung die midcarpalen Gelenke wenig und die radiocarpalen Gelenke gut bewegt (nach Brain et al. 2015). |
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Brain et al. (2015) haben signifikante Bewegungsunterschiede zwischen Typ I und II bei Beugung-Streckung im radiocarpalen und midcarpalen* Gelenk festgestellt, wobei davon auch die einzelnen Gelenksäulen (radial, zentral, ulnar) betroffen waren (Abb. 2).
Bei Typ I war die Bewegung teils in den midcarpalen und teils in den radiocarpalen* Gelenken eingeschränkt, wobei die bewegungseingeschränkten Gelenke in der radialen*, zentralen und ulnaren* Säule bei Beugung und Streckung wechselten.
Bei Typ II war bei Beugung und Streckung die Bewegung des midcarpalen Gelenkes in allen drei Säulen eingeschränkt.
Im Gegensatz zur Beugung-Streckung zeigten Typ I und II bei radioulnarer Deviation keine Unterschiede in der Beweglichkeit des radiocarpalen und midcarpalen Gelenkes in allen drei Säulen. Die Beweglichkeit der radiocarpalen und mediocarpalen Gelenke war aber bei ulnarer und radialer Deviation verschieden.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass nach den Ergebnissen von Brain et al. (2015) die Morphologie des Os lunatum bei Beugung-Streckung des Handgelenkes den Beitrag des radiocarpalen und midcarpalen Gelenkes zur Bewegung in der radialen, zentralen und ulnaren Säule bestimmt, während bei radioulnarer Deviation der Beitrag der Bewegung im radiocarpalen und midcarpalen Gelenk nur durch die Neigungsrichtung des Handgelenkes nach radial oder ulnar bestimmt wird.
Brain et al. (2015) fragen nach der Ursache für die geringe midcarpale Bewegung bei Typ II bei Beugung-Streckung und bieten mehrere mögliche Erklärungen an.
Falls die zusätzliche Gelenkfläche für das Os hamatum bei Typ II des Os lunatum nicht in der Bewegungsebene des Handgelenkes liegt, dann ist es nach Brain et al. (2015) wahrscheinlich, dass das Os-lunatum-Os-hamatum-Gelenk als Verschlussmechanismus und somit einschränkend auf die Beweglichkeit der Handwurzel in der Bewegungsebene wirkt.
Auch die Bandanatomie kann die Bewegung einschränken. Nakamura et al. (2001) haben nachgewiesen, dass das Ligamentum triquetrocapitatum* fast nur beim Typ II des Os lunatum vorkommt. Dies lässt vermuten, dass die unterschiedliche Bandanatomie die Bewegung der Handwurzel beeinflusst.
Brain et al. (2015) haben Unterschiede zwischen Typ I und II in Bezug auf Bewegung innerhalb und außerhalb der Bewegungsebene des Handgelenkes nachweisen können. Bewegungen außerhalb der Ebene sind beim Typ II größer. Bewegungen in der Ebene sind dagegen beim Typ I größer. Brain et al. (2015) vermuten, dass dafür Unterschiede in der Bandanatomie verantwortlich sind. Wenn sich das Handgelenk bei Typ II entlang seines Bewegungsbogens bewegt, straffen sich die Bänder und rufen dadurch eine Bewegung der Handwurzel außerhalb der Bewegungsebene hervor.
Konsequenzen
Die Untersuchungsergebnisse von Brain et al. (2015) sind überraschend und fordern zu einem kritischen Überdenken der gängigen paläanthropologischen Praxis, nach der man von Knochenmerkmalen auf die Handfunktion früher Homininen schließt.
Es ist erstaunlich, dass das Os lunatum des modernen Menschen eine so variable Gelenkmorphologie besitzt und dass diese (bei Beugung-Streckung) mit einem verschiedenen Bewegungsmuster einer ganzen Handregion (radiale, zentrale und ulnare Säule des radiocarpalen und midcarpalen Gelenkes) einhergeht. Es ist weiterhin bemerkenswert, dass über ein wenn auch sehr kleines Handwurzelgelenk (Os-lunatum-Os-hamatum-Gelenk) des modernen Menschen kein gesichertes Wissen existiert und deshalb nur Vermutungen über die Bewegungsebene dieses Gelenkes angestellt werden können. Für unsere Ausgangsfragestellung ebenfalls relevant ist die Tatsache, dass die mit der unterschiedlichen Morphologie des Os lunatum einhergehenden radiocarpalen und midcarpalen Bewegungsmuster nicht vorhersagbar waren und auch im Nachhinein nur Vermutungen (Gelenktopografie, Bandanatomie) als mögliche Erklärungen der funktionellen Ergebnisse aufgestellt werden können.
Die Funktion der Hand kann nicht allein von den Knochen abgeleitet werden.
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Die Funktion der Hand kann nicht allein von den Knochen abgeleitet werden. |
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Wahrscheinlich spielen mit den beiden Os-lunatum-Typen einhergehende Unterschiede in der Bandstruktur eine größere Rolle als Ursache der zwei verschiedenen Bewegungsmuster als die morphologischen Unterschiede des Os lunatum selbst. Die unterschiedlichen ligamentären* Strukturen sind von der Knochenmorphologie nicht abzuleiten.
Aus diesen Befunden ergibt sich, dass die Funktion der Hand nicht allein von den Knochen abgeleitet werden kann. Aussagen zum Werkzeugverhalten früher Homininen auf der Basis von Handknochen mit unbekannten Merkmalsmosaiken sind deshalb sehr spekulativ.
Artikulation: Gelenkverbindung. distal: von der Körpermitte entfernt. distomedial: vom Körpermittelpunkt entfernt und zur Körpermitte hin. Homininen: Menschenähnliche; damit werden alle fossilen und lebenden Menschenformen einschließlich ihrer im Evolutionsmodell vermuteten Vorläufer bezeichnet. ligamentär: die Bänder betreffend. Ligamentum triquetrocapitatum: hohlhandseitiges Handwurzelknochenband; verläuft vom Os triquetrum über die Spitze des Os hamatum zum Os capitatum. midcarpal: interkarpal, zwischen der distalen und proximalen Handwurzelknochenreihe. Morphologie: Lehre von der Gestalt der Lebewesen. Os capitatum: Kopfbein; gehört der körperfernen Reihe der Handwurzelknochen an. Os hamatum: Hakenbein; Handwurzelknochen der körperfernen Reihe. Seinen Namen verdankt es einem hakenförmigen Knochenvorsprung der Hohlhandseite. Os lunatum: Mondbein; Handwurzelknochen der körpernahen Reihe. Seinen Namen verdankt es seiner in etwa halbmondförmigen Gestalt. radial: auf der der Speiche zugewandten Seite gelegen. radioulnar: von der Seite der Speiche zur Seite der Elle. radiocarpal: zwischen der Speiche und den körpernahen Handwurzelknochen. ulnar: auf der der Elle zugewandten Seite gelegen
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