Kritische Anfragen
Es drängen sich einige kritische Anfragen und Anmerkungen zu der Arbeit von Skinner et al. (2015a) auf. Sie betreffen zum einen die vorgelegten Daten und die daraus gezogenen Schlüsse und zum anderen die grundsätzliche Möglichkeit, allein von Handknochen auf die Funktion der Hand bei unbekannten ausgestorbenen Lebewesen zu schließen.
Zu den wichtigen Daten, auf denen die Vermutung der menschenähnlichen Handfunktion bei den frühen Homininen Australopithecus africanus und SK 84 (Au. robustus? Homo?) von Skinner et al. (2015a) basiert, gehört die Verteilung des trabekulären Knochens in der Basis des Daumenmittelhandknochens und in den Köpfen der Daumen-, Mittel- und Kleinfingermittelhandknochen.
Zu wenig Vergleichsmaterial
Skinner et al. (2015a) ziehen als rezentes Vergleichsmaterial zum Daumenmittelhandknochen der frühen Homininen nur den Schimpansen, Neandertaler und modernen Homo sapiens heran (Abb. 2). Im Rahmen dieses Vergleiches ist die größere Ähnlichkeit der frühen Homininen mit dem Menschen als mit dem Schimpansen keine Überraschung und wurde schon oft bei anderen Knochenmerkmalen demonstriert. Zieht man jedoch weitere nichtmenschliche Primatentaxa als Vergleichsmaterial heran, kann sich das Bild ändern. Das zeigen beispielhaft Untersuchungen der Mittelfußgelenke (Brandt 2014).
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Gleiche Strukturen bzw. Merkmale können in verschiedenen funktionellen Zusammenhängen wirken. |
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Australopithecus afarensis besitzt menschenähnlichere Mittelfußzehengelenke als die afrikanischen Großaffen im Durchschnitt. Diese Verhältnisse wurden als ein Hinweis auf eine gewohnheitsmäßige zweibeinige (bipede) Fortbewegung bei Australopithecus afarensis gedeutet. Weitere Untersuchungen zeigten jedoch, dass unter den nichtmenschlichen Primaten semiterrestrische (teilweise am Boden und teilweise in Bäumen lebende) meerkatzenartige Tieraffen (Cercopithecoidea) die menschenähnlichsten Metatarsophalangealgelenke besitzen. Dieses Beispiel zeigt, dass gleiche Strukturen bzw. Merkmale in verschiedenen funktionellen Zusammenhängen wirken können. Der Daumenmittelhandknochen der frühen Homininen darf also nicht nur mit dem des Schimpansen und spätpleistozäner Menschen verglichen werden, sondern es müssen viele weitere rezente und auch fossile nichtmenschliche Primatentaxa in die Untersuchung einbezogen sein. Denn möglicherweise besitzen nicht nur frühe Hominine, sondern auch nichtmenschliche Primaten eine mehr menschenähnliche Trabekelstruktur.
Bild und Text widersprüchlich in Skinner et al. (2015a)
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Abb. 3: Die Verteilung der trabekulären Knochendichte im Mittelhandknochen von Australopithecus africanus (StW 418). Von den Fingermittelhandknochen ist nur im Kopf des dritten Strahles die höchste Trabekeldichte asymmetrisch medial lokalisiert (mit Pfeil markiert). (Aus Skinner et al. 2015a, gering geändert; Abdruck mit freundlicher Genehmigung) |
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Eine weitere Kritik betrifft die farbcodierte Darstellung der trabekulären Knochenstrukturdichte der Mittelhandknochen und ihre Interpretation durch Skinner at al. (2015a).
Die Autoren schreiben, dass die höchste trabekuläre Knochendichte in der Basis der Daumenmittelhandknochen bei Australopithecus africanus und SK 84 (Au. robustus? Homo?) menschenähnlich palmar lokalisiert sei. Die farbcodierte Darstellung in Fig. 3 der Arbeit zeigt jedoch Unterschiede zwischen den frühen Homininen und den fossilen und modernen Menschen. Bei Australopithecus africanus und SK 84 stellt sich visuell farbcodiert die höchste trabekuläre Dichte stärker palmar lokalisiert als beim Menschen dar, deren höchste Dichte mehr palmarproximal lokalisiert ist (Abb. 2).
Weiterhin schreiben Skinner et al. (2015a), dass im Kopf des zweiten und dritten, geringer auch des vierten Mittelhandknochen von Australopithecus africanus ähnlich wie beim Menschen die höchste trabekuläre Dichte asymmetrisch medial (ulnar) lokalisiert ist. Bei allen Menschenaffen tritt diese Asymmetrie nicht auf. In Fig. 4 der Arbeit von Skinner et al. (2015a) weist aber mit einem Pfeil durch Skinner et al. (2015a) markiert (Abb. 3) nur der Kopf des dritten Mittelhandknochens die höchste trabekuläre Knochendichte asymmetrisch medial (ulnar) auf. Im Kopf des zweiten und vierten Mittelhandknochens ist die höchste Dichte visuell farbcodiert und ohne Pfeil versehen nicht asymmetrisch medial gelegen. Bild und Text von Skinner et al. (2015a) stimmen in der Aussage offensichtlich nicht überein. Allerdings betrachten die Autoren in ihrer Arbeit nur die relative trabekuläre Knochendichte des ersten, dritten und fünften Mittelhandknochens als relevant für ihre funktionellen Interpretationen. Warum haben aber Skinner et al. (2015a) nicht auch eine Untersuchung der relativen Knochenbälkchendichte des Köpfchens des zweiten und vierten Mittelhandknochens von Menschen und nichtmenschlichen Primaten zur Überprüfung ihrer theoretischen Erwartungen durchgeführt? So können Skinner et al. (2015a) zwar die geringere absolute Knochenbälkchendichte des Köpfchens des dritten und fünften Mittelhandknochens des Menschen gegenüber den afrikanischen Großaffen funktionell mit der fehlenden Belastung der Hand bei der Fortbewegung erklären, nicht aber die Befunde der asiatischen Menschenaffen. Denn nach Skinner et al. (2015a) weist der Orang-Utan im Kopf des fünften Mittelhandknochens eine höhere, im Kopf des dritten Mittelhandknochens jedoch eine ähnlich niedrige Knochenbälkchendichte wie der Mensch (und die Gibbons Hylobates und Symphalangus) auf. Es reicht nicht aus, nur einzelne Ergebnisse schlüssig interpretieren zu können.
Pan-ähnliche Trabekelstruktur bei Schimpansen-unähnlichem Homininen
Am aufschlussreichsten für die Thematik ist die trabekuläre Knochendichteverteilung in der Basis des Daumenmittelhandknochens von SKX 5020, wobei es keine Rolle spielt, ob der Knochen zu Australopithecus robustus oder zu Homo gehört. SKX 5020 zeigt überraschenderweise in der Basis eine schimpansenähnlich homogene hohe trabekuläre Knochendichte. Nach dem Ansatz von Skinner et al. (2015a) müsste dieser Befund auf ein schimpansenähnliches Fortbewegungs-/Manipulationsverhalten hinweisen.
Skinner et al. (2015a) ziehen berechtigterweise nicht diesen Schluss, denn die verfügbaren Überreste des Körperstamm- und Extremitätenskeletts von Australopithecus robustus und frühem Homo (einschließlich „Homo“ habilis) weisen übereinstimmend auf eine Fortbewegung hin, die der des Schimpansen unähnlich war. Das Fortbewegungsrepertoire früher Homininen dürfte sich von dem aller heute lebenden nichtmenschlichen Primaten unterschieden haben. Wie sich diese fossilen Lebewesen genau fortbewegten und über welches Manipulationsrepertoire sie verfügten, wird man möglicherweise niemals exakt bestimmen können, denn für das knöcherne Merkmalsmosaik der frühen Homininen existiert keine rezente Analogie, und Schlüsse allein von Knochen ohne genauere Kenntnisse der Weichteilstrukturen und des Nervensystems sind nur sehr eingeschränkt möglich (siehe Brandt 2014). Beispielsweise sind nach Tocheri et al. (2008) anhand der Knochenüberreste fossiler Homininen von wichtigen Muskeln der Hand wie dem M. dorsalis interosseus 1, M. palmaris interosseus 1, M. abductor pollicis longus, M. adductor pollicis, M. flexor pollicis brevis, M. flexor pollicis longus, M. opponens pollicis und der Unterarmbeuger- und -streckermuskelmasse nur der M. dorsalis interosseus 13 beurteilbar.
Gründe dafür sind eine ungenügende Identifizierbarkeit der Muskelansatzgebiete, eine fehlende oder nicht bekannte Korrelation zwischen dem Ausprägungsgrad der Muskeln und ihrer Ansatzgebiete und eine einmalige Handwurzelgeometrie der frühen Homininen.
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Der spezifische Anteil der einzelnen Faktoren, die auf die Trabekelstruktur wirken, ist nicht genau bestimmbar. |
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Neben Belastungen, die durch die Fortbewegung4 und das Manipulationsverhalten auftreten, welche bei den frühen Homininen im Detail nicht bekannt sind, beeinflussen wahrscheinlich weitere Faktoren die trabekuläre Knochenstruktur der Hand. Nach Skinner et al. (2015a) könnte der insgesamt höhere trabekuläre Knochenanteil der Mittelhandknochen der Neandertaler und des frühmodernen Homo sapiens gegenüber dem rezenten Homo sapiens ein systemisches Muster des gesamten Skeletts widerspiegeln.
Die Trabekeldichteverteilung wird von mehreren Faktoren beeinflusst. Die Pan-ähnliche Verteilung in der Basis des frühhomininen Daumenmittelhandknochens SKX 5020 zeigt, dass der spezifische Anteil der einzelnen Faktoren, die auf die Trabekeldichte wirken, nicht genau bestimmbar ist.
Unbekannter Variationsbereich früher Homininen
Ein weiteres Problem ist die fehlende Kenntnis des Variationsbereiches der frühen Homininen. Falls SK 84 und SKX 5020 zu einem Taxon gehören, was aber sehr unsicher ist, würde allein dieser Umstand wegen der großen Variation der trabekulären Knochendichteverteilung keine detaillierten funktionellen Rückschlüsse ermöglichen.
Fazit
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Der Versuch von nur einem Knochenmerkmal auf die Funktion der ganzen Hand bei Homininen zu schließen, deren Merkmalskomplex bei heute lebenden Primaten nicht mehr zu beobachten ist, grenzt an Hybris. |
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Die Pan-ähnliche Trabekeldichte in der Basis des von einem dem Schimpansen unähnlichen Tieres stammenden Daumenmittelhandknochens SKX 5020 zeigt, dass von der Trabekelstruktur nicht auf die einzelnen spezifischen Belastungskomponenten der Hand wie z. B. manipulatives Verhalten geschlossen werden kann.
Über die bisher dargelegten speziellen Anfragen an die Studie von Skinner et al. (2015a) hinausgehend gibt es noch einen grundsätzlichen Einwand: Der Versuch von Skinner et al. (2015a), von nur einem Knochenmerkmal ohne Kenntnis der Nerven- und Weichteilstrukturen auf die Griffmöglichkeiten der ganzen Hand bei Tieren zu schließen, deren Merkmalskomplexe bei heute lebenden Primaten nicht mehr zu beobachten ist, grenzt an Hybris.
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