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Evolution vom Wasser ans Land: gar nicht so schwer?

von Reinhard Junker

Studium Integrale Journal
21. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2014
Seite 107 - 109


Zusammenfassung: Lebewesen sind in der Lage, auf Umweltänderungen durch Veränderungen im Bau, in der Physiologie oder im Verhalten zu reagieren (Plastizität). Das Erbgut enthält also Variationsprogramme, die bei Bedarf abgerufen werden. Diese Fähigkeit machten sich Forscher zunutze und ließen lungenatmende Flösselhechte auf Land aufwachsen. In der ungewohnten Umgebung zeigten die Fische als plastische Reaktion veränderte Verhaltensweisen und Änderungen im Bau einiger Knochen, die auf dem Land eine Verbesserung der Fortbewegung ermöglichen. Könnte diese plastische Fähigkeit in der angenommenen Evolution von Fischen zu Vierbeinern eine wichtige Rolle gespielt haben?




Einführung

Lebewesen haben die faszinierende Fähigkeit, sich unterschiedlichen Umweltbedingungen individuell anpassen zu können. Bestimmte Umweltreize können Veränderungen im Körperbau, in der Physiologie oder im Verhalten auslösen, die das Überleben ermöglichen oder erleichtern. Das Erbgut wird dabei nicht geändert, vielmehr sind im Erbgut Variationsprogramme verankert, die bei Bedarf abgerufen werden können. Diese Fähigkeit nennt man Plastizität („Formbarkeit“) oder (im deutschen Sprachraum) Modifikation und sie gehört sozusagen zur Standard-Ausstattung von Lebewesen. Ein typisches Beispiel ist die Bildung von Hornschwielen an Händen oder Füßen aufgrund verstärkter mechanischer Beanspruchung der Haut.

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Plastizität und Evolution

In der Evolutionsforschung hat das Phänomen Plastizität in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit gefunden. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob plastische Reaktionen das Potential beinhalten könnten, zu evolutionären Neuheiten zu führen. Auf den ersten Blick erscheint das wenig plausibel, denn plastische Änderungen sind keine Merkmale, die erst neu erworben wurden, sondern gehören bereits zum (zeitweise) verborgenen Repertoire der Lebewesen. Dennoch lautet eine Idee in Bezug auf Evolution wie folgt: In Extremumwelten (unter stark stressenden Bedingungen) könnten aufgrund einer plastischen Reaktion Merkmale ausgeprägt werden, die sonst nicht zum Vorschein kommen und die Ansätze zu einer weitergehenden Evolution darstellen könnten. Doch mehr als eine Idee ist dieser Ansatz bisher nicht.

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Flösselhechte als Modell
Abb. 1: Der Flösselhecht Polypterus senegalus, mit dem die Experimente durchgeführt wurden. (Wikipedia, CC BY 2.0)

Eine Forschergruppe hat diese Idee kürzlich angewendet auf die Frage, wie aus Fischen Vierbeiner geworden sein könnten (Standen et al. 2014). Es sind hierzu zwar einige Fossilien bekannt, doch kann diesen kaum irgendwelche Information entnommen werden, wie die zahlreichen für diesen Übergang notwendigen Änderungen abgelaufen sind. Dazu machten die Forscher nun Versuche mit dem Senegal-Flösselhecht (Polypterus senegalus). Flösselhechte gelten als urtümliche Strahlflosser-Fische, die an der Basis des Strahlflosser-Fisch-Stammbaums stehen, sozusagen unweit der Abzweigung der Fleischflosser, zu denen die mutmaßlichen Landwirbeltiervorläufer gehören. In gewissem Sinne stehen sie den damaligen mutmaßlichen ersten Landgängern also nahe.

Flösselhechte besitzen eine paarige Lunge, die zugleich als Schwimmblase fungiert, und sind zur Luftatmung befähigt. Sie leben zwar fast ausschließlich im Wasser in krautigen Uferbereichen, können aber auch auf Land überleben und von einem Wasserloch zum nächsten gelangen. Das schaffen sie, weil sie sich mit Hilfe ihrer kräftigen Brustflossen auf Land fortbewegen können und in der Lage sind, ihren Kopf etwas anzuheben. An dieser Fähigkeit knüpften die Wissenschaftler an. Sie zogen die Fische acht Monate lang außerhalb des Wassers auf und machten dabei bemerkenswerte Beobachtungen: Im Vergleich zur im Wasser aufgezogenen Kontrollgruppe setzten die Fische ihre Flossen näher an der Körpermitte auf und machten kürzere Schritte, wodurch sie weniger abrutschen. Außerdem hielten sie ihren Kopf höher und bewegten Flossen und Schwanz weniger, was das Laufen verbessert und Energie spart. Das veränderte Verhalten sei wahrscheinlich durch das häufige Üben erlernt, so die Forscher. Noch erstaunlicher sind Veränderungen in der Anatomie. Schlüsselbeine und Cleithrum (ein Knochen des Schultergürtels von Knochenfischen und einiger Vierbeiner) waren verlängert, wodurch der Platz zwischen dem Kiemendeckel und der Flosse vergrößert wird, was der Flosse mehr Bewegungsraum verleiht. Es handelt sich also um ein typisches Beispiel von Plastizität. Interessanterweise sind die auf Land aufgezogenen Fische nicht schlechter im Schwimmen als die im Wasser aufgezogene Kontrollgruppe.

Die bei den Flösselhechten beobachteten Veränderungen ähneln den Ausprägungen bei einigen fossilen Formen, die als Vorläufer der Landwirbeltiere diskutiert werden (s. u.). Daher formulieren die Forscher die Idee, dass auch bei diesen Formen vor 400 Millionen Jahren zur Zeit des Devons die beim Flösselhecht beobachtete phänotypische Plastizität eine vielleicht wesentliche Rolle gespielt haben könnte.

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Ein Beitrag zur Erklärung von Makroevolution?

Das Experiment von Standen et al. (2014) liefert interessante Ergebnisse. Es erinnert an ein unfreiwilliges Experiment mit einer Ziege, die von Geburt an nur Vorderbeine hatte, es aber lernte damit umzugehen, was ebenfalls auch anatomische Veränderungen zur Folge hatte (Slijpers Ziege; Beschreibung z. B. bei West-Eberhard 2005, 611). Kirschner & Gerhart (2005) nennen diese Fähigkeit von Geweben und Organen, auf äußere Reize flexibel reagieren zu können, „exploratives Verhalten“. Explorative Systeme sind „antwortend“, d. h. sie reagieren auf äußere Signale. Allerdings entstehen dadurch keine neuen Bauelemente und keine neuen Wechselwirkungen wie z. B. neue Muskelansatzstellen oder neue Knochenelemente.

Die Änderungen betreffen keine Neuheiten, sondern sind Variationen vorhandener Konstruktionselemente.

Zur Einschätzung der möglichen Bedeutung in Bezug auf Evolution, insbesondere zur Frage, wie evolutionäre Neuheiten entstehen könnten (Makroevolution), sollen nachfolgend einige Aspekte zusammengestellt werden.

  • Die Änderungen betreffen keine Neuheiten, sondern sind Variationen vorhandener Konstruktionselemente. Die Flösselhechte besaßen anfangs bereits die Fähigkeit, auf Land zu gehen und auf Land zu überleben. Darüber, wie diese Fähigkeit entstand, geben die Experimente keinen Aufschluss.
  • Die Fische würden das experimentell hervorgerufene Verhalten in ihrem natürlichen Lebensraum nicht zeigen. Dort graben sie sich bei Wasserknappheit in den Schlamm. Freiwillig würden die Fische die Versuche der Fortbewegung auf Land vermutlich nicht machen.
  • Standen et al. (2014) ziehen Vergleiche der Knochenveränderungen mit dem fossilen Quastenflosser Eusthenopteron und mit den Tetrapoden (Vierbeinern) Acanthostega und Ichthyostega, die zu den ältesten Tetrapodengattungen gehören. Eusthenopteron war ein reines Wassertier und seine Merkmalsausprägungen sind daher kaum geeignet, eine beginnende Landanpassung zu belegen. Ähnliches gilt auch für Acanthostega. Dieser war zwar ein Vierbeiner und besaß acht Finger, lebte aber wahrscheinlich ebenfalls ausschließlich im Wasser, was aus einer Reihe anatomischer Merkmale geschlossen wird (Clack 2002, 124). Aussagekräftiger ist dagegen der Vergleich mit Ichthyostega, da diese Gattung sehr wahrscheinlich auch an Land ging und klassisch als das „erste Amphibium“ gilt. Dennoch: Ichthyostega war sehr ungewöhnlich konstruiert mit stark überlappenden Rippen und ist in dieser und anderer Hinsicht ganz einzigartig gebaut (Ahlberg et al. 2005). Diese Autoren betrachten Ichthyostega als eines von mehreren kurzlebigen evolutionären Experimenten; diese Gattung wäre daher ebenfalls kein idealer Kandidat für eine Modellierung des Übergangs von Wasser ans Land.
  • Dass es Ähnlichkeiten der anatomischen Veränderungen im Vergleich mit fossilen Formen gibt, die als Vorläufer der Vierbeiner diskutiert werden, ist nicht überraschend, da es dafür eine funktionelle Notwendigkeit gibt.
  • Es ist unklar, woher die plastischen Fähigkeiten kommen, meist wird große Plastizität aus Ausgangssituation betrachtet.
    Beim Übergang vom Leben im Wasser zu einem Leben an Land sind zahlreiche sehr viel grundlegendere Änderungen notwendig als die plastischen Änderungen, die bei den Flösselhechten beobachtet wurden.
  • Hutchinson (2014) weist darauf hin, dass Flösselhechte trotz ihrer Plastizität keine landlebenden Nachfahren haben.
  • Ob die plastisch erworbenen Merkmale bei Polypterus auch an die Nachkommen weitergegeben werden, ist derzeit nicht geklärt; das soll eine Fortsetzung des Experiments über mehrere Generationen zeigen. Plastische Änderungen gehen bei Wegfall der betreffenden Bedingungen wieder verloren; sie müssen im Laufe vieler Generationen fixiert werden, um evolutive Bedeutung zu erlangen. Ob dies bei Polypterus möglich ist, ist nicht bekannt; Pennisi (2014) meint, das sei ein „Geheimnis“.
  • Zahlreiche Studien zur Plastizität der Lebewesen zeigen ziemlich übereinstimmend, dass es einen Trend von anfangs hoher Plastizität in Richtung verringerter Plastizität gibt (Überblick bei Junker 2014). Diese Beobachtung machten die Forscher auch bei den außerhalb des Wassers aufgezogenen Flösselhechten: Ihre Gehbewegungen weisen eine verringerte Variabilität auf (Standen et al. 2014, 56). Interessant wird hier sein, welche Tendenz sich bei den geplanten Mehr-Generationen-Experimenten zeigen wird.
  • Wie auch in anderen Fällen ist unklar, woher die plastischen Fähigkeiten kommen (Hutchinson 2014); klar ist aber, dass sie im normalen Lebensraum der Flösselhechte nützlich sind.
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Schlussfolgerungen

In der Tagespresse wurden die Befunde zur Plastizität der Flösselhechte teilweise stark überbewertet. Eine der Überschriften lautete: „Evolution in acht Monaten: Wie Fische laufen lernen“ (www.ruhr-lippe-marktplatz.de). Was bisher Theorie gewesen sei, sei nun in der Praxis ansatzweise nachgewiesen worden. Das ist irreführend und auch keineswegs die Aussage des Originalartikels. Standen et al. (2014, 54) schreiben vielmehr: „Unsere Resultate eröffnen die Möglichkeit, dass umweltinduzierte Entwicklungs-Plastizität die Entstehung der Land-Merkmale, die zu den Vierbeiner führten, erleichtert haben.“ Ob sie diese Entstehung auch ermöglichen, ist angesichts der oben genannten Befunde und Probleme mehr als fragwürdig.

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Literatur

Ahlberg PE, Clack JA & Blom H (2005)
The axial skeleton of the Devonian tetrapod Ichthyostega. Nature 437, 137-140.
Clack JA (2002)
Gaining Ground. The origin and evolution of tetrapods. Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press.
Hutchinson J (2014)
Dynasty of the plastic fish. Nature 513, 37-38, doi:10.1038/nature13743.
Junker R (2014)
Plastizität der Lebewesen: Baustein für Makroevolution? W+W Special Paper B 14-2, www.wort-und-wissen.de/artikel/sp/b-14-2-plastizitaet.pdf
Kirschner MW & Gerhart JC (2005)
The Plausibility of Life. Resolving Darwin’s Dilemma. New Haven and London.
Pennisi E (2014)
Fish raised on land give clues to how early animals left the seas. http://news.sciencemag.org/biology/2014/08/fish-raised-land-give-clues-how-early-animals-left-seas.
Standen EM, Du TY & Larsson HCE (2014)
Developmental plasticity and the origin of tetrapods. Nature 513, 54-58; doi:10.1038/nature13708
West-Eberhard MJ (2005a)
Phenotypic accommodation: Adaptive innovation due to developmental plasticity. J. Exp. Zool. 304B, 610-618.


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