Weitreichende Ähnlichkeiten von Fliegen- und Wirbeltiergehirn
Erst kürzlich wurde festgestellt, dass Verschaltungen in den Gehirnen von Vögeln und Menschen trotz deutlich unterschiedlicher Lebensweise der Träger doch sehr ähnlich sind (Güntürkün et al. 2013). Ähnlichkeiten zwischen Gehirnen sind aber offensichtlich noch über weit größere stammesgeschichtliche Entfernungen hinweg festzustellen: In einem Übersichtsartikel in Science vergleichen Strausfeld und Hirth (2012) Hirnstrukturen von Gliederfüßern (z. B. Insekten, Krebstiere) mit denen von Wirbeltieren. Verglichen werden Areale, die für die Kontrolle von gezielten Bewegungen zuständig sind, die also die Basis für jedes angepasste Verhalten bilden. Bei den Wirbeltieren sind das die sogenannten Basalganglien, mehrere an der Basis des Großhirnes liegende Kernregionen. Bei den Insekten ist es der Zentralkomplex, ein im Innern des Insektenhirns liegender dreigeteilter Bereich.
Die Gemeinsamkeiten beginnen schon bei der Embryonalentwicklung, während derer die Vorläuferzellen, welche später Basalganglien bzw. den Zentralkomplex bilden, aus jeweils ähnlichen Bereichen des embryonalen Gehirns stammen. Untersuchungen der Genaktivität während der Gehirnentwicklung zeigen, dass viele homologe (also von der DNA-Sequenz ähnliche) Gene in entsprechenden Regionen bei Gliederfüßern und Wirbeltieren aktiv sind. In Basalganglien und Zentralkomplex laufen im sich entwickelnden Gehirn also vergleichbare genetische Programme ab und das in ähnlichen räumlichen Mustern.
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Die Gemeinsamkeiten betreffen die Embryonalentwicklung, die genetischen Programme, die räumlichen Muster der Genaktivität, die neuronale Architektur,
die Verschaltung der verschiedenen Hirnbereiche und anderes. |
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Die neuronale Architektur, also die Anordnung von Nervenzellen bei Basalganglien der Wirbeltiere und im Zentralkomplex der Gliederfüßer zeigt einen vergleichbar modularen Aufbau, wobei die einzelnen Komponenten in den Tieren beider Tierstämme ähnliche Funktionen erfüllen. Der sogenannte Fächerförmige Körper der Insekten ist dabei vergleichbar dem Wirbeltier-Striatum und der Ellipsoide Körper dem sog. Pallidum der Wirbeltiere (beides Elemente der Basalganglien).
Auch die Verschaltung der verschiedenen Bereiche zeigt deutliche Ähnlichkeiten: Hemmende Neuronen (Nervenzellen), die g-Aminobuttersäure (GABA) als Überträgersubstanz zwischen Nervenzellen verwenden, sind in Regelkreisen mit Dopamin und Glutamat verwendenden Neuronen verschaltet. In Wirbeltieren werden Bewegungen nämlich auf unerwartet komplizierte Art gesteuert, indem Nervenzellen, die Dopamin als Transmitter verwenden, Bewegungshemmung aufheben bzw. modulieren. Die Bewegungshemmung wird durch Neuronen hervorgerufen, die GABA als Transmitter verwenden; Bewegungen werden also dadurch ausgelöst, dass die Hemmung aufgeboben wird. Das Prinzip ist vergleichbar etwa der Druckluft-Feststellbremse bei LKWs, die erst durch Pressluft geöffnet werden muss, bevor das Fahrzeug sich bewegen kann. Bei Gliederfüßern deuten die Befunde auf ganz ähnliche komplizierte Schaltkreise mit Neuronen derselben Spezifitäten hin, die in diesem Fall den Fächerförmigen und den Ellipsoiden Körper verbinden.
Die augenscheinlichsten Gemeinsamkeiten zwischen Basalganglien und Zentralkomplex kann man aber feststellen, wenn die entsprechenden Strukturen entweder gezielt oder durch Verletzungen, Infektionen oder altersbedingte Degeneration beeinträchtigt werden: Beim Menschen z. B. wird durch Störung der Basalganglien eine breite Palette von motorischen Fehlfunktionen hervorgerufen, die sowohl übertriebene als auch unterdrückte Bewegungsaktivität zur Folge haben kann. Wenn zum Beispiel die oben genannten dopaminergen Neuronen ausfallen, führt das zur Parkinson-Krankheit, die dadurch gekennzeichnet ist, dass das Gehirn mehr und mehr Bewegungen nicht mehr kontrolliert unterdrücken kann. Auch Tourette-Syndrom, Chorea Huntington, Verkrampfungen und Fehlhaltungen, aber auch psychiatrische Fehlfunktionen wie Gedächtnisstörungen, Aufmerksamkeits-, Affektive- und Schlafstörungen sind Folge von Defekten der Basalganglien.
Interessanterweise zeigen Insekten ganz ähnliche Verhaltensweisen und Defizite, wenn Strukturen im Zentralkomplex beeinträchtigt sind. In der Taufliege führt Mangel an Dopamin zu Bewegungsstörungen, verlängerten Schlafzeiten und Verlust von Vermeidungsreaktionen, die normalerweise durch bestimmte Gerüche hervorgerufen werden. Altersbedingter Mangel an Dopamin ausschüttenden Neuronen führt auch hier zu Parkinson-ähnlichen Symptomen. Dr. Hirth vom Londoner King’s College für Psychiatrie stellt deshalb fest, dass er am beeinträchtigten Insektenhirn viel darüber lernen kann, wie Fehlfunktionen im menschlichen Gehirn zustande kommen.
All diese in der Summe erstaunlichen Ähnlichkeiten deuten die Autoren als „tiefe“ Homologie, also Ähnlichkeit durch gemeinsamen Ursprung zwischen Tierstämmen, die eigentlich als nur sehr entfernt verwandt angesehen werden. Sie bedeutet in letzter Konsequenz, dass bereits der sehr entfernt angenommene erste gemeinsame Vorfahr von Wirbeltieren und Gliederfüßern (und Stummelfüßern sowie weiteren Würmern, die auch einen Zentralkomplex aufweisen) ein Gehirn besessen haben muss, das komplexes, durch absichtsvolle Bewegung geprägtes Verhalten steuern konnte. In einem Kommentar zu ihrer Publikation untermauern die Autoren diese Annahme mit Spuren, die unbekannte Lebewesen vor hunderten Millionen radiometrischen Jahren auf heute versteinertem Meeresboden hinterlassen haben, die bereits zielgerichtete Bewegungsänderungen erkennen lassen.1
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