Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 19. Jg. Heft 1 - Mai 2012
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Wie sicher sind paläanthropologische Deutungen?

Das unerwartete Merkmalsmosaik von Australopithecus sediba

von Michael Brandt

Studium Integrale Journal
19. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2012
Seite 68 - 77


Zusammenfassung: Australopithecus sediba wird im Evolutionsmodell als „Vormensch“ gedeutet. Sein Fortbewegungsskelett weist ein unerwartet ausgeprägtes Merkmalsmosaik mit „fortschrittlichen“ Beckenmerkmalen und „primitiven“ Fußmerkmalen auf. Dieser schwer zu deutende Befund mahnt zur Vorsicht bei der Interpretation der Fortbewegung fossiler Wesen wie den Australopithecinen, für die es heute keine Analogie gibt, und er zeigt die Vorläufigkeit paläanthropologischer Deutungen.




Einleitung
Abb. 1: Zwei Teilskelette von Australopithecus sediba (MH1 jugendliches Individuum und MH2 erwachsenes Individuum) in etwa anatomisch regelrechter Position. Der rechte obere Teil des Schienbeines von MH1 ist auf der Grundlage eines natürlichen Abgusses der oberen Metaphyse rekonstruiert worden. Die Metaphyse ist der Abschnitt eines Röhrenknochens, welcher zwischen dem Schaft des Knochens (Diaphyse) und der Epiphyse liegt. (Aus Berger et al. 2010)

Die Australopithecinen werden im evolutionären Stammbaum als „Vormenschen“ oder „Affenmenschen“ gedeutet, d. h. als Wesen, die nicht mehr Großaffen und noch nicht Menschen waren. 2008 entdeckten Forscher um Lee Berger und Peter Schmid zwei Teilskelette in Malapa, Südafrika, die neben zahlreichen Australopithecus-Merkmalen auch einige menschenähnliche Merkmale aufweisen, die bislang von keinem anderen Australopithecinen bekannt waren (Abb. 1).

Sie etablierten deshalb die neue Art Australopithecus sediba (Berger et al. 2010). Nach den Entdeckern ist der bemerkenswerteste Umstand an Australopithecus sediba, dass die neue Art von allen Australopithecinen die größte Ähnlichkeit zum Menschen (Homo) aufweist. Die Homo-ähnlichen Merkmale, die nur bei diesen Australopithecinen vorkommen, finden sich im Bereich des Schädels, der Zähne und des Beckens.

Berger et al. (2010) messen ihrem neuen Fund eine große Bedeutung bei der Frage nach der Entstehung unserer eigenen Gattung Homo bei. Ist Australopithecus sediba tatsächlich ein Meilenstein bei dem Versuch der evolutionären Deutung unserer Herkunft oder wirft die neue Art in diesem Denkrahmen nur mehr Fragen und Probleme auf? Konkret stellt sich die Frage, ob der Merkmalskomplex von Australopithecus sediba in einem evolutionären Stammbaum plausibel gedeutet werden kann oder ob nicht das Grundtypkonzept der Schöpfungslehre dafür besser geeignet ist.

Australopithecus sediba ist aber noch aus einem weiteren Grund eine sehr interessante Entdeckung. In jahrzehntelanger Forschungsarbeit wurden Merkmale und Merkmalskomplexe des Körperstamm- und Extremitätenskeletts der Australopithecinen im Rahmen ihrer Fortbewegung gedeutet. Bei Australopithecus sediba wurden jedoch Merkmale gefunden, die nach bisherigen Deutungen einfach nicht „zusammenpassen“. Die Beckenmerkmale können zwar als evolutionäre Veränderung in Richtung Mensch gedeutet werden, die Fußstruktur überrascht jedoch, denn diese passt gar nicht zum „fortschrittlichen“ Becken. Angesichts dieser Tatsache stellt sich die Frage nach der Sicherheit von Merkmalsinterpretationen (insbesondere bei isolierter Betrachtung) und damit auch paläanthropologischer Deutungen von ausgestorbenen Lebewesen, für die es heute keine Analogie gibt. Der Merkmalsmix von Australopithecus sediba provoziert hier überraschend neue Unsicherheiten.

Zunächst werden Merkmale des Beckens und die dazu unerwarteten Merkmale des Fußes von Australopithecus sediba dargestellt.

2008 entdeckten Forscher um Lee Berger und Peter Schmid in Südafrika zwei Teilskelette, die neben zahlreichen Australopithecus-Merkmalen auch einige menschenähnliche Anpassungen aufweisen, die bislang von keinem anderen Australopithecinen bekannt sind. Sie etablierten deshalb die neue Art Australopithecus sediba.

In jahrzehntelanger Forschungsarbeit wurden Merkmale und Merkmalskomplexe der Australopithecinen im Rahmen ihrer Fortbewegung gedeutet. Der überraschende Merkmalsmix von Australopithecus sediba provoziert jedoch neue Unsicherheiten in der Interpretation von Merkmalen ausgestorbener Lebewesen, für die es heute keine Analogie gibt. Die Beckenmerkmale können zwar als evolutionäre Veränderung in Richtung Mensch gedeutet werden, die „primitive“ Fußstruktur passt aber überhaupt nicht zum „fortschrittlichen“ Becken. Und am Fuß wird auf Merkmale geschlossen, die in der Zusammenschau nicht plausibel zu interpretieren sind. Es zeigt sich, dass Deutungen fossiler Funde in Ursprungskonzepten notwendigerweise spekulativ bleiben müssen.

Die Australopithecinen werden im evolutionären Stammbaum als „Vormenschen“ oder „Affenmenschen“ gedeutet. Die phylogenetische Position von Australopithecus sediba ist wegen des ausgeprägten Merkmalsmosaiks unklar. In der Schöpfungslehre gehört Australopithecus sediba zu einem ausgestorbenen Grundtyp von Großaffen, die keine historisch-verwandtschaftlichen Beziehungen zu den lebenden und fossilen echten Menschen aufweisen, die einen eigenen Grundtyp bilden.

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Becken und Fuß von Australopithecus sediba

Becken

Das Becken von Australopithecus sediba weist zahlreiche Merkmale auf, wie sie typisch auch bei den anderen Australopithecinen vorkommen. Dazu gehören eine kleine Gelenkfläche für das Darmbein-Kreuzbein-Gelenk und eine kleine Gelenkpfanne für das Hüftgelenk, eine deutliche Abwinklung zwischen dem Ursprungsgebiet der rückseitigen Oberschenkelmuskulatur (Oberschenkelbeuger) und dem großen Adduktormuskel (Zuzieher des Oberschenkels) auf dem Sitzbeinhöcker, eine vorn lokalisierte undeutlich abgrenzbare Darmbeinknochenstrebe und ein langes Schambein. Der Beckenmerkmalskomplex von Australopithecus sediba ist im Kasten S. 72f. aufgelistet (Kibii et al. 2011).

Abb. 2: Hüftknochen früher Homininen von außen gesehen. Alle Beckenknochen sind so ausgerichtet, dass die Darmbeinschaufeln in der Abbildungsebene (Ebene der Fotografie) liegen. Australopithecus sediba (MH1, zusammengesetzt) besitzt einige menschenähnliche bzw. intermediär zwischen Australopithecus und Homo stehende Merkmale. Dazu gehören (1) ein verringerter Abstand zwischen Kreuzbein-Darmbein-Gelenk (gelbe Fläche) und Hüftgelenk (Kreisfläche), (2) ein vergrößertes Gebiet des Darmbeines hinter der Gelenkfläche für das Kreuzbein (blaue Pfeile), (3) eine gut entwickelte Knochenstrebe zwischen der Hüftgelenkspfanne und dem Darmbeinkamm (grüne Pfeile) und zwischen der Hüftgelenkspfanne und dem Kreuzbein und (4) eine enge Rinne zwischen dem Sitzbeinhöcker und der Hüftgelenkspfanne (gelbe Pfeile). (Aus Berger et al. 2010). Nach Reed & Churchill (2012) ist (3) bei Australopithecus sediba nicht stärker als bei den anderen Australopithecinen entwickelt.

 

Abb. 3: Das Becken früher Homininen (MH2 gespiegelt) von unten vorn (obere Reihe) und oben vorn (untere Reihe) gesehen. Die Beckenschaufeln von Australopithecus africanus und Australopithecus afarensis (hier nicht dargestellt) erstrecken sich mehr zur Seite als bei Australopithecus sediba, dessen Beckenschaufeln mehr vertikal (intermediär zwischen Australopithecus und Homo) ausgerichtet sind. (Aus Kibii et al. 2011)

Das Becken von Australopithecus sediba weist aber auch Homo-ähnliche oder intermediär zwischen dem Menschen und den Australopithecinen stehende Merkmale auf. Zu diesen Merkmalen gehören eine stärkere Verstrebung (siehe aber Reed & Churchill 2012 [Kasten] und Übersicht bei Brandt 1995) und eine vergrößerte hintere Region des Darmbeines, ein verringerter Abstand zwischen dem Kreuzbein-Darmbein-Gelenk und dem Hüftgelenk, eine schmale Furche zwischen dem Sitzbeinhöcker und der Hüftgelenkspfanne (Abb. 2) und mehr vertikal ausgerichtete Beckenschaufeln (Abb. 3).

Die „fortschrittlichen“ Homo-ähnlichen bzw. intermediären Merkmale von Australopithecus sediba kann man als vorteilhaft für eine bipede (zweibeinige) Fortbewegung deuten. Im Kasten S. 72f. sind solche Merkmale mit funktionellen Konsequenzen zusammengestellt. Australopithecus sediba verfügt auch über ein Stärkenverhältnis des Oberarmknochenschaftes zum Oberschenkelknochenschaft, das auf eine menschenähnlichere Lastverteilung der Extremitäten als bei Australopithecus („Homo“) habilis (OH 62) schließen lässt (Berger et al. 2010) und damit auf eine bessere bipede Fortbewegung gegenüber letzterem hindeutet.

Allein von den Beckenmerkmalen könnte man schließen, dass Australopithecus sediba von allen Australopithecinen am besten an eine bipede Fortbewegung angepasst war, wenn auch nicht so gut wie Homo erectus (darauf weisen insbesondere die kleinen Kreuzbein-Darmbein-Gelenke und Hüftgelenke hin). Aber solch einer Konsequenz widersprechen überraschenderweise die Fußmerkmale.

Fuß und oberes Sprunggelenk

Das Gelenk zwischen dem Schienbein und dem Sprungbein (oberes Sprunggelenk) weist eine überwiegend menschenähnliche Struktur auf. Dagegen sind die Fußknochen von Australopithecus sediba überwiegend großaffenähnlich strukturiert. Im Kasten S. 72f. sind Merkmale des oberen Sprunggelenkes und der Fußknochen zusammengestellt. Welche Schlüsse können von diesen Knochen für die Fortbewegung von Australopithecus sediba abgeleitet werden?

Abb. 4: Ansicht des unteren Endes des linken Schienbeines vom Schimpansen, modernen Menschen und fossilen Homininen von außen. Zum besseren Vergleich sind alle Schienbeine auf etwa gleiche Größe gebracht und einige gespiegelt. Der Hinterrand des Plafond von Australopithecus sediba stellt sich gegenüber dem Vorderrand wie bei den meisten modernen Menschen und den meisten fossilen Homininen (Ausnahmen AL 288-1 und KNM-KP 29285) tiefer dar. (UW 88-21 aus Zipfel et al. 2011, die anderen Abbildungen aus DeSilva & Throckmorton 2010)

Mehrere Merkmale des Unterschenkels und des Fußes von Australopithecus sediba werden von Zipfel et al. (2011) im Zusammenhang mit einer bipeden Fortbewegung gedeutet. Andere Merkmale sprechen aber gegen eine Bipedie (Zweibeinigkeit) und für ausgeprägtes Klettern.

Hinweise auf eine bipede Fortbewegung

Abb. 5: Ansicht der unteren Metaphyse des Schienbeines in zwei Ebenen. Die Metaphyse ist der nicht scharf abgrenzbare epiphysennahe Abschnitt der Diaphyse langer Röhrenknochen. (Nach Zipfel et al. 2011)

Die Gelenkfläche des Schienbeines für das Sprungbein ist senkrecht zur langen Schienbein-Schaftachse ausgerichtet. Diese Ausrichtung wird als Hinweis auf eine Stellung des Knies über dem Fuß wie beim Menschen und bei frühen fossilen Homininen („Vormenschen“) gedeutet (Zipfel et al. 2011).

Weiterhin werden die tiefe Einkerbung und die leichte Keilform der Schienbein-Gelenkfläche für das Sprungbein und eine erweiterte Metaphyse (Abschnitt zwischen dem Knochenschaft und dem Knochenendstück) als bipede Anpassungen gedeutet (Zipfel et al. 2011; Abb. 4-7).

Der abgewinkelte Fersenhöcker, die glatte Oberfläche am hinteren Rand der Ferse, die auf einen dort gelegenen Schleimbeutel hinweist, und Knochenfasern für den Ansatz der Achillessehne sind nach Zipfel et al. (2011) Hinweise auf einen menschenähnlichen Ansatz der Achillessehne. Allerdings weisen Zipfel et al. (2011) darauf hin, dass diese Merkmale nach eigenen Untersuchungen auch bei wenigen Gorillas nachweisbar sind und die Länge der Achillessehne nicht allein von der äußeren Fersenbeinmorphologie bestimmt werden kann.

Nur beim Menschen, nicht aber bei den Affen existiert ein Längsfußgewölbe. Zipfel et al. (2011) schließen auf diese Wölbung bei Australopithecus sediba von folgenden Merkmalen: Der hintere Rand der Scheinbein-Gelenkfläche stellt sich gegenüber dem vorderen Rand tiefer gelegen dar (Abb. 4), Kopf und Hals des Sprungbeines (Abb. 8) und die Gelenkfläche für das Würfelbein auf dem Fersenbein (Abb. 10) sind zur Fußsohle hin abgewinkelt. Außerdem weise ein kleiner Höcker auf der Unterfläche des Fersenbeines auf den Ansatz eines langen Sohlenbandes hin (Abb. 11). Dieses Band ist Teil der Weichteilstrukturen des Fußgewölbes. Es stabilisiert den „midfoot“1.

Abb. 6: Ansicht des unteren Endes des Schienbeines vom modernen Menschen, Schimpansen und fossiler Homininen. Das Oberdach der unteren Gelenkfläche des Schienbeines (Plafond) ist beim modernen Menschen und den fossilen Homininen senkrecht, beim Schimpansen dagegen schräg zur langen Achse des Schienbeines ausgerichtet. (UW 88-21 nach Zipfel et al. 2011, die anderen Abbildungen nach DeSilva & Throckmorton 2010)

In Anbetracht dieser Anzahl „fortschrittlicher“ Merkmale sind die vielen großaffenähnlichen Anpassungen am Fuß und Innenknöchel von Australopithecus sediba mit deutlichem Hinweis auf eine differente Kraftübertragung und höhere Mobilität gegenüber dem Menschen und anderen fossilen Homininen völlig unerwartet. Denn diese Merkmale sprechen gegen eine gute bipede Fortbewegung und für ausgeprägte Kletteraktivitäten.

Hinweise gegen eine bipede Fortbewegung

Das Fehlen eines gewichtstragenden Processus plantaris lateralis (Knochenfortsatz auf dem Fersenbein unten außen) bei Australopithecus sediba hat nach Zipfel et al. (2011) eine große funktionelle Bedeutung. Die auf dem Boden sich fortbewegenden Großaffen haben mit einem schnabelähnlichen Knochenfortsatz auf dem Fersenbein unten innen (Processus plantaris medialis) beim Aufsetzen der Ferse Kontakt mit dem Boden. Die vierfüßigen Großaffen können den fehlenden Kontakt eines gewichtstragenden Processus plantaris lateralis jedoch dadurch ausgleichen, dass sie ihre Körpermasse über mehrere Kontaktpunkte (Extremitäten) auf den Boden übertragen und so die Belastung auf einer Extremität während des Gehzyklus reduzieren. Australopithecus sediba ist nach Zipfel et al. (2011) ein Bipede. Weil der Processus plantaris lateralis sich aber nicht an der Stelle befindet, wo er gewichtstragend wirkt, konzentrieren sich die Bodenreaktionskräfte, die beim Fersenauftritt entstehen, auf den Processus plantaris medialis. Die kinetische Konsequenz ist eine stärkere Belastung der Ferse, dagegen spricht aber die Anatomie des Fersenbeines (kleiner Fersenhöcker mit Abschrägung unten außen und fehlendem Processus plantaris lateralis). Nach Zipfel et al. (2011) ist es folglich unklar, wie Australopithecus sediba sich biped fortbewegte ohne die Ferse sehr stark zu belasten. Die naheliegende Hypothese, dass Australopithecus sediba sich vielleicht auch auf allen Vieren fortbewegt haben könnte, diskutieren die Autoren nicht.

Abb. 7: Das Oberdach (Plafond) der Gelenkfläche für das Sprungbein auf dem Schienbein vom Schimpansen, modernen Menschen und fossilen Homininen von unten gesehen (StW 358 gespiegelt). Beim Schimpansen ist diese Gelenkfläche oft trapezförmig ausgebildet. Beim Menschen und den fossilen Homininen stellt sie sich dagegen mehr rechteckig/quadratisch dar. Der Innenknöchel von Australopithecus sediba ist extrem robust und damit unähnlich dem mehr grazilen Innenknöchel des modernen Menschen und der anderen fossilen Homininen. (Aus Zipfel et al. 2011)

Merkmale des Beckens von Australopithecus sediba nach Kibii et al. (2011)
Zum Beckenskelettmaterial von Australopithecus sediba gehören die Hüftknochen der beiden Teilskelette MH1 und MH2 und das Kreuzbein von MH2, die aber nur fragmentarisch erhalten sind. Um die Beckenstruktur insgesamt beurteilen zu können, waren deshalb Rekonstruktionen erforderlich.

Zu MH1 gehören vier Hüftfragmente, der anteroinferiore Teil des rechten Os ilium, der posteroinferiore Teil des rechten Os ilium, der posteriore Teil des linken Os ilium und der größte Teil des rechten Os ischium. Die proximale Epiphysenplatte des rechten Femurs wurde zur Rekonstruktion der Acetabulumgröße benutzt.

Zu MH2 gehören ein weitestgehend vollständiges rechtes Os iIium (von dem der vordere Teil der iliacalen Schaufel fehlt), ein komplettes rechtes Os pubis und der Symphysenteil des linken Os pubis. Zusätzlich wurde der rechte Femurkopf zur Rekonstruktion der Acetabulumgröße benutzt.

Australopithecus-ähnliche Merkmale
• Großer Abstand zwischen den Hüftgelenkspfannen • Vorn gelegene undeutliche Darmbeinknochenstrebe • Kleine Fläche für das Darmbein-Kreuzbein-Gelenk (Facies auricularis) und für das Hüftgelenk (Acetabulum) • Deutliche Abwinklung zwischen der Ursprungsfläche der ischiocruralen Muskeln (M. biceps brachii, M. semimembranosus, M. semitendinosus) und des M. adductor magnus auf dem Tuberculum ossis pubis • Schwach entwickelte iliopubische Eminenz • Langes Os pubis • Nach medial lokalisiertes Tuberculum pubicum (Höcker für den Ansatz des Leistenbandes) • Mediolateral breite Kreuzbeinflügel im Verhältnis zum Kreuzbeinzentrum • Kleine dorsale sakrale intermediäre Fossa (Ansatzgebiet für die sakroiliakalen Bänder) • Nicht runzeliger und nicht prominenter inferiorer Rand der lateralen Crista des Os sacrum

Intermediäre Merkmale zwischen den Australopithecinen und Homo
• Stärkere sagittale (mehr vertikale) Ausrichtung der Darmbeinschaufeln • S-förmige Krümmung des Darmbeinkammes (mit einer stark entwickelten Grube für den M. iliacus und M. gluteus medius) und einer nach medial gekrümmten Spina iliaca anterior superior • Stärkere Verstrebung des Darmbeinkörpers (vergrößerte acetabulo-cristale Knochenstrebe). Dagegen ist nach Reed & Churchill (2012) die acetabulo-cristale Knochenstrebe bei Au. sediba nicht stärker als bei den anderen Australopithecinen ausgebildet • Hervortretendes und runzeliges Ansatzgebiet des Ligamentum iliofemorale

Homo-ähnliche Merkmale
• Verringerter Abstand zwischen Kreuzbein-Darmbein-Gelenk und Hüftgelenk • Erweiterung des hinteren Abschnittes des Darmbeines (retroaurikuläres Gebiet) • Deutlich hervortretende Tuberositas am Darmbein • S-förmige vordere Crista iliaca • Riff-ähnlicher Ansatz des reflektierten Kopfes des M. rectus femoris • Kurzes Os pubis und enger Sulcus tuberoacetabulare • Nach außen gewendete Tuberositas ossis ischii • Mehr nach oben positionierter Ramus superior ossis pubis • Superiorinferior elongierte Fascies symphysealis; eine weniger ovoide, mehr rechtwinklige Symphyse • Verstärkte Krümmung des Os sacrum in der Sagittalebene • Vergrößerter transversaler Fortsatz (dorsales alares Tuberkulum oder „oberer lateraler Winkel“) auf dem ersten Kreuzbeinwirbel • Die aurikulare Gelenkfläche auf dem Kreuzbein erstreckt sich bis auf den dritten Kreuzbeinwirbel. • Vergrößerter lumbosakraler Winkel • Vergrößerung des anteroposterioren Durchmessers des Beckeneinganges (weniger breite und mehr gynäkoide Beckeneingangsform)

Homo-ähnliche und intermediär zwischen Australopithecus und Homo stehende Merkmale des Beckens von Australopithecus sediba und funktionelle Konsequenzen (erste vier Auflistungen nach Berger et al. 2010).
• Die Verringerung des sakroacetabulären gewichtstragenden Lastarmes (verringerter Abstand zwischen Kreuzbein-Darmbein-Gelenk und Hüftgelenk) und eine verstärkte acetabulo-cristale Knochenstrebe widerspiegeln einen besseren Hüftstreckmechanismus. • Die Vergrößerung des Ansatzes des Ligamentum iliofemorale widerspiegelt eine Gewichtsübertragung hinter dem Rotationszentrum des Hüftgelenkes wie sie beim zweibeinig gehenden Menschen auftritt. • Die verstärkte acetabulo-cristale Knochenstrebe weist auf ein Belastungsmuster mit stärker wirkenden Abduktionskräften, wie sie beim zweibeinigen Gang des Menschen mit alternierender Beckenneigung auftreten, hin. Dagegen ist nach Reed & Churchill (2012) die funktionelle Bedeutung dieser Knochenstrebe offen, denn die Dicke der acetabulo-cristalen Knochenstrebe unterscheidet sich signifikant zwischen dem frühen und dem modernen Homo. Weder stärkere Abduktionskräfte noch die mehr mediale Krümmung der Beckenschaufeln können nach diesen Autoren die Verdickung der acetabulo-cristalen Knochenstrebe verursachen (siehe auch Übersicht verschiedener Autorenmeinungen zu dieser Struktur bei Brandt 1995). • Die Verringerung des Abstandes zwischen dem Acetabulum und der Tuberositas ossis ischii widerspiegelt eine Reduktion des Hebelarmes der ischiocruralen Muskeln (M. biceps femoris, M. semimembranosus, M. semitendinosus). • Die mehr vertikal ausgerichteten Beckenschaufeln führten zu einer mehr seitlichen Positionierung des M. glutaeus medius und minimus, die damit im Vergleich zu den anderen Australopithecinen und Großaffen besser als Hüftabduktoren wie beim Menschen wirken können.

Merkmale des oberen Sprunggelenkes und Fußes von Australopithecus sediba (nach Zipfel et al. 2011 und DeSilva et al. 2012)
Zu den fossilen Knochen des Fußes und des oberen Sprunggelenkes von Australopithecus sediba gehören zwei distale Tibiae, eine distale Fibula, ein Talus, ein Calcaneus, ein Os naviculare, ein laterales Os cuneiforme, Bruchstücke von verschiedenen Mittelfußknochen und ein Endzehenglied (DeSilva et al. 2012).

Tibia
• Der die Gelenkfläche tragende Knochen der distalen Tibia erstreckt sich deutlich nach posterior und lateral wie bei Homininen. • In der sagittalen Ebene stellt sich der hintere Rand des Oberdaches der distalen Tibiagelenkfläche (Plafond) mehr posterior gegenüber dem vorderen Rand dar (Abb. 4). • Die Metaphyse (Abb. 5) ist anteroposterior in Relation zur anteroposterioren Gelenkfläche erweitert wie bei den Homininen. • In der coronalen Ebene ist die distale Tibiagelenkfläche (Plafond) senkrecht zur langen Tibia-Schaftachse wie beim modernen Menschen und anderen fossilen Homininen ausgerichtet (Abb. 6). • Die Gelenkfläche für den Talus ist von lateral gesehen stark gekrümmt (Abb. 4) und von distal gesehen leicht keilförmig. Bei den Großaffen ist diese Gelenkfläche oft flach und trapezoid geformt (Abb.7). • Der Malleolus medialis ist extrem robust und damit unähnlich dem mehr grazilen Malleolus medialis des modernen Menschen und der anderen fossilen Homininen (Abb. 4, 5 und 7).

Talus
• Der Talus besitzt eine menschenähnlich mäßig keilförmige Trochlea. Die nahezu gleiche mediale und laterale Höhe der Trochlea erinnert an die Verhältnisse beim Menschen. • Der Corpus trochlearis ist mediolateral nicht eingekerbt wie beim modernen Menschen und Au. afarensis. Viele andere fossile Homininen einschließlich Au. („H.“) habilis (OH 8) besitzen dagegen einen tief eingekerbten Talus. • Der Halstorsionswinkel und der Kopftorsionswinkel des Talus sind großaffenähnlich. • Kopf und Hals des Talus sind nach plantar abgewinkelt (Abb. 8). • Der Taluskopf ist disproportional groß im Verhältnis zum Taluskörper wie bei den Großaffen und unähnlich den Verhältnissen beim modernen Menschen und den meisten fossilen Homininen (Abb. 9).

Calcaneus
• Der Tuber des Calcaneus ist nach superordistal abgewinkelt und weist eine glatte Oberfläche für eine retrocalcaneale Bursa (Schleimbeutel) wie beim Menschen auf. Es existieren auch Hinweise auf Sharpey-Fasern (Knochenfasern) für den Ansatz der Achillessehne wie beim Menschen. • Es existiert kein Processus plantaris lateralis. Dort wo beim Menschen und Au. afarensis der Processus plantaris lateralis lokalisiert ist, befindet sich bei Au. sediba eine tiefe Konkavität ähnlich wie beim Gorilla. An Stelle eines Processus plantaris lateralis findet sich an der Außenseite des Calcaneus ein deutlich höher gelegener Knochenfortsatz (Processus plantaris lateralis nach Zipfel et al. 2011) zusammen mit einer großaffenähnlich nahezu horizontal ausgerichteten retrotrochlearen Eminenz. Diese Erhebung verbindet den Processus plantaris lateralis mit der Trochlea peronealis (Abb. 10). • Eine starke Einkerbung auf der Plantarfläche des Calcaneus bildet einen schnabelähnlich konfigurierten Processus plantaris medialis. • Der Tuber des Calcaneus ist großaffenähnlich graziler als beim modernen Menschen und Au. afarensis ausgebildet (Abb. 10). • Der Tuber des Calcaneus in Beziehung zur Längsachse ist nach innen geneigt. • Die Trochlea peronealis ist robust. Beim Menschen ist die Trochlea peronealis dagegen schwach entwickelt. Der Schimpanse (Pan paniscus) und Au. afarensis besitzen eine stark entwickelte Trochlea peronealis (Stern & Susman 1983) (Abb. 10). • Die talare Gelenkfläche ist stark konvex ausgebildet ähnlich wie bei den afrikanischen Großaffen. Die talare Gelenkfläche von Au. sediba unterscheidet sich damit deutlich von der flachen talaren Gelenkfläche des modernen Menschen und anderer fossiler Homininen. • Die cuboidale Gelenkfläche ist nach plantar geneigt wie beim modernen Menschen (Abb. 10). • Obwohl postmortale Erosion eine definitive Beurteilung der calcaneocuboidalen Gelenkmorphologie unmöglich macht, weist der erhaltene Teil auf ein mobileres Gelenk als beim Menschen hin. • Auf der Plantarfläche des Calcaneus befindet sich ein Tuberkel für den Ansatz des Ligamentum plantare longum. Solch ein Tuberkel findet sich nicht bei den afrikanischen Großaffen (Abb. 11).

Os cuneiforme laterale
• Das Os cuneiforme laterale ist proximo-distal kurz. Bei anderen Australopithecinen und dem Menschen ist dieser Knochen dagegen lang.

Os metatarsale IV
• Die Basis des Os metatarsale IV ist leicht konvex (Abb. 12). Beim Menschen und bei den anderen fossilen Homininen ist dies nicht der Fall.

Hinweise auf Kletteraktivitäten

Abb. 8: Ansicht des Sprungbeines vom modernen Menschen, Schimpansen und fossilen Homininen (einige gespiegelt) von außen. Jedes Sprungbein ist so ausgerichtet, dass eine gerade horizontale Linie durch den hintersten und vordersten Punkt der Sprungbeinrolle verläuft (beim Schimpansen und modernen Menschen eingezeichnet; die Sprungbeine sind in der Größe so dargestellt, dass diese Linie gleich lang ist). In Beziehung zu dieser Linie ist der Kopf und der Hals des Sprungbeines bei den meisten modernen Menschen, Homo erectus, Australopithecus („Homo“) habilis und Australopithecus sediba nach unten geneigt. (Aus Zipfel et al. 2011)

Beim vertikalen Klettern ist der Fuß der Großaffen durch Inversion und deutliche Beugung fußrückenwärts innen stark belastet. Der extrem robuste Innenknöchel des Scheinbeines von Australopithecus sediba (Abb. 5, 7, siehe auch Abb. 4) ist ein Korrelat für eine hohe Innenbelastung des Fußes und weist damit auf Kletteraktivitäten hin, die sich allerdings von der Art des Kletterns von Großaffen unterscheiden (Zipfel et al. 2011).

Der nach innen geneigte Fersenbeinhöcker ist ebenfalls eine Kletteranpassung, die bei Aktivität des dreiköpfigen Wadenmuskels die Hebung der Innenseite des Fußes verbessert (Zipfel et al. 2011).

Der schnabelähnlich konfigurierte Processus plantaris medialis und die robuste Trochlea peronealis, ein Höcker auf der Außenseite des Fersenbeines (Abb. 10), weisen auf großaffenähnliche Muskeln hin, die am oberen Sprunggelenk und am Fuß wirken (Zipfel et al. 2011).

Im Zusammenhang mit ausgeprägten Kletteraktivitäten bei Australopithecus sediba steht auch eine hohe Beweglichkeit der Fußwurzel. Die stark gewölbte Gelenkfläche für das Sprungbein auf dem Fersenbein weist auf ein sehr bewegliches Gelenk zwischen diesen beiden Knochen hin.

Der große Fersenbeinkopf (Abb. 9) lässt ein bewegliches Gelenk zwischen dem Sprungbein und dem Kahnbein vermuten (Zipfel et al. 2011).

Auch das (nicht vollständig erhaltene) Gelenk zwischen dem Fersenbein und dem Würfelbein (Zipfel et al. 2011), die geringe Längsausdehnung des äußeren Keilbeines und die leicht gekrümmte Basis des vierten Mittelfußknochens (Abb. 12) werden im Zusammenhang mit einer erhöhten Fußbeweglichkeit gedeutet (DeSilva et al. 2012).

Kletteranpassungen finden sich bei Australopithecus sediba aber nicht nur am Unterschenkel und Fuß, sondern auch an den oberen Gliedmaßen (Berger et al. 2010, Kivell et al. 2011, Mathews 2012).

DeSilva et al. (2012) fassen ihre Untersuchung des oberen Sprunggelenkes und des Fußes von Australopithecus sediba (Zipfel et al. 2011) folgendermaßen zusammen:

„Diese Merkmale lassen darauf schließen, dass Au. sediba den beweglichsten midfoot von allen Australopithecinen hatte. Der kleine Fersenhöcker und der mobile midfoot lassen vermuten, dass Au. sediba gegenüber dem modernen Menschen und anderen bipeden Homininen einen kinematisch anderen aufrechten Gang praktizierte. Der kräftige Innenhöcker am Scheinbein, der schnabelähnlich zugespitzte Processus plantaris medialis und die hohe Fußmobilität weisen darauf hin, dass Australopithecus sediba wahrscheinlich von allen Australopithecinen am stärksten an ein Leben in Bäumen angepasst war.“

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Wie sicher sind funktionelle Interpretationen in der Paläanthropologie?
Abb. 9: Ansicht des Sprungbeines vom modernen Menschen, Schimpansen und fossilen Homininen von vorn. Alle Sprungbeine sind in der Größe so dargestellt, dass der Körper in der seitlichen Ausdehnung gleich groß ist. Einige Sprungbeine sind gespiegelt. Der große Kopf des Sprungbeines von Australopithecus sediba weist auf eine hohe Beweglichkeit im Sprungbein-Kahnbein-Gelenk hin. (Aus Zipfel et al. 2011)

Australopithecus sediba ist wegen seines unerwarteten Merkmalsmosaiks sehr lehrreich, denn es mahnt zur Vorsicht bei funktionellen Interpretationen von Merkmalen ausgestorbener Formen wie den frühen Homininen.

Allgemein sind paläanthropologische Deutungen häufig mit mehr oder weniger großen Unsicherheiten belastet. Sie haben deshalb oft nur kurze „Halbwertszeiten“, d. h., sie müssen häufig revidiert werden. Dafür sind mehrere Gründe verantwortlich. So ist in der Paläanthropologie das zur Verfügung stehende Datenmaterial oft gering. Es handelt sich um Knochenüberreste, die häufig nur fragmentarisch erhalten und nicht selten beschädigt sind. Die funktionell wichtigen Weichteilstrukturen stehen uns gar nicht zur Verfügung – ein großer Schwachpunkt.

Die wenigen Daten werden ausschließlich im Rahmen von Makroevolutionshypothesen gedeutet. Alternative Konzepte wie die Grundtypenbiologie werden nicht in Betracht gezogen.

Bei der Erkenntnisgewinnung in der Paläanthropologie kommt erschwerend hinzu, dass wichtige Untersuchungsobjekte wie die frühen Homininen ausgestorben sind. Der Gesamtmerkmalskomplex dieser einst lebenden Formen kann deshalb nicht durch bekannte Analogien interpretiert werden. Lediglich bei Einzelmerkmalen, die auch bei heute lebenden Formen auftreten, ist das möglich.

In der Zusammenschau können aber die von Einzelmerkmalen gezogenen Schlüsse zu unerwarteten Widersprüchen zu bisher überzeugend erscheinenden Erklärungsmustern führen.

Diese Probleme zeigen sich bei Australopithecus sediba eindrucksvoll.

Becken und Fuß im Widerspruch

Australopithecus sediba verfügt über das Homo-ähnlichste Becken unter allen Australopithecinen. Allein von der Beckenmorphologie hätte man den Schluss gezogen, dass die Fortbewegung von Australopithecus sediba von allen Australopithecinen am menschenähnlichsten war. Dieser Deutung widersprechen aber die Merkmale der unteren Extremitäten in massiver Weise. Denn diese zeigen – wie oben dargelegt –, dass nach derzeitigem Kenntnisstand Australopithecus sediba der am schlechtesten biped und besten an das Baumleben angepasste Australopithecine war. Mehr noch: Es ist sogar rätselhaft, auf welche Weise dieser Australopithecine einen postulierten zweibeinigen Gang überhaupt praktizieren konnte!

Damit ist unklar, wie die „fortschrittlichen“ Beckenmerkmale im Rahmen der Fortbewegung zu interpretieren sind. Sie haben zumindest keinen evolutionären Fortschritt in der Fortbewegung von Australopithecus sediba gebracht. Im Gegenteil, sie gehen sogar mit einer gegenüber anderen Australopithecinen (Au. afarensis, Au. africanus) wahrscheinlich „primitiveren“ Fortbewegung (schlechtere zweibeinige Fortbewegung, besseres Klettern) einher! Diesen Befund hat niemand erwartet.

Oberes Sprunggelenk und Fuß im Widerspruch

Abb. 10: Rechtes Fersenbein vom Schimpansen, modernen Menschen und fossilen Homininen. Der moderne Mensch besitzt eine schräg ausgerichtete retrotrochleare Erhebung (schwarze Pfeile) hinter der Trochlea peronealis (gestrichelte Umkreisung) und einen fußsohlenwärts gelegenen lateralen Processus plantaris (LPP). Ein medialer Processus plantaris (MPP) ist an der Fußsohle oft nicht sichtbar. Dieses morphologische Muster findet sich ähnlich auch bei Australopithecus afarensis. Dagegen findet sich bei Australopithecus sediba eine retrotrochleare Eminenz und ein weiter oben gelegener, nicht gewichtstragender Knochenfortsatz („LPP“) wie bei den Großaffen. Der Fersenhöcker von Australopithecus sediba ist durch eine Abschrägung der unteren äußeren Region (Pfeil) im Gegensatz zum modernen Menschen und anderen fossilen Homininen nicht robust wie bei den Großaffen. Bei Australopithecus sediba findet sich eine menschenähnlich abgewinkelte Gelenkfläche für das Würfelbein (Klammer) auf dem Fersenbein. (Aus Zipfel et al. 2011)

Mit der Entdeckung von Australopithecus sediba sind auch Merkmale im Bereich des oberen Sprunggelenkes, die vormals als Hinweise auf einen homininen bipeden Gang interpretiert wurden, mehrdeutig geworden. Aber erst die Zusammenschau mit anderen Fußmerkmalen hat diese neue Situation geschaffen. Aber auch Merkmale innerhalb des Fußes von Australopithecus sediba scheinen nur schwer zusammen zu passen.

Das obere Sprunggelenk von Australopithecus sediba ist wie das anderer fossiler Homininen mehr menschenähnlich strukturiert. Merkmale wie die zur langen Tibia-Schaftachse senkrecht stehende Gelenkfläche für das Sprungbein auf dem Schienbein werden als Anpassung an einen bipeden Gang und somit als Evolutionsschritt hin zum Menschen interpretiert, wobei eine Kletterfähigkeit, die unähnlich der von Großaffen war, jedoch nicht ausgeschlossen wird.

Dem steht aber die Architektur des Fußes entgegen, insbesondere die Morphologie des Fersenbeines. Es fehlen nicht nur Strukturen, die die beim zweibeinigen Gehen auftretenden Kräfte auf den Boden übertragen, es ist noch nicht einmal klar, wie Australopithecus sediba den postulierten zweibeinigen Gang überhaupt praktizieren konnte. Aber auch innerhalb der Fußstruktur gibt es funktionelle Interpretationen von Merkmalen, die einander widerstreiten.

So wird bei Australopithecus sediba einerseits auf ein Längsfußgewölbe und gleichzeitig auf einen mobilen Fuß geschlossen. Das Längsfußgewölbe ist eine einmalige menschliche Struktur. Es hilft elastische Energie zu speichern und hält die Starre während der Phase des Fußabdruckes beim bipeden Gehen. Außerdem wirkt es als Stoßdämpfer, der die Bodenreaktionskräfte abschwächt, die entstehen, während der Fuß beim Gehen flach auf den Boden aufsetzt. Das Fußgewölbe wird zwar durch die Geometrie der Fußskelettelemente gestaltet, das Gewölbe selbst besteht aber aus Bändern und auch Muskeln (DeSilva & Throckmorton 2010).

An dieser Stelle erhebt sich die Frage nach der Sicherheit, mit der man allein von knöchernen Strukturen auf ein Längsfußgewölbe schließen kann. Zipfel et al. (2011) geben selbst zu bedenken, dass es keine allgemein übereinstimmende Auffassung darüber gibt, von welchen Skelettmerkmalen man auf ein Fußgewölbe schließen kann (s. a. Brandt 1995). Aber wenn Australopithecus sediba tatsächlich ein Längsfußgewölbe besaß, welche Bedeutung kommt ihm dann zu? Eine ähnliche Funktion wie beim Menschen mit Aufrechterhaltung einer Fußstarre beim gewohnheitsmäßigen bipeden Gang ist sehr unwahrscheinlich, denn die Morphologie des Fersenbeines von Australopithecus sediba spricht gegen einen effektiven zweibeinigen Gang, und ein den Fuß versteifendes Längsgewölbe ist nicht mit der hohen Mobilität des Fußes von Australopithecus sediba vereinbar (siehe DeSilva 2010).

Durch die Knochenfunde von Australopithecus sediba ist auch eine seit Jahrzehnten in der Fachwelt weitverbreitete Interpretation des Beckens und des oberen Abschnittes des Oberschenkelknochens von Australopithecus unplausibel geworden. Dies ist ein Lehrstück im Rahmen unseres Themas.

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Lehrstück: Becken und oberer Teil des Oberschenkels von Australopithecus und Homo – Unterschiede durch Fortbewegung oder gynäkologisch bedingt?
Abb. 11: Ansicht des Fersenbeines von unten von Australopithecus sediba und vom modernen Menschen. Der Pfeil weist auf einen kleinen Höcker bei Au. sediba und dem Menschen hin. Dieser kleine Höcker ist bei den afrikanischen Großaffen nicht nachweisbar. Beim Menschen dient dieser Höcker als Ansatz des langen Sohlenbandes. (Aus Zipfel et al. 2011)

Kein Forscher bezweifelt, dass sich das Becken der Australopithecinen von dem des Menschen unterscheidet. Einige Bearbeiter deuteten die Unterschiede im Zusammenhang mit einer verschiedenen Fortbewegungsweise – ein naheliegender Schluss.

Es gibt aber auch Forscher wie Lovejoy et al. (1973) und Lovejoy (2005), die meinen, dass die Australopithecinen und der Mensch sich in ihrer Fortbewegung nicht oder nur unwesentlich unterschieden. Die andersartigen Merkmale der Australopithecinen hätten im Zusammenspiel eine menschenähnliche Fortbewegung zur Folge gehabt. Wenn die Australopithecinen aber schon effektive Bipede waren, wie sind dann die morphologischen Unterschiede funktionell zu deuten? Die folgende Darstellung ist an Ausführungen von Kibii et al. (2011) angelehnt.

Im Evolutionsmodell stellt sich die Frage nach den Selektionsdrücken, die zur Entwicklung des Beckens von Australopithecus zu Homo geführt haben. Als Selektionsdruck wirkte – so die Vermutung – die zunehmende Encephalisation (größerer Kopf der Neugeborenen) und damit die Notwendigkeit eines größeren Geburtskanals des Menschen gegenüber den Australopithecinen. Diese Notwendigkeit soll zu Veränderungen der Beckenstruktur bei Homo geführt haben.

Die Geburt von Babys mit größeren Köpfen hätte zu drei miteinander in Beziehung stehenden architektonischen Veränderungen bei Homo geführt: eine Vergrößerung des sagittalen (von vorn nach hinten) Durchmessers relativ zum Querdurchmesser des Einganges und Ausganges des Beckens, eine Vergrößerung des absoluten Querdurchmessers des Einganges und Ausganges des Beckens und eine Erhöhung des vorderen Teiles der Mittelebene, die durch eine Aufwärtsdrehung der Sitzbeinkörper bewirkt wird (Lovejoy 2005). Diese strukturellen Veränderungen führen zu einer relativen Verkürzung des oberen Schambeinastes, zu mehr senkrecht ausgerichteten und weniger seitlich ausladenden Darmbeinschaufeln (Lovejoy 2005), zu robusteren und mehr hinten lokalisierten knöchernen Darmbeinstreben, zu einer größeren Robustizität der Darmbeine (Lovejoy et al. 1973) und zu einer Verengung der Furche zwischen Sitzbeinhöcker und Hüftgelenkspfanne (Lovejoy 2005).

Abb. 12: Rechter vierter Mittelfußknochen von Australopithecus sediba (UW 88-22) von innen (links) und von hinten (rechts) gesehen. Die Basis des vierten Mittelfußknochens (Pfeil) ist leicht konvex geformt. Beim Menschen und bei den anderen fossilen Homininen ist dies nicht der Fall. (Aus Zipfel et al. 2011)

Wenn es stimmt, dass diese Veränderungen zu einem größeren Eingang und Ausgang des Beckens wegen des größeren Kopfes von Homo stehen, dann erwartet man bei Australopithecus sediba mit seinem nur 420-440 ml großen Hirnschädel (liegt innerhalb einer Standardabweichung unterhalb des durchschnittlichen Schädelvolumens von Au. afarensis und Au. africanus) keines dieser Merkmale (Kibii et al. 2011). Es zeigt sich jedoch, dass Australopithecus sediba (MH2) zwei Merkmale des Homo-Beckens aufweist, die im Zusammenhang mit einem größeren Geburtskanal gedeutet wurden: einen relativ größeren sagittalen Durchmesser des Geburtskanals und ein ansteigendes Schambein (höhere Lage des oberen Schambeinastes). Intermediär zwischen Australopithecus und Homo ausgebildete Merkmale sind mehr vertikal (senkrecht) ausgerichtete Darmbeinschaufeln, eine S-förmige Krümmung des Darmbeinkammes und ein nach innen gekrümmter vorderer oberer Darmbeinstachel. Wie bei den anderen Australopithecinen ist das Schambein lang und die Darmbeinknochenstrebe vorn gelegen und schwach entwickelt (Kibii et al. 2011).

Im Rahmen der gynäkologischen Hypothese, nach der die Veränderungen des Beckens von Homo gegenüber Australopithecus durch die Anforderungen eines größeren Geburtskanals bedingt seien, wurde behauptet, dass die mehr vertikale Ausrichtung und das geringere seitliche Ausladen der Darmbeinschaufeln zu einer geringeren mechanischen Wirkung der Gesäßmuskeln und einer höheren Belastung im Hüftgelenk und am Oberschenkelhals des abstützenden Beines während der Standphase beim Gehen geführt haben. Diese Veränderungen wurden bei Homo durch eine Verringerung der relativen Länge des Oberschenkelhalses und eine Vergrößerung der relativen Oberschenkelkopfgröße ausgeglichen (Lovejoy et al. 1973, Lovejoy 2005). Mit anderen Worten: Die mehr seitlich ausladenden Darmbeinschaufeln, langen Oberschenkelhälse und kleinen Oberschenkelköpfe bei Australopithecus seien im Rahmen der Fortbewegung funktionell gleichwertig den mehr vertikal ausgerichteten und weniger zur Seite ausladenden Darmbeinschaufeln, kurzen Oberschenkelhälsen und größeren Oberschenkelköpfen bei Homo.

In der Paläanthropologie kann ein neuer Fund eine jahrzehntelang plausibel begründete Hypothese widerlegen.

Bei Australopithecus sediba ist jedoch der Oberschenkelhals so lang wie bei den anderen Australopithecinen trotz seiner mehr vertikal ausgerichteten Darmbeinschaufeln (Kibii et al. 2011). Dieser Sachverhalt stellt die behauptete funktionelle Äquivalenz dieser unterschiedlichen Strukturen bei Australopithecus und Homo sehr in Frage.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass Australopithecus sediba gezeigt hat, dass die seit Jahrzehnten vertretene Auffassung, nach der die Unterschiede des Beckens und oberen Oberschenkels von Australopithecus und Homo ausschließlich im Zusammenhang der Geburtskanalgröße stehen, unplausibel ist. Die Unterschiede dürften mit großer Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit einer unterschiedlichen Fortbewegung stehen.

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Deutung von Australopithecus sediba in Ursprungskonzepten

Australopithecus sediba ist durch eine deutliche morphologische Kluft nicht nur im Bereich des Extremitätenskeletts, sondern auch des Schädels mit z. B. seinem kleinen Volumen und großaffenähnlichen Hirnfurchen (Berger et al. 2010, Carlson et al. 2011) vom fossil nur wenig jünger nachgewiesenen echten Menschen Homo erectus getrennt. Australopithecus sediba ist deshalb – vom Problem des zeitlich nahezu gleichen Auftretens abgesehen – als Ahne von Homo erectus unplausibel. Aber auch eine Ableitung von anderen Australopithecinen lässt sich nicht überzeugend begründen. Australopithecus sediba besitzt zwar menschenähnlichere Merkmale im Bereich des Schädels, der Zähne und des Beckens, ist aber im Bereich der Extremitäten – wie oben dargelegt – großaffenähnlicher als ältere Australopithecinen wie Australopithecus afarensis und Australopithecus africanus.

Australopithecus sediba ist mit seinem ausgeprägten Merkmalsmosaik gut im Grundtypkonzept der Schöpfungslehre als Vertreter einer Art unter mehreren anderen Arten (z. B. Au. afarensis, Au. africanus) eines Grundtyps zu verstehen.

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Anmerkungen

1 Zum „midfoot“ gehören die Fußwurzelknochen Os cuboideum, Os naviculare, Os cuneiforme mediale, Os cuneiforme intermedium und Os cuneiforme laterale. Der „midfoot“ umfasst also nicht wie im deutschen der „Mittelfuß“ die Mittelfußknochen, sondern alle Fußwurzelkochen mit Ausnahme des Sprung- und Fersenbeines.

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Literatur

Berger LR, de Ruiter DJ, Churchill SE, Schmid P, Carlson KJ, Dirks PHGM & Kibii JM (2010)
Australopithecus sediba: A new species of Homo-like australopith from South Africa. Science 328, 195-204, supporting online material.
Brandt M (1995)
Der Ursprung des aufrechten Ganges. Neuhausen-Stuttgart.
Carlson KJ, Stout D, Jashashvili T, de Ruiter DJ, Tafforeau P, Carlson K & Berger LR (2011)
The endocast of MH1, Australopithecus sediba. Science 333, 1402-1407, supporting online material.
DeSilva JM (2009)
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DeSilva JM & Throckmorton ZJ (2010)
Lucy’s flat feet: The relationship between the ankle and rearfoot arching in early hominins. PLoS ONE 5, e14432, 1-8.
DeSilva JM, Zipfel B, Kidd RS, Carlson KJ, Churchill SE & Berger LR (2012)
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Kibii JM, Churchill SE, Schmid P, Carlson KJ, Reed, ND, de Ruiter DJ & Berger LR (2011)
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Kivell TL, Kibii JM, Churchill SE, Schmid P & Berger LR (2011)
Australopithecus sediba hand demonstrates mosaic evolution of locomotor and manipulative abilities. Science 333, 1411-1417, supporting online material.
Lovejoy CO (2005)
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Lovejoy CO, Heiple KG & Burstein AH (1973)
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Reed ND & Churchill SE (2012)
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The foot and ankle of Australopithecus sediba. Science 333, 1417-1420, supporting online material.


Studium Integrale Journal 19. Jg. Heft 2 - Oktober 2012