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Der Ursprung der Fledermäuse

Teil 1: Fossilien und der Flugapparat
Teil 2: Echoortung, Systematik, Konvergenzen und „Erklärungen“

von Reinhard Junker

Studium Integrale Journal
18. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2011
Seite 78 - 88


Zusammenfassung: Die Entstehungsweise des Echo-Bildsehens der Fledermäuse kann weder anhand von Fossilien noch anhand genetischer Grundlagen rekonstruiert werden. Die Verteilung der Merkmale unter den Fledermausfamilien ist vielfach konvergent, so dass sogar eine zweifache unabhängige Entstehung der laryngealen Echoortung angenommen werden muss.

Im ersten Teil wurden die Flug- und Echoortungs-Fähigkeiten der Fledermäuse vorgestellt und die paläontologischen und genetischen Befunde diskutiert, die zur Erklärung der Entstehung des Flugapparats herangezogen werden. In diesem zweiten Teil geht es um die Entstehung der Echoortung und um die Frage, inwieweit die Vielfalt der Fledermäuse widerspruchsfrei in ein Abstammungsschema eingefügt werden kann. Außerdem wird die Konvergenzproblematik aufgegriffen, die an verschiedenen Stellen bereits angeklungen ist. Angesichts von Behauptungen, wonach die evolutive Entstehung des Flugapparats in Grundzügen geklärt sei, wird abschließend der Frage nachgegangen, was eine Erklärung einer evolutiven Entstehung leisten muss.




Entstehung der Echoortung

Fledermäuse betreiben nicht nur Echoortung, sondern sind zu einem „Echo-Bildsehen“ in der Lage. Aus den Echos der in Bandweite, Dauer, Pulsintervallen und Amplituden unterschiedlich erzeugten Laute wird ein regelrechtes Abbild der Umgebung errechnet. Wenn man so will: Fledermäuse „sehen“ mit den Ohren. Dabei können viele Arten den Doppler-Effekt (Frequenzänderung durch Bewegung) ausnutzen. Details wurden im ersten Teil dieses Artikels erläutert (Junker 2011).

Über die Entstehung der Echoortung kann noch weniger gesagt werden als über die Entstehung der Flügel (vgl. 1. Teil des Artikels; Junker 2011). Vorgeschlagene Szenarien sind hypothetisch und kaum prüfbar, und plausible Selektionsdrücke, die eine Entstehung dieser Fähigkeit begünstigen, sind nur notwendige Bedingungen, aber keine Erklärungen, denn Selektion und Selektionsdrücke sind nicht kreativ (s. Abschnitt „Was ist eine Erklärung?“).

Fossilfunde können insofern indirekte Hinweise geben, als anhand bestimmter morphologischer Merkmale auf die Fähigkeit der Echoortung geschlossen werden kann. Wie bei der Entstehung des Flugapparats gibt es auch im Falle des Echoortungssystems Versuche, aufgrund genetischer Befunde auf die Entstehungsweise zu schließen.

Neben der Flugfähigkeit ist die Fähigkeit zum Echo-Bildsehen ein herausragendes Kennzeichen der meisten Fledermäuse. In jüngerer Zeit konnten einige genetische Grundlagen ermittelt werden, die mit der Lauterzeugung und -aufnahme zusammenhängen. Rückschlüsse auf die mögliche Entstehungsweise des Echoortungs­systems können daraus nicht gezogen werden.

Die Fledermäuse werden seit langem in Kleinfledermäuse und Großfledermäuse (Flughunde) unterteilt. Aufgrund molekularer Analysen hat sich jedoch herausgestellt, dass nicht alle Kleinfledermäuse von einem gemeinsamen Vorfahren abgeleitet werden können. Daher muss angenommen werden, dass die Fähigkeit des Echo-Bildsehens zweimal unabhängig entstanden oder bei den Flughunden sekundär verlorengegangen ist. Beide Deutungen sind evolutionstheoretisch sehr problematisch. Auch viele andere Merkmale sind unter den Fledermäusen so unsystematisch verteilt, dass vielfach mit Konvergenzen gerechnet werden muss, z. B. bei den Designs der Rufe, die nicht in ein phylogenetisches Schema gebracht werden können. Die Annahme gleichsinniger Selektionsdrücke ist hypothetisch und erklärt für sich alleine nicht das Auftreten konvergenter Merkmale.

Am Beispiel der Entstehung des Flugapparats wird abschließend der Frage nachgegangen, was eine Erklärung einer evolutiven Entstehung leisten muss. Hier werden häufig vorschnell einzelne Bedingungen für einen evolutionären Umbau als weitreichende Erklärungen ausgegeben. Dabei wird übergangen, dass verschiedenste Bauelemente neu entstehen und vielfach aufeinander abgestimmt werden müssen, um zu einem funktionsfähigen Flugapparat zu kommen.

 

Morphologie und Fossilien
Drei Knochen im Schädelbereich echoortender Fledermäuse weisen charakteristische Unterschiede gegenüber Säugetieren ohne Echoortungssystem auf. Zum einen ist bei ihnen das Stylohyale als langer, schlanker Knochen ausgebildet, der die Schädelbasis mit einigen kleinen Knochen verbindet, die zusammen den Hyoid-Apparat bilden und die Halsmuskeln und den Kehlkopf unterstützen (Abb. 1). Bei den meisten Fledermäusen ist das obere Ende des Stylohyale verbreitert, was zur besseren Verankerung des Hyoid-Apparats im Schädel hilft (Simmons 2008, 98). Das Stylohyale verbindet somit den Kehlkopf mit dem Ohr. Vermutlich hilft es beim Vergleich ausgehender und eingehender Signale bei der Echoortung (Veselka et al. 2010, 939).

Der zweite veränderte Knochen ist der Hammer (Malleus), das erste Element der drei Mittelohrknöchelchen. Bei den Fledermäusen hat er einen großen knolligen Fortsatz (= Orbicularfortsatz), der zur Kontrolle der Vibration beiträgt und eine große Fläche für den Muskelansatz bietet (Simmons 2008, 98; Habersetzer et al. 2008, 249). Und schließlich ist die Schnecke (Cochlea) im Innenohr relativ zu den anderen Schädelstrukturen vergrößert, was eine Verbesserung der Wahrnehmung und Unterscheidung hochfrequenter Laute ermöglicht.

Abb. 1 (oben): Die drei im Text erläuterten, bei echoortenden Fledermäusen speziell geformten Knochenelemente des Fledermausschädels. (Nach Simmons 2008)
Abb. 2 (rechts): Holotyp von Onychonycteris finneyi. Balken: 1 cm. Merkmale, die auf mögliche evolutive Vorfahren hinweisen, sind Klauen an allen fünf Fingern, relativ kurze Vorderarme, relativ lange Hinterfüße im Vergleich zu anderen Fledermäusen. Onychonycteris war aber zu aktivem Flug über lange Strecken befähigt. Das zeigen der robuste Knochen- und Gelenkaufbau des Flügelskeletts, der versteifte Brustkorb und der breite Brustbeinkiel (Ansatz für kräftige Brustmuskulatur). Der Besitz eines Calcar (Extra-Sporn am Fuß zum Aufspannen der Schwanzflughaut) ist „moderner“ als manche andere fossile Formen. Onychonycteris wurde in den gleichen Schichten wie die insgesamt „modernere“ Art Icaronycteris gefunden. (Aus Simmons et al. 2008, Abdruck mit freundlicher Genehmigung)
 

Bei den im Eozän fossil erhaltenen Fledermäusen konnten die entsprechenden Strukturen nachgewiesen werden (Veselka et al. 2010, 940). Nur die vergleichsweise ursprüngliche Gattung Onychonycteris (Abb. 2) scheint eine Ausnahme zu machen. Der Kehlkopf ist zwar bei beiden Exemplaren nicht erhalten. Aber der Aufhängeapparat des Kehlkopfes, eine Knochenspange, die ihn an der Schädelunterseite fixiert, ist nicht so stark entwickelt wie bei echoortenden Fledermäusen. Außerdem scheint der Orbicularfortsatz des Hammers nur schwach ausgebildet zu sein, was ebenfalls gegen eine Echoortung mit Ultraschalllauten spricht. Da ein vergrößerter Orbicularfortsatz auch bei nicht-echoortenden Säugetieren vorkommt, kann nach Veselka et al. (2010, 941) aber nicht geschlossen werden, dass dieses Merkmal überhaupt mit der Echoortung zusammenhängt. Zudem gebe es bei diesem Merkmal erhebliche Variation in der relativen und absoluten Größe. In der Cochleagröße zeigt Onychonycteris schließlich viel mehr Ähnlichkeit mit den nicht echoortenden Flughunden und das Innenohr ist sehr klein (Habersetzer et al. 2008, 248f.).

Anfang 2010 veröffentlichten Veselka et al. jedoch eine Studie von detaillierten computertomographischen 3D-Scans der inneren Anatomie von 26 Fledermausarten und entdeckten, dass bei Tieren, die ihre Echoortung über den Kehlkopf ausüben, das Stylohyale den Kehlkopf mit den Knochen in der Nähe des Trommelfells verbindet. Es stellte sich heraus, das auch Onychonycteris über die Verbindung zwischen Kehlkopf und den Knochen am Trommelfell verfügt. Die Forscher schließen daraus, dass Onychonycteris sich doch mit Echosignalen im Raum bewegt hat. Dieser Schluss ist aber nicht gesichert, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die nachgewiesene Verbindung ein Erhaltungsartefakt ist.

Simmons et al. (2010) widersprechen der Deutung der Befunde durch Veselka et al. und bestreiten, dass das Stylohyale Kehlkopf und die Knochen am Trommelfell verbindet. Sie weisen darauf hin, dass die Schnecke von O. finneyi aus dem Größenbereich bei heutigen echoortenden Fledermäusen herausfalle und den Schnecken von Fledermäusen gleiche, die keine laryngeale Echoortung besitzen. Verbreiterung und Abflachung des Stylohyale sei anders als bei Onychonycteris bei allen echoortenden Fledermausfamilien zu beobachten. Veselka et al. (2010b) stimmen in ihrer Antwort insofern zu, als die schlechte fossile Erhaltung ein sicheres Urteil nicht ermöglicht. Weitere Untersuchungen sind nötig, um zu mehr Klarheit zu kommen, aber es scheint derzeit mehr dagegen als dafür zu sprechen, dass Onychonycteris die Fähigkeit zur Echoortung hatte.

Damit kann die alte Streitfrage nach der Reihenfolge der Entstehung – Flugapparat oder Echoortung zuerst? – anhand von Fossilien vorerst weiterhin nicht sicher beantwortet werden. Über die Entstehungsweise der Echoortung kann Onychonycteris keine Hinweise geben.

Entwicklungsgenetik
Zwei Gene, die beim Echoortungssystem eine Rolle spielen, sind bislang ermittelt worden: FoxP2 und Prestin. FoxP2 codiert einen Transkriptionsfaktor, der eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Strukturen für Lauterzeugung spielt (sogenanntes „Sprachgen“) und der daher auch für die Echoortung bedeutsam könnte (Teeling 2009, Li et al. 2007). Prestin wird beim Hörvorgang benötigt und codiert für ein Transmembran-Motorprotein, welches das elektrisch vermittelte Bewegungsvermögen der äußeren Haarzellen in der Schnecke steuert und damit für die Sensitivität der Schnecke im Säugerohr verantwortlich ist. Es scheint von besonderer Bedeutung für die Wahrnehmung höherer Frequenzen und für selektives Hören zu sein; beides ist für die Echoortung wichtig (Teeling 2009, 353; Li et al. 2008, 13959).

Teeling diskutiert die Verteilung der Sequenzen dieser Gene bei verschiedenen Arten mit der Fragestellung, ob daraus Rückschlüsse bezüglich einer einmaligen oder zweifachen Entstehung der Echoortung bei Fledermäusen gezogen werden können. Diese Frage ist aufgrund genetischer Daten in evolutionstheoretischer Perspektive nicht sicher entschieden (s. u.). Die Verteilung der FoxP2-Varianten innerhalb der Fledermäuse gibt diesbezüglich keine klare Auskunft, ebensowenig wie die Verteilung von Prestin (Teeling 2009, 353); allerdings sind Li et al. (2008) der Auffassung, dass Prestin eine zweimalige Entstehung begünstigt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass FoxP2 innerhalb der Säugetiere, Vögel und Reptilien hochkonserviert ist, dagegen bei den Fledermäusen hochvariabel (Li et al. 2007, 1; Abb. 3); die Verteilung der Gen-Ähnlichkeiten folgt also nicht einem phylogenetischen Schema (vgl. dazu Abschnitt „Konvergenzen und Selektionsdrücke“). Es stellte sich weiterhin heraus, dass die Sequenzen des prestin-Proteins bei Zahnwalen und echoortenden Fledermäusen nahezu identisch sind, so dass Wale und Fledermäuse in einem auf prestin-Daten basierenden Dendrogramm (Ähnlichkeitsbaum) als eine gemeinsame Gruppe erscheinen, obwohl beide Gruppen unter den Säugetieren sonst überhaupt nicht näher verwandt sind (Li et al. 2010; Liu et al. 2010). Nach den DNA-Nukleotid-Sequenzdaten des Prestin-Gens gruppieren sich die Wale und Fledermäuse dagegen weitgehend gemäß dem Arten-Stammbaum. Nur innerhalb der Fledermäuse passen auch die Nukleotid-Sequenzdaten nicht zu den sonst anerkannten Verwandtschaftsbeziehungen.

Abb. 3: Das Gen FoxP2 zeigt allgemein bei verschiedensten Säugetieren kaum Unterschiede (siehe deutsche Namen), dagegen enorme Unterschiede bei den Fledermäusen (kursiv gesetzte lateinische Namen). In Phylogenien, die auf dem FoxP2-Gen beruhen, sind die Kleinfledermäuse – anders als bei anderen genetischen Studien – monophyletisch. Dieser Widerspruch wird auf konvergente Evolution aufgrund gleicher Selektionsdrücke in den beiden Untergruppen zurückgeführt, so dass die Funktion die Phylogenese „überspielt“ haben soll; vgl. dazu die Diskussion im Abschnitt „Konvergenzen und Selektionsdrücke“. (Nach Li et al. 2008)

Wie im ersten Teil erwähnt gibt es verschiedenste „Techniken“ der Echoortung. Jones & Teeling (2006, 151-153) unterscheiden acht Kategorien der Ultraschall-Erzeugung bei den Fledermäusen. Diese korrelieren durchaus mit den Sequenzunterschieden von FoxP2 und Prestin. Aber die Verteilung dieser Unterschiede in einer phylogenetischen Systematik führt zu widersprüchlichen Resultaten und fordert wie die der verschiedenen Echoortungs-Designs ein hohes Maß an konvergenter Evolution verschiedener Formen der Echoortung. Die verschiedenen „Designs“ der Echoortung sind also nicht phylogenetisch geordnet, auch nicht ihre molekularen Korrelate (Jones & Holderied 2007, 905; Jones & Teeling 2006, 154; Abb. 4). Diese doppelte Konvergenz wird auf starke gleichsinnige Selektionsdrücke zurückgeführt. So stellen Jones & Teeling (2006, 149) fest, dass bemerkenswerte akustische Besonderheiten wie die Kompensation des Doppler-Effekts, „Flüster“-Echoortung (Aussenden schwacher Laute), Aussendung der Laute über die Nase und andere Ruf-Designs aufgrund ihrer Verteilung im System der Fledermäuse mehrfach konvergent entstanden sein müssen. Das Ruf-Design sei hauptsächlich durch die Ökologie geformt, wodurch phylogenetische Zwänge überspielt würden. Damit werde die Rekonstruktion der ursprünglichen Ruf-Typen problematisch (vgl. Eick et al. 2005, 1879).

Die verschiedenen „Designs“ der
Echoortung sind nicht phylogenetisch
geordnet, auch nicht ihre
molekularen Korrelate.

Diese Befunde besagen aber nichts anderes, als dass aus der Verteilung der verschiedenen Ausprägungen des Echoortungssystems keine verlässlichen und widerspruchsfreien Abstammungszusammenhänge ermittelt werden können. Dass ähnliche ökologische Faktoren mehrfach zu denselben Echoortungs-Designs geführt haben, ist Spekulation. Klar ist nur, dass die Echoortungssysteme für die unterschiedlichen Lebensumwelten passend eingerichtet sind. Allerdings kann die Plastizität der Laute auch innerhalb von Arten beträchtlich sein (Jones & Holderied 2007). Vielleicht liegt also wenigstens ein Teil des Konvergenzpotentials in einer vorhandenen Plastizität. Dann aber stellt sich die Frage nach dem Ursprung dieser Plastizität. Die gegenwärtigen Kenntnisse erlauben darauf keine naturwissenschaftliche Antwort. Angesichts dieser Situation muss die Behauptung „Die Echoortung der Fledermäuse bietet bemerkenswerte Beispiele eines ‘guten Designs’ aufgrund von Evolution durch natürliche Auslese“ (Jones & Holderied 2007, 905) als naturwissenschaftlich bislang nicht gedeckte Vermutung bzw. Spekulation gewertet werden.

Abb. 4: Die Verteilung verschiedener Ruf-Designs echoortender Fledermäuse folgt nicht phylogenetischen Beziehungen. Jones & Holderied (2007, 909) erläutern diese Situation anhand einiger Beispiele, etwa bei der „high duty cycle-Echoortung“. Dabei handelt es sich um die ausgeklügeltste Form biologischer Echoortung, dem Gebrauch langer konstanter Frequenzsignale, die durch einen Breitbandpuls beendet werden. Dabei wird auf geniale Weise der Doppler-Effekt ausgenutzt (vgl. Abb. 3 des ersten Teils). Diese Form der Echoortung tritt unabhängig bei den Hufeisennasen (Rhinolophidae) und den Kinnfalten-fledermäusen (Mormoopidae) auf. (Nach Jones & Teeling 2006; vgl. Tab. 1)

Während im Falle des Flugapparats einige Autoren mit der Entdeckung einiger genetischer Korrelate die Hoffnung verbinden, damit Schritte zur Erklärung der Entstehung gehen zu können, haben sich die Autoren, die sich mit den „Echoortungs-Genen“ befassen, dazu nach meiner Kenntnis nicht geäußert. Es ist aber klar, dass die Entdeckung einzelner für eine Fähigkeit oder deren Entwicklung relevanter Gene an sich noch nichts über ihre Evolution aussagt (siehe dazu die Diskussion im Abschnitt „Was ist eine Erklärung?“). Teeling (2009, 351) schreibt dazu, dass es schwierig sei, „Echoortungs-Gene“ überhaupt zu finden. Dies liege vielleicht daran, dass Echoortung ein komplexes Merkmal sei, das nicht auf einem einzigen Entwicklungsweg oder einem einzelnen physiologischen System beruhe. Um mit dem Kehlkopf Echoortung betreiben zu können, müsse ein Organismus drei Fähigkeiten zugleich besitzen: 1. Erzeugung und Regelung eines hochfrequenten Rufs, 2. Hören des hochfrequenten Echos und 3. Interpretation der eingehenden Signale. Li et al. (2008, 13962) rechnen damit, dass beim Echoortungssystem viele hundert Gene beteiligt sind, weshalb man mit phylogenetischen Schlussfolgerungen vorsichtig sein müsse.

Tab. 1: Heutige Familien der Fledermäuse. Aufgrund zahlreicher molekularer Daten werden die beiden „klassischen“ Unterordnungen aufgelöst und die Familien in Yinpterochiroptera (Megachiroptera + Yinochiroptera) und Yangochiroptera unterteilt. Die Kleinfledermäuse (Microchiroptera) werden also getrennt. Es gibt teilweise bei verschiedenen Autoren Unterschiede in der Zuordnung der Familien. Einige Autoren plädieren dafür, die beiden Gruppen als Pteropodiformes und Vespertilioniformes zu benennen. (Nach Simmons 1998, Gunnell & Simmons 2005, Springer et al. 2001, Teeling et al. 2002, Jones & Teeling 2006 und Hutcheon & Kirsch 2006).

Ein besonders überraschendes Beispiel liefert die Einordnung des Echoortungssystems der Hufeisennasen (Rhinolophidae). Diese Fledermausgruppe hat das ausgefeilteste Echoortungssystem und nutzt auf geniale Weise den Doppler-Effekt (vgl. Abb. 3 des ersten Teils). Sie werden heute ausgerechnet zu den Yinpterochiroptera gestellt und gehören somit zur Schwestergruppe der Megachiroptera (Pteropodidae), die kein Echoortungssystem haben, außer der Gattung Rousettus, die aber nicht mit dem Kehlkopf, sondern mit Zungenschnalzen Laute erzeugt.

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Phylogenetische Analysen
Abb. 5: Zwei Arten der Flughunde. Oben: Eidolon helvum, unten: Acerodon jubatus. (fotolia.com)

Über mehr als ein Jahrhundert waren die Monophylie der Fledermäuse (also ihre Abstammung von einer einzigen Vorfahrenart) und ihre Unterteilung in Kleinfledermäuse (Microchiroptera) und Flughunde (Megachiroptera) unstrittig. Die Flughunde entsprechen im Körperbau in vielerlei Hinsicht den Kleinfledermäusen, sie sind aber meist größer und erreichen eine Flügelspannweite von bis zu 170 Zentimetern und eine Kopf-Rumpf-Länge von bis zu 40 Zentimetern. Die meisten Flughunde haben keinen oder nur einen sehr kurzen Schwanz; die Schwanzflughaut ist entsprechend nur als schmaler Streifen entlang der Hinterbeine ausgebildet. Außerdem haben die meisten Arten eine Kralle am zweiten Finger, die bei den Fledermäusen sonst fehlt. Die Gesichter der Flughunde sind einfach gebaut, ohne Nasenblätter und mit relativ kleinen Ohren. Die Schnauzen sind oft verlängert, was zu dem hundeartigen Aussehen und ihrem deutschen Namen geführt hat (vgl. Abb. 5). Die Flughunde besitzen bis auf wenige Ausnahmen kein Echoortungssystem. Sie ernähren sich von Früchten, Nektar oder Pollen, während die meisten anderen Fledermäuse Insekten fressen. Sie können sehr gut sehen, während die Kleinfledermäuse sich besonders mit dem Echoortungssystem orientieren.

„Flying-primate-Hypothese“
In der 1980er Jahren überraschte eine Forschergruppe um den Australier Pettigrew die Wissenschaftswelt mit der Hypothese, dass die Fledermäuse biphyletisch (unabhängig in zwei Linien) entstanden seien, ausgehend von nichtfliegenden Säugetieren (Pettigrew 1986; Pettigrew et al. 1989). Zahlreiche Merkmale würden die Megachiropteren mit den Primaten enger verbinden als mit den Kleinfledermäusen. Vor allem ist die Gehirnorganisation der beiden Untergruppen sehr verschieden; die Merkmale des Gehirns der Megachiropteren gleichen dagegen denen der Primaten und Flattermakis in zahlreichen Details, während diesbezüglich die Mikrochiropteren anderen Säugetieren entsprechen. Die Autoren verweisen aber auch noch auf andere Merkmale, die die Flughunde mit den Primaten verbinden oder in denen sie sich von den Kleinfledermäusen unterscheiden: den Bau des Penis, den Bau der Flügel und der Hinterextremitäten, einige immunologische und biochemische Merkmale sowie Verhaltensmerkmale (vgl. auch Pettigrew 1995; Simmons 1995, 27, 29). Pettigrew et al. (1989, 491) präsentieren eine lange Liste von Unterschieden zwischen den Flughunden und den Kleinfledermäusen einerseits und von Gemeinsamkeiten von Flughunden und Primaten andererseits. In einer späteren Publikation stellt Pettigrew (1995) in einer Tabelle 54 Unterschiede zusammen und bemängelt, dass diese Unterschiede von Verfechtern der Monophylie der Fledermäuse nicht gewichtet würden.

Danach wären die Primaten mit den Flattermakis und den Flughunden als monophyletisch zu betrachten („flying primate hypothesis“), während die Kleinfledermäuse konvergent entstanden wären. Diese ungewöhnliche Konvergenz der zweimaligen unabhängigen Entstehung des Flugapparats nimmt Pettigrew in Kauf und argumentiert, dass dafür Selektionsdrücke geltend gemacht werden könnten, was im Falle der speziellen Gehirnorganisation schwerer zu begründen sei.

Ohne eine große Anzahl tiefgreifender Konvergenzen ist eine phylogenetische Systematik der Fledermäuse nicht möglich.

Die „Flying-primate-Hypothese“ konnte sich jedoch nicht durchsetzen, vor allem weil die aufkommenden molekularen Untersuchungen in aller Regel eine Monophylie der Fledermäuse klar unterstützten (z. B. Adkins & Honeycutt 1991; Mindell et al. 1991; Bailey et al. 1992; Kirsch et al. 1995; Murphy et al. 2001; Springer et al. 2001). Aber auch viele morphologische Merkmale sprechen für die Monophylie (vgl. z. B. Baker et al. 1991, Simmons et al. 1991, Thewissen & Babcock 1991). Simmons et al. (1991, 240) halten es für möglich, dass die Merkmale des Gehirns, die die Großfledermäuse mit den Primaten gemeinsam haben, bei den Kleinfledermäusen auch verlorengegangen sein können.

Abb. 6: Heutige phylogenetische Position der Fledermäuse. Die frühere Gruppierung mit den Flattermakis kann aufgrund molekularer Unterschiede nicht mehr aufrechterhalten werden. Somit müssen viele gemeinsame Merkmale, die früher als homolog (und damit als abstammungs­bedingt) gewertet wurden, als zweifach unabhängig entstanden angenommen werden (Konvergenz). Näheres im Text. (Nach Simmons 2008)

Vor wenigen Jahren erhielt die Flying-primate-Hypothese jedoch erneut Unterstützung durch eine neurologische Studie (Maseko et al. 2007). Merkmale des Nervensystems, die nicht mit der Echoortung und dem Flugapparat zusammenhängen, verbinden die Flughunde erneut mit den Primaten und nicht mit den Kleinfledermäusen. Wie auch immer die Merk-malskonstellationen bewertet werden: Ohne eine große Anzahl tiefgreifender Konvergenzen ist eine phylogenetische Systematik der Fledermäuse nicht möglich.

Neue Überraschung: Konvergenz der Echoortung?
Ein Großteil der molekularen Analysen führte aber zu einer anderen überraschenden Wendung: Die Kleinfledermäuse erwiesen sich als paraphyletisch, d. h. sie können nicht auf einen gemeinsamen Vorläufer zurückgeführt werden. Stattdessen gruppieren einige Kleinfledermausfamilien mit den Flughunden. Für diesen Zweig wurde das Taxon Yinpterochiroptera eingeführt. Die verbleibenden Kleinfledermäuse werden als Yangochiroptera klassifiziert (vgl. Tab. 1; vgl. Teeling et al. 2000; Teeling et al. 2005; Springer et al. 2001). Hutcheon & Kirsch (2006) schlugen eine weitere Änderung des Systems der Fledermäuse vor: Sie unterteilen die Fledermäuse in die Unterordnungen Vespertilioniformes (Emballonuridae, Nycteridae, Yangochiroptera) und Pteropodiformes (Craseonycteridae, Hipposideridae, Megadermatidae, Rhinolophidae, Rhinopomatidae und Pteropodidae).

Die neuen Klassifikationen haben zur Folge, dass entweder eine zweimalige unabhängige Entstehung des Echoortungssystems angenommen werden muss oder dass die Flughunde die Fähigkeit zur Echoortung verloren haben (Springer et al. 2001; Eick et al. 2005; Jones & Holderied 2007; Simmons 2005; Teeling et al. 2000; Teeling et al. 2005; Teeling 2009). Beide Möglichkeiten sind mit großen evolutionstheoretischen Problemen verbunden: Beim Echoortungssystem handelt es sich um ein ungewöhnlich komplexes Merkmal, dessen zweimalige evolutive Entstehung mit vielfach ähnlichen Details noch schwerer verstehbar wäre als es eine einmalige Entstehung ohnehin schon ist.

Aber auch ein sekundärer Verlust ist problematisch. Es ist nicht nachvollziehbar, dass eine derartig nützliche Fähigkeit verloren gehen sollte (Rayner 1991, 184). Dazu kommt, dass wie bereits erwähnt die Megachiropteren-Gattung Rousettus zur Echoortung mit Hilfe von Zungenschnalzen befähigt ist. Wäre die laryngeale Echoortung also verloren gegangen, müsste man annehmen, dass die Echoortung danach mit anderer Technik erneut erworben wurde. Als Rückbildungsstadium kommt das Echoortungssystem von Rousettus kaum in Frage, da diese Gattung unter den Megachiropteren zu den abgeleiteten Formen gehört (Springer et al. 2001, 6246; Jones & Teeling 2006). Es gibt keinen Konsens darüber, welches der beiden Szenarien aus evolutionstheoretischer Sicht das wahrscheinlichere ist (Li et al. 2008, 13959).

Widersprüchliche Verwandtschaftsbeziehungen
Die neuen Erkenntnisse aus den molekularen Analysen haben weitere evolutionstheoretisch eher problematische Konsequenzen. Die früher angenommene enge phylogenetische Verbindung der Fledermäuse mit den Dermoptera (Flattermakis, Riesengleiter), also gleitenden Säugetieren (als Volitantia zusammengefasst) kann nicht mehr aufrechterhalten werden. Während nach morphologischen Merkmalen die Fledermäuse bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts zusammen mit den Dermoptera, Primaten und den Scandentia (Spitzhörnchen) sowie ausgestorbenen Gruppen zu den Archonta gestellt wurden, passen sie nach molekularen Daten zu den Laurasiatheria, zu denen Carnivoren, Schuppentiere, Cetartiodactyla (Paarhufer und Wale), Insektenfresser und Paarhufer gehören (Springer et al. 2001, 6421; vgl. Abb. 6). Das wiederum hat zur Folge, dass zahlreiche Merkmale, die früher als homolog eingestuft wurden und entsprechende Verwandtschaftsbeziehungen zu den Archonta begründeten, nun als konvergent betrachtet werden müssen. Einmal mehr zeigt sich:

1. Morphologische und molekulare Daten können weit auseinandergehende Verwandtschaftsverhältnisse nahelegen und passen nicht ohne weiteres zusammen. So stellen Eick et al. (2005, 1869) Ungleichheit („disparity“) zwischen molekularen und nichtmolekularen Phylogenien fest, und Jones & Teeling (2006, 149) schreiben von „radikal verschiedenen“ Verwandtschaftsverhältnissen (vgl. Abb. 4).

2. Die Homologie von Merkmalen (also ihre „Qualität“ als „Verwandtschaftsanzeiger“) ist nicht objektiv bestimmbar. Denn sonst könnte die Deutung von Merkmalen als Homologien nicht einfach in die Deutung als Konvergenzen umgewandelt werden. Auch die Unterscheidung zwischen „ursprünglich“ und „abgeleitet“ ist fragwürdig, wie Teeling et al. (2002, 1435) am Beispiel des Sehsinns feststellen: „Die Zuordnung der Fledermäuse zu den Laurasiatheria statt zu den Archonta dürfte die Polarität der Merkmale beeinflussen, die mit dem Sehen verknüpft sind. Der gut entwickelte Sehsinn bei den Pteropodiden beispielsweise ist abgeleitet im Vergleich zu den meisten anderen Laurasiatheria. Wenn dagegen die Archonta monophyletisch sind, ist der Sehsinn der Pteropodiden primitiv“ (Teeling et al. 2002, 1435).

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Konvergenzen und Selektionsdrücke

Die Konvergenzproblematik wurde verschiedentlich bereits angesprochen. Hier soll dieses Thema noch einmal kurz zusammenfassend diskutiert werden.

Evolutionstheoretisch war erwartet worden, dass ein derartig komplexes Merkmal wie die Echoortung ein sicherer Hinweis auf gemeinsame Vorfahren ist (Homologie-Argument) und es nur einmal bei den Fledermäusen entstanden sein sollte (Simmons 2005, 527). Nach dem derzeitigen Kenntnisstand muss aber entweder eine mindestens zweimalige unabhängige Entstehung der Echoortung angenommen werden oder aber dessen Verlust bei den Megachiropteren. Angesichts dieser überaus komplexen Fähigkeit, zu der vermutlich viele hundert Gene beitragen (Li et al. 2008, 13962), wäre eine zweimalige unabhängige Entstehung sehr unwahrscheinlich. Aber auch der Verlust dieser Fähigkeit ist sehr problematisch, da mit dieser Fähigkeit über 20 verschiedene anatomische Spezialisierungen gekoppelt sind, die bei den Megachiropteren nicht vorhanden sind und allesamt verlorengegangen sein müssten (Simmons 2005, 527).

Die Verteilung der Echoortung kann folglich nicht als Wegweiser für stammesgeschichtliche Zusammenhänge dienen, sondern folgt anderen Kriterien. Das gilt nicht nur für die Fähigkeit der Echoortung an sich, sondern auch für die verschiedenen Ruf-Designs (vgl. Abschnitt „Entstehung der Echoortung“, Abb. 4 und Legende dort). Nach Eick et al. (2005, 1869) ist die Verteilung verschiedener Echoortungsmodi „hochgradig konvergent“. Einige Beispiele wurden weiter oben bereits genannt wie die „High-duty cycle“-Echoortung. Auch die „low-duty cycle“-Echoortung (weniger als 20% eines Rufzyklus besteht aus Rufen) muss konvergent entstanden sein, ebenso verschiedene Intensitäten des Aussendens des Rufs, die Aussendung über das Maul oder die Nase. Echoortung mit geringer Intensität ist nach Eick et al. (2005, 1879) sogar mindestens sechsmal unabhängig entstanden, vermutlich von Vorläufern, die ihre Laute mit hoher Intensität abgegeben haben.

Auch bei anderen Merkmalen muss verbreitet konvergente Entstehung angenommen werden. Beispielsweise müssen innerhalb der Pteropodidae (Flughunde) anatomische Spezialisierungen für Pollen- und Nektar-Ernährung bis zu fünfmal entstanden oder wieder verlorengegangen sein (Kirsch et al. 1995, 396). Eick et al. (2005, 1869) bewerteten 195 morphologische Merkmale im Licht ihrer Kern-DNA-Phylogenie. Außer 24 Merkmalen waren alle homoplastisch verteilt, d. h. es müssen Konvergenzen oder Rückbildungen angenommen werden.

Das verbreitete Auftreten von Konvergenzen, insbesondere bei den unterschiedlichen Designs der Echoortung bedeutet, dass die Merkmalsverteilung ein Nachzeichnen der Phylogenese nicht erlaubt, wie von einigen Autoren ausdrücklich festgestellt wird. Stattdessen wird auf starke Selektionsdrücke verwiesen, die das „phylogenetische Signal“ übertönen (Jones & Teeling 2006, 149). Die Annahme starker Selektionsdrücke ist aber spekulativ. Nachweisbar ist nur eine ökologische Anpassung der verschiedenen Echoortungs-Designs an die Lebensumgebung und die Beutetiere. Der Weg ihrer Entstehung ist unbekannt. Selektionsdrücke an sich können keine neuen Designs erzeugen; der Selektion werden ohne nähere Begründung gleichsam schöpferische Fähigkeiten zugesprochen.

Schließlich gibt es auch eine große Zahl von Konvergenzen über die Fledermäuse hinaus. Die von Pettigrew (1986; 1995) und Pettigrew et al. (1989) zusammengestellten Gemein-samkeiten zwischen Megachiropteren und Primaten, die die „Flying-Primate-Hypothese“ unterstützen, müssen als Konvergenzen interpretiert werden, wenn die Fledermäuse, wie durch zahlreiche genetische Studien begründet, monophyletisch sind. Andernfalls müssten zahlreiche Merkmale des Flugapparats konvergent entstanden sein. Speakman (2001, 122) bemerkt dazu: „Wenn Konvergenz der Flügelstrukturen der Mega- und Mikrochiropteren unglaublich erscheinen, ist das kaum weniger der Fall bei den vorgeschlagenen Konvergenzen der Gehirnstrukturen bei Megachiropteren und Primaten. Und bevor die genetischen Ähnlichkeiten erforscht wurden, schrieb Rayner (1991, 185) noch: „So zahlreich und ausgepägt sind die Ähnlichkeiten zwischen Flughunden und Primaten, dass eine enge evolutionäre Verwandtschaft zwischen diesen beiden Gruppen unausweichlich erscheint.“

Die Aufdeckung einzelner für die Entwicklung von Organsystemen notwendiger Gene ist für eine phylogenetische Erklärung aus einem weiteren Grund nicht zielführend: Wie gezeigt werden für einen funktionierenden Flugapparat nicht nur die Flughaut und verlängerte Fingerknochen, sondern noch zahlreiche weitere Bestandteile und passende Eigenschaften benötigt, die mindestens zu einem größeren Teil Hand in Hand verändert oder gar neu erworben werden müssen. In diesem Zusammenhang wird manchmal in Anlehnung an Kischner & Gerhart (2005) argumentiert, dass mit der Verlängerung der Flughaut und der Fingerknochen aufgrund des explorativen Verhaltens von Geweben gleichsam automatisch auch Muskelgewebe, Nervenstränge und Blutgefäße sich zugleich und passend verändern würden.

Exploratives („erforschendes“, auf Signale antwortendes) Verhalten von Gewebe ist in der Tat aus der Ontogenese bekannt. Gemeint sind Mechanismen, welche Variation erzeugen, die weitgehend zufällig und sehr wenig determiniert sind, die aber durch äußere Signale in bestimmte Richtungen gesteuert werden (Kirschner & Gerhart 2005, 144 f.). Explorative Systeme sind „antwortend“, d. h. sie reagieren auf äußere Signale. Als Beispiele besprechen die Autoren u. a. das Wachstum des Zellskeletts, das Muskelwachstum, das Nervensystem und die Bildung des Blutgefäßsystems. So kann sich das Nervensystem mit wenigen Regeln selbst konstruieren. Das Wachstum erfolgt gemäß weniger Regeln; die genaue Ausprägung wird durch Randbedingungen gesteuert. Sind die Randbedingungen verschieden, resultiert ein anderes Ergebnis des Wachstums. Kirschner & Gerhart (2005) spekulieren nun, dass durch Abwandlung der Rahmenbedingungen, in denen das explorative Verhalten von Gewebewachstum verläuft, Evolution kanalisiert voranschreiten könne und die Entstehung von Neuem in der Evolution erleichtert werde. Man könnte sagen: Die Variabilität und Selektion explorativer Prozesse in der Ontogenese werden in der Phylogenese „kopiert“. Die Idee ist beispielsweise, dass ein veränderter Knochenbau automatisch auch Veränderungen der explorativ wachsenden Muskeln, Nerven und Blutgefäße zur Folge hat, so dass eine synorganisierte Evolution ablaufen könnte.

Doch dieser Ansatz bringt keine Lösung für die Frage nach der evolutiven Entstehung des Flugapparats der Fledermäuse und zwar schon aus dem einfachen Grund, dass viele Teile dieses Apparats Eigenschaften aufweisen, die mit explorativem Verhalten gar nicht in Verbindung gebracht werden können, etwa die Elastizität der Fingerknochen, ihr spezieller Bau, die Elastizität der Flughaut, die Flughäute außerhalb des Fingerbereichs und vieles mehr. Einige Muskeln der Flughaut kommen nur bei den Fledermäusen vor, sie sorgen dafür, dass „die elastische Flughaut über dem ausgestreckten Tragflächengerüst gespannt bleibt“ (Neuweiler 1993, 9). Diese Muskeln mussten gleichsam neu erfunden werden, und ihre Entstehung ist in keiner Weise durch exploratives Verhalten erklärbar. Insgesamt sind 17 Muskeln an der Flügelbewegung beteiligt, von denen die meisten für die Kontrolle der Flügelstellung benötigt werden (Neuweiler 1993, 11; Abb. 14). „Armgelenke und Handwurzel sind ebenfalls an die Erfordernisse des Fliegens angepaßt“ und auch das Schulterblatt ist in die Flügelbewegungen einbezogen (Neuweiler 1993, 9). Alle diese und weitere Konstruktionsdetails haben mit explorativem Verhalten nichts zu tun.

Explorative Wachstumsvorgänge könnten vielleicht einige Randdetails evolutiver Ab­-wandlungen (leichter) verständlich machen, die entscheidende Frage ist aber: Wie werden neue Muskelstränge, neue Ansatzstellen usw. geschaffen? Das explorative Verhalten er-scheint eher als vorgeplantes Verhalten, das den Lebewesen die nötige Flexibilität während der Ontogenese verleiht. Dass es evolutiv nutzbar sein könnte, ist nur eine vage Hoffnung.

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Was ist eine Erklärung?

Es gibt eine Tendenz, interessante Entdeckungen überzubewerten. Man kann das beispielhaft an der Bewertung und Einordnung der Entdeckung der bisher bekannten genetischen Grundlagen der Flügelausbildung sehen (vgl. den ersten Teil des Artikels). So schreiben Sears et al. (2006, 6585): „Durch die Verknüpfung einer einfachen Veränderung in einem einzigen Entwicklungspfad mit dramatisch verschiedenen Morphologien bieten wir eine mögliche Erklärung, wie Fledermäuse einen aktiven Flug entwickeln konnten …“ Dagegen ist festzuhalten:

1. Es ist nur ein sehr kleiner Teil der genetischen Grundlagen der Ontogenese der Flügel bekannt.

2. Selbst mit einer besseren Aufklärung der Faktoren der ontogenetischen Entwicklung könnte damit noch keine Aussage über die Phylogenese und ihre Mechanismen gemacht werden.

Abb. 7: Aktivitätsphasen (verschieden gefärbte Balken) der Flugschlagmuskeln während eines Schlagzyklus bei langsamem Flug. rot: Abschlagmuskeln, gelb: Aufschlagmuskeln, blau: Bifunktionale Muskeln, die auch die Flügelstellung kontrollieren. (Nach Neuweiler 1993)

Anders als in manchen populären Darstellungen, wo in einem Fall sogar von einer Aufklärung der Mechanismen der Flügelentstehung in der Evolution die Rede ist, sind die Autoren der Originalarbeiten deutlich vorsichtiger. Sears (2008, 10) meint, dass die Änderung des BMP-Signalwegs „nicht notwendigerweise der einzige“ Mechanismus sei und dass diese Änderung (nur) eine Rolle spiele. Sears et al. (2006, 6581) schreiben, dass ihre Resultate darauf hindeuten, dass eine Verstärkung des BMP-Signalwegs einer der hauptsächlichen Faktoren bei der ontogenetischen Verlängerung der Vorderextremitäten der Fledermäuse und ebenso möglicherweise ein Schlüsselmechanismus in der Verlängerung im Laufe der Evolution sei. Für Sears (2008, 8) hat die Kenntnis der Mechanismen der Verlängerung „das Potential, zu einem besseren Verständnis der Schritte zu führen, die zur Evolution des aktiven Flugs geführt haben“ (Sears 2008, 8; Hervorhebungen nicht im Original). Ähnlich werten sie Änderungen in der Expression der Hox-Gene in der Fledermausextremität im Vergleich zur Situation bei der Maus: Sie könnten zu Änderungen des Skelettbaus beitragen (Sears 2008, 11).

Aber auch diese vorsichtigeren Formulierungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Schritte zur Aufklärung der Ontogenese noch keine Schritte zur Aufklärung der Mechanismen und des Verlaufs der Phylogenese sind. Denn zum einen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die hypothetische Phylogenese nach demselben Modus verläuft wie die Ontogenese – im Gegenteil: Es ist eher anzunehmen, dass das wegen ganz anderer Rahmenbedingungen nicht der Fall ist. Dies führt in die grundsätzliche Frage nach dem Zusammenhang von Ontogenese und Phylogenese, die an dieser Stelle nicht aufgerollt werden soll.

Zum anderen muss über mögliche Mechanismen gesondert Rechenschaft abgegeben werden. Es genügt nicht, einfach nur beschreibend Änderungen in der Regulation von Genen zu konstatieren.

Dass mehr und mehr genetische Korrelate phänotypischer Unterschiede zwischen verschiedenen Arten oder höheren Taxa entdeckt werden, erweitert unsere Kenntnisse über die Zusammenhänge von Genotyp und Phänotyp, nicht mehr und nicht weniger. Dass es diese Korrelate gibt, ist selbstverständlich, und die Entdeckung einzelner für eine Fähigkeit notwendiger Gene sagt an sich noch nichts über deren Evolution aus.

Kopplung Flug und Echoortung
Ein weiterer Aspekt ist wichtig: Die Echoortung und der Flug sind physiologisch (biomechanisch) miteinander gekoppelt. Fledermäuse geben ihre Laute ab, wenn im Flug der Brustmuskel am stärksten beansprucht wird und der Brustkorb zusammengedrückt ist (Rayner 1991, 173). Beim kräftigen Ausatmen während des Flugs kann am energieeffizientesten ein Ruf mit maximaler Energie ausgestoßen werden. Ein genügend lauter Ruf scheint nur möglich zu sein, wenn das Tier seine Flügel bewegt (Rayner 1991, 174/176). Ebenfalls gleichzeitig müssen die Tiere in der Lage sein, während des Flugs die via Echoortung eingehenden Informationen über mutmaßliche Beute zu interpretieren, um blitzschnell zu entscheiden, ob es sich lohnt, die Beute zu fangen. Flug, Echoortung und Jagdverhalten sind also gekoppelt (Rayner 1991, 181). Das muss bei allen Überlegungen zur Entstehung von Flug und Echoortung bei Fledermäusen bedacht werden. Rayner (1991, 174) mahnt, dass nahezu jede Facette der Anpassung der Kleinfledermäuse mit Flug und Echoortung zusammenhängt, weshalb Untersuchungen dieser An­passungen einen großen Bereich der gesamten Biologie der Fledermäuse berücksichtigen müsse. Der Forscher müsse sich jederzeit bewusst sein, dass es möglicherweise verborgene Begleiterscheinungen des untersuchten Systems gibt, und sich vor Vereinfachungen hüten.

Nahezu jede Facette der Anpassung der Kleinfledermäuse hängt mit Flug und Echoortung zusammen.

Wieviele Gene sind beteiligt?
Schließlich ist noch zu bedenken, dass es mittlerweile eine Reihe von Studien gibt, die zeigen, dass an der Entwicklung und für die Funktion von Organsystemen eine sehr große Anzahl von Genen notwendig ist. Beispielhaft sei eine Arbeit von Schnorrer et al. (2010) erwähnt, durch die gezeigt wurde, dass 2785 Gene für die Muskelentwicklung und Muskelfunktion beim Insektenflug benötigt werden. Es ist kaum anzunehmen, dass die Situation bei den Fledermäusen sehr viel anders ist. Auch vor diesem Hintergrund erweisen sich einfache Vorstellungen über große funktionale (!) Veränderungen infolge kleiner Änderungen im Erbgut als vollkommen unrealistisch.

Ohne eine sehr viel genauere Kenntnis der molekulargenetischen und ontogenetischen Grundlagen des Flugapparats können keine seriösen phylogenetischen Hypothesen entwickelt werden. Das bisher vorhandene Wissen genügt jedoch um zu begründen, dass alle verfügbaren evolutionstheoretischen Ansätze sich bis heute als höchst spekulativ, unplausibel und widersprüchlich erwiesen haben.

Dank
Dr. Henrik Ullrich und Dr. Sven Namsor danke ich für wertvolle Hinweise.

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Studium Integrale Journal 18. Jg. Heft 2 - Oktober 2011