Parasiten, die das Verhalten ihrer Wirtsorganismen manipulieren, sind bereits mehrfach beschrieben worden. Beispielsweise beeinflusst der zu den Saugwürmern (Trematoda) gehörende Kleine Leberegel (Dicrocoelium dendriticum) Ameisen. Diese benutzt er als Zwischenwirt derart, dass sie entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit nachts und am frühen Morgen auf die Spitze von Grashalmen klettern und sich dort mit ihren Mandibeln (Kiefern) fixieren.
So erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, z.B. von Schafen einem Endwirt beim Weiden mit aufgenommen zu werden und dort den weiteren Lebenszyklus durchlaufen zu können. Ein weiteres Beispiel sind Schlupfwespenlarven, die das Netzspinnen von Spinnen manipulieren (Eberhard 2000, s. auch Binder 2000). Fachleute diskutieren diese und andere Beispiele insofern kontrovers, als bei Laborstudien nicht leicht geklärt werden kann, inwieweit die Beobachtungen die Verhaltensweisen unter natürlichen Bedingungen repräsentieren. Bei Freilanduntersuchungen ist die Situation typischerweise sehr komplex und es ist oft nicht zu klären, ob das beobachtete Verhalten nicht doch zum Repertoire des Wirts gehört oder ob es tatsächlich Folge einer Manipulation durch den Parasiten ist.
|
Abb. 1: Die Puppen der Brackwespe Glyptapanteles sp. in unmittelbarer Nähe zu der noch lebenden Raupe des Spanners Thyrinteina leucocerae. Die Raupe verteidigt die Parasitenpuppen durch heftige Kopfbewegungen gegen Angriffe von Fressfeinden. Kurz nachdem die Brackwespen geschlüpft sind geht die Schmetterlingsraupe zugrunde. Aufnahme von Prof. José Lino-Neto, Federal University of Vicosa (Brasilien). Abdruck mit freundlicher Genehmigung. |
|
Grosman et al. (2008)1 legen nun eine Studie vor, in der sie in Feldbeobachtungen und Laborexperimenten zeigen, dass die Larven der Brackwespe Glyptapanteles sp. Raupen des Schmetterlings Thyrinteina leucocerae zu ihrer Verteidigung manipulieren. T. leucocerae gehört zu den Spannern (Geometridae). Ein Weibchen der Brackwespe legt bis zu 80 Eier in einer Schmetterlingsraupe ab. Diese entwickeln sich dort und im 4. oder 5. Larvenstadium bohren sie sich aus dem Wirt heraus. Sie verpuppen sich in unmittelbarer Nähe zum verlassenen Wirt, der seinerseits auffällige Veränderungen in seinem Verhalten zeigt. Die parasitierte Schmetterlingsraupe stellt nach dem Ausstieg der Parasiten die Nahrungsaufnahme und die Fortbewegung fast vollkommen ein. Typischerweise fixiert sie sich an Zweigchen mit ihren beiden Afterbeinpaaren und nimmt eine über die verpuppten Parasiten gebeugte Haltung ein. Alle beobachteten parasitierten Raupen starben, nachdem die Brackwespen aus den Puppen geschlüpft waren, ca. 6 bis 7 Tage nach Verlassen des Wirts.
Die Raupe verharrt zunächst also mit reduzierten Lebensäußerungen in unmittelbarer Nähe zu den verpuppten Parasiten und zeigt bei Störungen heftige Kopfbewegungen und zwar gezielt in Richtung der Störung. Um einen Zusammenhang zwischen diesen Bewegungsabläufen und einem Schutz der Parasitenlarven abzuklären, stellten die Autoren quantitative Untersuchungen im Labor und in Freilandversuchen an.
Sie konfrontierten von Parasiten infizierte und parasitenfreie Raupen mit ausgehungerten Baumwanzen (Pentatomidae) Supputius cincticeps, die nach Feldbeobachtungen als Räuber sowohl Larven der Brackwespe als auch die Schmetterlingsraupen von T. leucocerae angreifen. Im Labor schlagen die parasitierten Raupen wiederholt mit heftigen Kopfbewegungen auf den Angreifer ein, während nicht befallene Raupen selbst dann kaum auffällige Reaktionen zeigten, wenn die Wanzen auf ihnen herumliefen. Auch infizierte Raupen zeigen diese aggressiven Abwehrbewegungen erst, nachdem sie von den Parasitenlarven verlassen worden sind. Im Labor wurden in mehr als 50% der beobachteten Wanzenattacken die Angreifer ausgeschaltet oder diese gaben auf. Parasitenfreie Raupen, die man in die Nähe von verpuppten Parasitenlarven brachte, zeigten kein vergleichbares Verhalten und nur 15% der Wanzen ließen von Angriffen auf die Parasiten ab.
Im Freiland wurden die Puppen der Brackwespe Glyptapanteles von unterschiedlichsten Angreifern attackiert, wie z.B. verschiedenen Ameisen, Wanzen und hyperparasitoiden Wespen. Dabei überlebte in dieser Studie die doppelte Anzahl von Parasitenpuppen, wenn diese durch infizierte Raupen bewacht und verteidigt wurden.
Wodurch wird die Verhaltensänderung bei der parasitierten Raupe verursacht? Grosman et al. (2008) halten aufgrund der langen Zeit (ca. 2 Wochen) zwischen Eiablage und Auftreten der Verteidigungsaktivitäten das erwachsene, Eier ablegende Brackwespenweibchen als Auslöser für unwahrscheinlich. Auch eine Stimulierung durch die Puppen schließen die Autoren aus, da auch infizierte Raupen, die von den verpuppten Parasiten getrennt worden waren, das Verteidigungsverhalten zeigten. Die durch das Ausbohren der Parasiten verursachte Verletzung der Raupen kann nach bisherigen Beobachtungen als Anlass für das veränderte Verhalten ebenfalls ausgeschlossen werden: künstlich beigebrachte Verletzungen lösen kein vergleichbares Verhalten aus. Es ist bekannt und bereits mehrfach beschrieben, dass Parasiten in den Hormonhaushalt ihrer Wirte eingreifen (z.B. Binder 2008). Grosman und seine Mitarbeiter sezierten einige der Raupen, nachdem sie drei bis vier Tage zuvor von den Parasitenlarven verlassen worden waren, und fanden ein oder zwei Larven, die im Wirt verblieben und lebendig waren. Die Autoren vermuten, dass diese im Wirt vorgefundenen Parasitenlarven die Änderung im Verhalten der Raupe auslösen, wie dies von anderen Parasiten-Wirt-Systemen beschrieben ist. So wandern bei Larven von Saugwürmern (Trematoda), die Ameisen als Wirte nutzen, beim Verlassen des Wirts ein oder zwei Exemplare ins Gehirnareal der Ameise. Dort kapseln sie sich ein, durchlaufen aber keine weiteren Entwicklungsstadien, die für ihre Art typisch wären. Derzeit geht man davon aus, dass diese Individuen die Manipulation des Wirts übernehmen und sich so für die anderen Parasiten opfern („sacrifice“).
Mit diesem verblüffenden Beispiel liegt ein weiterer Beleg für bisher noch unüberschaubar komplexe Vorgänge in vergleichsweise wenig komplexen Organismen vor. Es macht aber auch nachdenklich, wie Parasiten in so komplexe Systeme eingreifen, die Steuerung von Organismen übernehmen und sie so versklaven können. Im hier beschriebenen Fall der Brackwespe Glyptapanteles und der Schmetterlingsraupe von T. leucocerae wird die Raupe nicht nur als Wirt genutzt, sondern darüber hinaus wird die verletzte Raupe wenige Tage vor ihrem Tod noch zur Verteidigungsmaschine umprogrammiert und versklavt.
|