Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 14. Jg. Heft 2 - Oktober 2007
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KNM-ER 1470 kein Vorfahr des Menschen –
Aufstieg und Fall eines Stars

von
Sigrid Hartwig-Scherer & Michael Brandt

Studium Integrale Journal
14. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2007
Seite 74 - 76


Zusammenfassung: Der hochkontroverse Schädel KNM-ER 1470, ursprünglich erster Vertreter der Gattung Mensch, erfuhr im Laufe seiner Erforschungsgeschichte eine Reihe von markanten Veränderungen. Sein Alter reduzierte sich kurz nach dem Fund von fast 3 MrJ auf 1,9 MrJ, seine Artzuordnung wechselte von Homo spec. zu Homo habilis und dann zu H. rudolfensis. Später wechselte sogar seine Gattungszugehörigkeit von Homo zu Kenyanthropus. Aufgrund einer fehlerhaften Rekonstruktion veränderte sich die Morphologie des Gesichts von orthognath zu prognath, ähnelt im Gesamthabitus eher einem robusten Australopithecus, während sein Gehirnvolumen sich von ungewöhnlich hohen 752 auf möglicherweise nur 526 ccm reduzierte. Am Ende wurde – nach einer neuen Publikation eines jahrzehntelang bekannten Sachverhalts – aus dem Hoffnungsträger „ältester Mensch“ ein ganz normaler früher Hominide, der sich nicht wesentlich von anderen Australomorphen unterscheidet.




Hintergrund

Seit über 30 Jahren gehört der Schädel KNM-ER 1470 zu den am meisten kontrovers diskutierten frühen Hominidenschädeln überhaupt. (Als Hominiden werden hier alle Fossilien bezeichnet, die in die direkte Vorläuferschaft des Menschen gestellt werden.) Richard Leakey, unter dem Schatten seines erfolgreichen Vaters, fand diesen stark fragmentierten Schädel 1972 am Turkanasee, früher Rudolfsee und führte ihn als Homo in die wissenschaftliche Welt ein. Die Zuordnung zum Menschen war jedoch von Anfang an umstritten (siehe Mehlert 1999).

MrJ:
Millionen radiometrische Jahre.

Die mühselige Rekonstruktion aus über 150 Bruchstücken erfolgte per Hand und aufgrund theoretischer Vorstellungen, dass die Form als ein angenommenes Mitglied der Gattung Homo einen großen Gehirnschädel und ein orthognathes (gerades, d.h. nicht hervorstehendes prognathes) Gesicht besessen haben muss.

Der Schädel erhielt ein eher unnatürlich wirkendes gerades Gesicht und kam auf ein geschätztes Gehirnvolumen von 752 ccm. Doch damit unterschied er sich – auch nach der Datierungsrevision – recht drastisch von allen zeitgleichen Hominiden (Australopithecinen und Habilinen). Dies sollte ihm eine herausragende Position als direkter Vorfahre des Menschen verschaffen.

Schon in den 1970er Jahren erhoben sich gegen die Rekonstruktion kritische Stimmen: vor allem die Anlenkung des Gesichtsschädels an den Gehirnschädel wurde als den biologischen Notwendigkeiten völlig unangemessen kritisiert. Die Mitautorin dieses Artikels erinnert sich, dass dies sogar in Anthropologievorlesungen der Uni Zürich ausführlich thematisiert wurde (Peter Schmid 1986/ 1987). Dennoch fand in der populären und Fachliteratur nur sehr vereinzelt etwas davon Eingang. Offensichtlich in Kenntnis dieser Sachlage haben Pellegrino 1985 und R. Leakey 1995 eine sehr ähnliche Rekonstruktion von KNM-ER 1470 mit etwas stärker prognathem Gesicht in populärwissenschaftlichen Büchern veröffentlicht (Mehlert 1999).

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Wiederholte Kritik an der Rekonstruktion

Tim Bromage hat den alten Faden 2007 auf einem hohen fachwissenschaftlichen Niveau medienwirksam wieder aufgenommen, nachdem er bereits Anfang der 1990er Jahre grundlegende Arbeiten dazu vorgetragen und publiziert hatte (Bromage 1992a,b, 1993), die aber praktisch folgenlos geblieben sind. Bromage demonstriert mittels drei verschiedener teils virtueller Methoden, dass die Rekonstruktion in wesentlichen Merkmalen unakzeptabel ist. Seine Ergebnisse hat er auf Kongressen vorgestellt und plant sie noch in diesem Jahr in einer referierten wissenschaftlichen Zeitschrift zu publizieren. Da sie recht herausfordernd sind, erschienen sie auch in verschiedenen Publikationsorganen, was zu einer großen Breitenwirkung geführt hat. Eigentlich werden solche Befunde erst nach der Publikation in referierten wissenschaftlichen Journalen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Aus diesem Grund weigerte sich auch Meave Leakey, vor Drucklegung dieser Arbeit irgendeinen Kommentar zur Kritik der von ihr angefertigten Rekonstruktion abzugeben.

Abb. 1: Das umstrittene Fossil: Fragmente von KNM-ER 1470 (Foto: S. Hartwig-Scherer)

Bromage und Mitarbeiter rekonstruierten den Schädel auf drei verschiedene Weisen: ein flexibler Abguss, der verformt werden kann, und zwei unterschiedliche virtuelle Rekonstruktionen, denen der dreiteilige Schädelabguss zugrunde liegt (linke und rechte Schädelkapsel und Gesichtsschädel, Abb. 1).

Diese Rekonstruktion knüpft an frühere Erkenntnisse über das Wachstum des Schädels bei Menschen und anderen Säugern an (Enlow 1966). Donald H. Enlow hatte bestimmte Wachstumsmuster entdeckt, wie sich bei Säugern Gehirn- und Gesichtsschädel zueinander entwickeln. Bromage und Kollegen postulieren darauf aufbauend einen Winkel, der für Säuger allgemeingültig sein soll: der Winkel zwischen einem Höcker auf dem Oberkiefer (der Tuberositas maxillaris) nahe dem letzten Molaren (Backenzahn), der Öffnung des äußeren Gehörgangs und dem Mittelpunkt des unteren Orbita-Randes (unterer knöcherner Augenhöhlenrand). Dieser Winkel betrage ungefähr 45 Grad, was für das Viscerocranium (Gesichtsschädel) mit seinen (Sinnes-)Organen genügend Platz gewähre. Im Gegensatz dazu zeige die Rekonstruktion von Meave Leakey einen Winkel von 60-75 Grad, was viel zu wenig Raum für Luft- und Speiseröhre zur Verfügung stellt. Damit sei die Rekonstruktion, wie schon in den 1970ern diskutiert, biologisch nicht haltbar, da lebensnotwendige Funktionen wie Schlucken und Atmen nicht möglich seien.

Bromage demonstriert mit drei
Methoden, dass die Rekonstruktion
in wesentlichen Merkmalen
unakzeptabel ist.

Bromages Kritik liest sich drastisch: „Basierend auf der Prämisse, dass KNM-ER 1470 der älteste Mensch war, führte dieses Vorurteil zu einer Rekonstruktion mit zwei Hauptmerkmalen der Gattung Mensch: einem großen Gehirn und einem flachen Gesicht. Diese Rekonstruktion basiert jedoch keineswegs auf einem biologisch vertretbaren Prinzip und verletzt sämtliche architektonische Verhältnisse von Säugermorphologien so stark, dass es mit dem Leben inkompatibel gewesen wäre“ (Bromage et al. 2007).

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Reduktion der Gehirngröße

Nun greift Bromage nicht nur die Gesichtsrekonstruktion als biologisch irrelevant an, sondern attackiert gleichzeitig die Abschätzung der Gehirngröße von zugegebenermaßen hohen 752 ccm, die sich nach seinen Abschätzungen um 226 ccm reduziert. Möglicherweise traut er der manuellen Rekonstruktion aus den vielen Fragmenten weniger als seiner eigenen rechnerischen Abschätzung, die auf dem Grad der Prognathie beruht, d.h. dem Winkel der Kieferneigung in Relation zur Schädelbasis (Thackeray & Monteith 1997). Dies provoziert verständlicherweise die Kritik von Robert Denis Martin, Field Museum, Chicago, der eine Abschätzung aufgrund eines Gesichtswinkels für „verrückt“ hält. („Was sie fordern ist, dass wenn man das Gesicht herausstreckt, das Gehirn dann umso kleiner wird, je mehr das Gesicht nach vorne verlagert ist. Dem kann ich überhaupt nicht folgen“, sagte Martin, der nicht an der Studie beteiligt war; siehe www.foxnews.com) Eine Reduktion des Gehirnvolumens um 226 ccm ist möglicherweise wirklich zu hoch gegriffen. Die neue Gesichtskonstruktion hat tatsächlich eine reduzierte Gehirngröße zur Folge, da die Schädelbasisknickung nicht mehr so hoch ist wie ursprünglich angenommen, aber es scheint eher unwahrscheinlich, dass die Volumenreduktion dieses Ausmaß hat. Das „neue“ Gehirnvolumen von 526 ccm würde zwar tatsächlich gut ins Gesamtbild der Australomorphen passen, doch sind vorläufig alle Schlussfolgerungen müßig, da das Volumen mittels eines ebenfalls neu rekonstruierten Gehirnschädels neu bestimmt werden müsste. Erst wenn dies das niedrige Volumen bestätigt, kann eine Neueinschätzung vorgenommen werden.

Als vor über 30 Jahren der berühmte Finder Richard Leakey von den Reportern bei einer Pressekonferenz befragt wurde, eröffnete er ihnen: „Entweder wir werfen diesen Schädel weg oder unsere Theorien über den frühen Menschen. Er passt ganz einfach in kein Modell vom Anfang der Menschheit.“ Nach der Redatierung wurde der Schädel – trotz damaliger Kritik an der Rekonstruktion – als Homo im Stammbaum belassen, weil nun zumindest zeitlich eine Angleichung an das herrschende Modell stattfand.

Tatsächlich jedoch erfuhr dieser hochkontroverse Schädel 1470 im Laufe seiner Erforschungsgeschichte eine Reihe von markanten Veränderungen. Sein Alter reduzierte sich kurz nach dem Fund von fast 3 MrJ auf 1,9 MrJ. Seine Artzuordnung wechselte von Homo spec. zu habilis und dann zu rudolfensis (Wood 1992), auch seine Gattung wechselte – jedoch mit wenig Akzeptanz – zweimal, zuerst zu Australopithecus (Wood & Collard 1999) und dann zu Kenyanthropus (Leakey et al. 2001), sein Gesicht scheint sich von orthognath zu prognath zu verändern, und sein Gehirnvolumen von 752 auf möglicherweise nur 526 ccm zu schrumpfen. Am Ende steht – zumindest nach der Meinung von Bromage – ein ganz normaler früher Hominide, der sich nicht wesentlich von anderen Australomorphen unterscheidet. Schon vor längerer Zeit hat Bromage (1992b) nach einer Neurekonstruktion des Gesichtes von KNM-ER 1470 eine provokante Ähnlichkeit mit dem zu Australopithecus aethiopicus gestellten KNM-WT 17000 („Black Skull“) festgestellt. A. aethiopicus wird aufgrund seiner robusten Merkmale von der menschlichen Stammbaumlinie weit entfernt eingestuft. Damals hielt Bromage 1470 aufgrund einiger menschlicher Merkmale noch für Homo und bezeichnete das Gehirnvolumen als ungewöhnlich groß.

Die neuen Daten zu einer alten Kritik werden sicherlich nicht unwidersprochen bleiben und ob eine Revision der Position von 1470 in die Primärliteratur Eingang findet, bleibt zu bezweifeln. So präsentiert der bekannte Paläoanthropologe Johanson 2006 nach gut drei Jahrzehnten kritischer Anfragen immer noch die ursprüngliche Rekonstruktion mit dem flachen orthognaten Gesicht und schreibt: „Einige Fachleute wiesen auf untergeordnete Aspekte des Schädels und der Gesichtsform hin, die den Fund mit Australopithecus in Verbindung bringen können, die Mehrzahl seiner Merkmale und das Gehirnvolumen von 775 ccm sprechen hingegen eindeutig für die Einordnung als Homo“ (Johanson & Edgar 2006).

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Prognose

Trotz der guten Faktenlage könnte selbst eine sorgfältig referierte Publikation von Bromage und Mitarbeitern, die im Laufe dieses Jahres erscheinen soll, möglicherweise nichts an dem Status ändern. Vielmehr bleibt zu befürchten, dass Hochschullehrbücher, und umso mehr Schulbücher, den Schädel weiterhin als einen wesentlichen Meilenstein in der Evolution des Menschen anführen statt als einen Vertreter der Australomorphen.

Denn dieser Schädel spielt in der Diskussion um Schöpfung und Evolution eine herausragende Rolle. KNM-ER 1470 wurde nämlich von einigen

Dieser Schädel spielt in der Diskussion
um Schöpfung und Evolution
eine herausragende Rolle.

Schöpfungsvertretern zu Homo, von anderen dagegen zu den Australopithecinen, die in der Schöpfungslehre als spezialisierte Großaffen gedeutet werden, gestellt. Diese auffällige Interpretationsdiskrepanz innerhalb der Schöpfungsvertreter wurde von Evolutionsbefürwortern als beste Dokumentation ihrer eigenen Überzeugung angeführt, dass es sich hier um ein Übergangsfossil zwischen Großaffe-Mensch gewertet, die nicht überzeugender hätte ausfallen können („There could be no more convincing demonstration of its transitional status“, www.talkorigins.org, Zugriff am 20. 10. 2000). Und Wallace Johnson, ein Vertreter der Schöpfungslehre, fragte 1982, ob mit KNM-ER 1470 nicht schließlich doch ein legitimes „missing link“ zwischen den Australopithecinen und Homo erectus gefunden worden sei (Mehlert 1999).

Mit der nun ziemlich eindeutigen Zuordnung von 1470 zum Formenkreis der Australopithecinen wird die Grenzlinie zwischen den echten Menschen (Homo erectus und andere Homo-Formen) und den nicht-menschlichen Australomorphen klarer denn je.

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Literatur

Bromage TG (1992a)
The ontogeny of Pan troglodytes craniofacial architectural relationships and implications for early hominids. J. Hum. Evol. 23, 235-251.
Bromage T (1992b)
Faces from the past. New Scientist, January, 38-41.
Bromage TG (1993)
Developmental criteria for an empirically based reconstruction of KNM-ER 1470. Am. J. Phys. Anthrop. Suppl. 16, 63.
Bromage TG, Kullmer O, Schrenk F, Rosenberger A, Thackeray JF & Hogg R (2007)
Craniofacial architectural constraints resolve major quandary of human evolution. Conference Poster 3001, Congress of International Association for Dental Research (IADR), 21-24.03, 2007, New Orleans.
Enlow DH (1966)
A morphogenetic analysis of facial growth. Am. J. Orthod. 52, 283-299.
Johanson D & Edgar B (2006)
Lucy und ihre Kinder. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, München.
Leakey M, Spoor F, Brown FH, Gathogo PN, Kiarie C, Leakey LN & McDougall I (2001)
New hominin genus from eastern Africa shows diverse middle Pliocene lineage. Nature 410, 433-440.
Leakey REF (1973)
Evidence for an advanced Plio-Pleistocene hominid from East Rudolf, Kenya. Nature 242, 447-450.
Mehlert AW (1999)
The rise and fall of skull KNM-ER 1470. CEN Technical Journal 13, 96-100.
Thackeray JF & BD Monteith (1997)
Relationships between cranial capacity and prognathism in Plio-Pleistocene hominids. South African J. Sci. 93, 289-291.
Wood B (1992)
Origin and evolution of the genus Homo. Nature 355, 783-790.
Wood B & Collard M (1999)
The human genus. Science 284, 65-71.

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