Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 9. Jg. Heft 1 - Mai 2002
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Landtiere bereits im Oberkambrium?

von Manfred Stephan & Reinhard Junker

Studium Integrale Journal
9. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2002
Seite 40 - 42


Adolf Seilacher (Tübingen und Yale), bekannter Paläontologe und Spurenspezialist, „der hervorragendste paläontologische Beobachter der Gegenwart“ (so GOULD 1991, 352), sprach am 12. Januar 2002 in seinem jährlichen Vortrag im Museum am Löwentor (Stuttgart) zum Thema „Erste Schritte an Land“. Er behandelte jedoch nicht, wie wohl erwartet wurde, den Schritt „Vom Fisch zum Amphibium“. Vielmehr hatte er wie schon früher eine Überraschung parat und stellte einen großen Kunstharzabzug vor mit der 15 cm breiten Fährte samt Schwanzschleifspur eines Arthropoden (Gliederfüßer). Der Abzug wurde von einer schräggeschichteten Oberfläche des oberkambrischen Potsdam-Sandsteins in Ontario (Kanada) abgenommen.

Nach Seilacher sind die großräumigen Schrägschichtungsgefüge im Potsdam-Quarzsandstein zu überdimensional für eine Unterwasser-Bildung. Er deutet sie als sturmtransportierte Dünenablagerungen. Dafür sprächen auch die sog. „Sandstein-Kamine“, also senkrechte Strukturen uhrglasförmig eingedellter Sandschichten von bis zu 3 m Ø und 10 m Tiefe. Sie seien nur aus Dünen-Sedimenten bekannt, ihre Entstehung ist allerdings nicht geklärt. Auf Dünen deute auch folgendes hin: Die hangaufwärts laufenden Arthropoden, die dabei größere Kraft aufwenden mußten, traten ihre Beinspitzen im weichen Sand zum Teil bis in die nächsttiefere Schicht durch. Beim Gehen schaufelten sie kleine Sandschollen nach hinten als Rückschubhäufchen weg. Für diese Phänomene sei nasser Sand zu fest und trittstabil. Fußabdrücke, die bis in die nächsttiefere Sandschicht durchgetreten sind, bezeichnet SEILACHER (1997, 372) als Unterfährten (vgl. HADERER 1998). Schon SCHMIDT (1959, 23.70-72) beschrieb Rückschubsandhäufchen hinter ebenfalls z.T. hangaufwärts gehenden Vierfüßerspuren aus dem Cornberger Sandstein (Hessen), der ins Oberperm gestellt wird. Solche Strukturen und eine recht ähnliche Wirbeltierfährten-Vergesellschaftung sind schon länger aus dem ebenfalls oberpermischen Coconino-Sandstein des Grand Canyon (Arizona) bekannt. Beide Sandsteine werden auch als Dünenbildungen angesehen (SCHMIDT 1959, 21-24.29f.56f.67-74.87-90). Die Fußspuren dieser Vorkommen interpretiert SEILACHER (1997, 373f.) gleichfalls als Unterfährten in Sturmsanden.

Eigenartig ist, daß SEILACHER auch silurische Sandsteine mit Unterfährten von Trilobiten, die gewöhnlich im Meer leben, als Sturmsande deutet. Die gerippelten Oberflächen dieser Sandsteine in Libyen sind aber mit einer dünnen Tonschicht bedeckt, die von den Trilobitenbeinen durchstochen wurde. Die Tonlage entstand, „weil die zuletzt ausfallende Trübe [!] den Sand immer mit einer Tonhaut überzieht“ (SEILACHER 1997, 373). Das ist jedoch typisch für Ablagerung unter ausklingender Wasserbewegung; wie reimt sich das mit Entstehung in einem Sandsturm?

Die Analyse des Spurenmusters im Potsdam-Sandstein ergibt nach SEILACHER, die Erzeuger seien frühe Eurypteriden, also Seeskorpione gewesen (Protichnites). An einer anderen Lokalität im Potsdam-Sandstein gibt es ebenfalls Protichnites-Fährten, in diesem Fall zusammen mit ebenso breiten Kriechspuren, die vermutlich von großen Schnecken stammen (Climactichtnites). Hier wird der Sandstein jedoch als Wattsediment gedeutet (vgl. SEILACHER 1995, 46f.).

Weshalb werden Spurenfossilien, nicht aber die entsprechenden Makrofossilien gefunden?

Was suchten Seeskorpione als Meerestiere im trockenen Dünengebiet? Nach Seilacher wollten sie den Spülsaum am Strand zwecks Nahrungssuche erreichen. Er meint, der direkte Weg vom Meer zum Strand sei durch gefährliche Brandungskräfte an der Küste verwehrt gewesen (gerade dort aber sorgen die heftig auflaufenden Brecher für einen reichhaltigen Spülsaum). SEILACHERs Idee: Die Seeskorpione gingen in einer ruhigen Bucht an Land (dort gibt es jedoch keinen Spülsaum) und nahmen dann den Weg durch die Dünen (wo sie ihre Spuren hinterließen), bis sie auf einem Umweg von der Landseite her den Spülsaum erreichten. Wenn dieses Szenario zutreffen sollte, hätten die Tiere komplexe Verhaltsweisen für eine Orientierung auf Land benötigt, die evolutionär eine längere Vorgeschichte erfordern. Angesichts der Tatsache, daß die vorgestellten Landgänger zeitlich schon vergleichsweise nahe an der sog. „kambrischen Explosion“ überliefert sind, wäre das sehr erstaunlich.

Auch wenn die Urheber der Spuren das Land nicht dauerhaft besiedelten, mußten sie doch in der Lage sein, längere Zeit an Land zu leben. Dies rückt den Zeitpunkt der Eroberung des Landes gegenüber bisherigen evolutionstheoretischen Vorstellungen erheblich in die Vergangenheit. Bislang wurde die früheste Landbesiedlung aufgrund von Spurenfossilien im Ordovizium angenommen, wobei die Deutungen oft umstritten waren (RETALLACK & FEAKES 1987; JOHNSON et al. 1994; vgl. Stud. Int. J. 3 [1996], 41).- Eine ähnliche Entwicklung des Zurückverlegens der Landbesiedlung hat die Paläobotanik durchgemacht (vgl. JUNKER 2002 in dieser Ausgabe). Es stellt sich hier in verschärfter Form die Frage, weshalb zwar Spurenfossilien (bei Arthropoden) oder Mikrofossilien (z. B. Sporenfunde von Landpflanzen), nicht aber die dazu gehörenden Makrofossilien (größere Reste von Tieren und Pflanzen) gefunden werden. Diese Diskrepanz wurde in der Paläobotanik schon oft bis in neueste Zeit vermerkt (EDWARDS & WELLMAN 2001, 3).

Bemerkenswert ist, daß SEILACHER ein so umfangreiches Szenario aus wenigen Befunden (re)konstruiert. Die anschließende Diskussion zeigte, daß der Sandstein nicht eingehend sedimentologisch untersucht wurde; SEILACHER hielt seine Beobachtungen jedoch für ausreichend. Völlig offen blieb in seinem Vortrag, wie Seeskorpione als kiemenatmende Meereslebewesen Wanderungen durch Dünenfelder unternehmen konnten, auf welche Weise sie sich dort orientierten und zielsicher (über einen Umweg) ihren Speiseplatz finden konnten. Waren diese Meerestiere von vornherein zusätzlich mit Organen zum (zeitweiligen) Leben an Land ausgestattet?

Ferner sollte untersucht werden, ob den Befunden insgesamt nicht doch ein Szenario angemessener ist, in dem durch enorme, großflächige Sedimentation unter Meerwasserbedeckung die Schrägschichtungsgefüge im Potsdam-Sandstein (und anderen Sandsteinen) entstanden sind.


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Literatur

EDWARDS D & WELLMAN C (2001)
Embryophytes on land: The Ordovician to Lochkovian (Lower Devonian) record. In: GENSEL PG & EDWARDS D (2001) Plants invade the land. New York, pp 3-28.
GOULD SJ (1991)
Zufall Mensch. München-Wien.
HADERER F-O (1998)
Übertiefte Fährten von Chirotherium. Fossilien 15, 169f.
JOHNSON EW
et al., Geol. Mag. 131, 1994, 395-406.
JUNKER R (2002)
Erste Landpflanzen und molekulare Uhren. Stud. Int. J. 9, xx-xx.
RETALLACK GJ & FEAKES CR (1987)
Trace fossil evidence for Late Ordovician animals on land. Science 235, 61-63.
SCHMIDT H (1959)
Die Cornberger Fährten im Rahmen der Vierfüßer-Entwicklung. Abh. hess. L.-Amt Bodenforsch., 28, 1-137.
SEILACHER A (1995)
Fossile Kunst. Korb.
SEILACHER A (1997)
Warum fossile Fährten oft nur bergauf gehen. Fossilien 14, 372-375.

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