Homochiralität bleibt naturalistisch unerklärt
Ist damit eine plausible Erklärung für die natürliche Homochiralität gefunden? Einige kritische Anmerkungen sind angebracht.
(1) Würde der beobachtete Effekt bei Molekülen auftreten, die für die Entstehung der Moleküle des Lebens von Belang sind? Der Chrom-Komplex wurde gewählt, weil er paramagnetisch ist. Aufgrund seines Paramagnetismus konnte man bei ihm erwarten, einen meßbaren Effekt zu erhalten. Diamagnetische Moleküle - die meisten Kohlenstoff-Verbindungen, die für Lebewesen notwendig sind - können in diesem Experiment nicht ansprechen.
(2) Der Enantiomerenüberschuß war sehr klein - ähnlich klein wie bei Experimenten, wo man mit circular polarisiertem Licht Enantiomerenüberschüsse erzeugt hat (z.B. Stevenson & Verdieck 1969). Noch geringer wäre übrigens ein - bisher nur theoretisch diskutierter - Überschuß aufgrund der elektroschwachen Kraft (Bonner 2000). Damit gilt für alle drei physikalischen Kräfte, die zur Erklärung der Entstehung der Homochiralität herangezogen werden, das Folgende: "Es gibt zwar schwache asymmetrische Kräfte in der unbelebten Natur, aber jedes geringfügige Vorherrschen von D- oder L-Formen [d.h. des einen oder anderen Enantiomeren] würde in einer geologischen Umgebung durch Razemisierungsreaktionen wieder aufgehoben werden" (Dose 1987).
(3) Rikken und Raupach betonen, daß polarisiertes Licht für das Zustandekommen des Effektes nicht notwendig war, sondern "normales" Licht ausreichte. Zwei andere nicht-triviale Anforderungen waren aber nötig: (a) Es wurde nicht wirklich "normales" Licht eingesetzt, sondern ein Laser, und zwar mit der Wellenlänge des Absorptionsmaximums des Chromkomplexes - keine selbstverständlichen Gegebenheiten einer eventuellen präbiotischen Welt. (b) Zum anderen hatte das verwendete Magnetfeld eine Feldstärke von 7.5 Tesla. Die mittlere Feldstärke des Erdmagnetfeldes, gemessen an der Erdoberfläche, beträgt am Äquator etwa 0.032 Nanotesla, d.h. das im Experiment eingesetzte Feld war etwa 234 Milliarden mal stärker als das gegenwärtige, in der Natur vorgefundene. Es ist auszuschließen, daß auf der Erde einmal ein auch nur annähernd so starkes Feld geherrscht haben könnte. Bei schwächeren Feldern wäre jedoch eine eventuelle Enantiomerenanreicherung praktisch nicht mehr gegeben.
(4) Aber vielleicht hat es irgendwo ein lokal begrenztes, sehr starkes Feld gegeben, und ein einmal entstandener Enantiomerenüberschuß hat sich von dort aus durchgesetzt? Diese Hypothese führt uns zu einer letzten kritischen Anmerkung. Der magnetochirale Dichroismus ist in der Tat eine chirale Einflußgröße im Sinne der gegenwärtig akzeptierten Definition von Chiralität, die im Unterschied zur Definition Kelvins eine Zeitumkehr und damit auch bewegungsabhängige Prozesse (Molekül- und Reaktionsdynamik) einschließt (Avalos et al. 1998). Der magnetochirale Effekt ist aber - wie in der diskutierten Arbeit gezeigt - umkehrbar. Wenn Lichtstrahl und Magnetfeld parallel sind, entsteht bevorzugt das eine Enantiomere; wenn sie antiparallel sind, sein Spiegelbild. In einem präbiotischen Universum zufälliger chemisch-physikalischer Vorgänge wäre nun einmal die eine, dann die andere relative Orientierung von Lichtstrahl und Magnetfeld vorzufinden. "Netto" liegt also kein chiraler Einfluß vor; die eventuelle Anreicherung des einen Enantiomeren hier wird durch die Anreicherung seines Spiegelbildes dort aufgehoben. Oder man führt noch eine weitere Annahme ein: das magnetochirale Ereignis habe nur an einer Stelle einmal stattgefunden mit nur einer relativen Anordnung der Felder.
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"Die Frage nach dem Ursprung der Homochiralität ist weit davon entfernt, beantwortet zu sein."
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Der magnetochirale Dichroismus fordert eine Häufung notwendiger, auf der heutigen Erde nirgendwo vorgefundener Voraussetzungen. Ist das plausibel? Rikken und Raupach formulieren am Ende ihres Artikels: "Clearly, the question of the origin of the homochirality of life is far from answered." Sie dürften recht haben.