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Zwei der bedeutendsten frühen Vertreter der Gattung Homo gehören seit April 1999 nicht mehr zu ihrer ursprünglich namensgebenden Gattung, dem Menschen (Wood & Collard 1999). "Homo" habilis und "Homo" rudolfensis - die Gänsefüßchen in unseren früheren Publikationen deuteten eine lange von der Autorin vermutete taxonomische Unklarheit an - gehören jetzt vorläufig zur Gattung Australopithecus, wenn es nach Bernard Wood, einem der Päpste der Paläanthropologie geht. Die mittlerweile früheste Form, die die taxonomischen Kriterien der Gattung Homo erfüllt, ist der afrikanische Homo erectus, auch Homo ergaster genannt. Die vorgeschlagene Revision beendet eine fast 40jährige Ära, die mit Louis und Mary Leakey und ihren Funden aus der Olduvai-Schlucht Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre begann. Die damals gefundenen Steinwerkzeuge zusammen mit Skelettfragmenten aus der Olduvai-Schlucht wurden als vielversprechende Indizien für eine frühe Hominiden-Form angesehen, die den Namen "Mensch" rechtfertigt. Man schrieb ihm ein vergrößertes Gehirn, aufrechten Gang und die Produktion von Steinwerkzeugen zu. In den vergangenen 10 Jahren jedoch mehrten sich die Indizien, daß "Homo" habilis einige dieser diagnostischen Merkmale nicht in der notwendigen Klarheit erfüllen konnte. In den 60er Jahren hatten sich schon bald nach der Veröffentlichung der Beschreibung der grazilen Olduvaifunde als "geschickter Mensch" die Indizien gemehrt, daß es mehrere zeitgleiche Formen gab, die eventuell als Werkzeughersteller in Frage kamen. Zudem ließ eine Reihe von morphologischen Untersuchungen Zweifel an dem aufrechten Gang und an der menschlichen Greiffähigkeit aufkommen.
Wood & Collard (1999) geben einen Überblick über die Taxonomie des Tribus Hominini und der morphologischen Grundlage der Gattung Homo. Sie weisen darauf hin, daß - von wenigen Ausnahmen abgesehen - die meisten Paläanthropologen die Definition der Gattung Homo, und die Bestimmung der taxonomischen Grenzen zwischen Mensch - Nichtmensch als unproblematisch ansahen. Diese Annahme sei jedoch völlig ungerechtfertigt. Ihre überarbeitete Diagnoseliste (siehe Kasten) faßt die möglichen Unterschiede zusammen und bietet eine Überprüfungsmöglichkeit, inwieweit neue oder alte Fossilien der Gattung Homo zuzurechnen sind. Nach diesen meist altbekannten, teilweise aber auch unter neuen Gesichtspunkten zusammengestellten Kriterien können nur solche Mitglieder zur Gattung Homo gezählt werden, die - von der cladistischen Perspektive herkommend - mehr mit Homo sapiens verbindet als mit irgendeiner der australopitheciden Formen (von der Autorin als Australomorphe bezeichnet; z.B. Ardipithecus, Australopithecus, Paranthropus und Praeanthropus, die nach Wood & Collard [1999] und Strait et al. [1997] korrekte Bezeichnung für A. afarensis). Neben dem cladistischen werden sie dem phylogenetischen Konzept "Anpassung an den Lebensraum" gerecht, indem sie eine Mitgliedschaft zur Gattung Homo nur dann als gewährleistet definieren, wenn die Anpassungen, welche Futtererwerb, Fortpflanzung und andere arterhaltende Aspekte sicherstellen, mehr H. sapiens als einer der anderen Gattung ähneln. An den Cladogrammen, die im letzten Jahrzehnt zur Verwandtschaftsanalyse von Australomorphen und Homo veröffentlicht wurden, sowie an der Körpergröße und -form, die mit speziellen Lebensweisen korrelieren, kann man erkennen, daß die Gattung Homo in ihrer bisherigen Zusammensetzung weder von der morphologischen Analyse her noch in ihren adaptiven Strategien eine homogene Gruppe darstellt: keine der geforderten Abgrenzungen zu den Australomorphen trifft für habilis und rudolfensis zu. Es sei also eher zu vermuten, daß "Homo" habilis und "Homo" rudolfensis keinen gemeinsamen Vorfahren mit Homo sapiens besitzen (unter Ausschluß der Australopithecinen). Anfang der 90er Jahre mehrten sich die Indizien, daß gerade die so entscheidende Fortbewegung gar nicht so menschenähnlich gewesen war wie vermutet (und gefordert). OH62, ein als "Homo" habilis diagnostiziertes partielles Skelett, zeigte wesentlich affenähnlichere Proportionen als "Lucy", das partielle Skelett von A. afarensis (Hartwig-Scherer & Martin 1991). OH62 erwies sich damit als weniger menschlich als A. afarensis, sodaß eine Zuordnung zu Homo in Frage gestellt werden mußte. Obwohl dieser Befund durch andere unabhängige Untersuchungen (Spoor et al. 1994, Spoor et al. 1996, siehe auch Literaturangaben in Wood & Collard 1999) bestätigt wurde, "paßt" er nicht in die gängigen phylogenetischen Vorstellungen und wurde erst kürzlich als irrtümlich abgetan (Asfaw et al. 1999). Bezüglich der Fortbewegungsweise identifizieren auch Wood & Collard zwei Gruppen früher Hominiden: diejenigen, die sich durch den komplett modernen, menschlich aufrechten Gang ohne wesentliche Kletterfähigkeiten auszeichnen (dazu gehören Homo ergaster, H. erectus, H. heidelbergensis, H. neanderthalensis, H. sapiens) und der Gruppe, die neben einer speziellen Form des aufrechten Gangs einen beträchtlichen Anteil an Klettern aufweist. Zur letzteren Gruppe gehören nach Wood & Collard Praeanthropus (als Synonym für Australopithecus afarensis), Australopithecus, Paranthropus (die robusten Australopithecinen) und "Homo" habilis. Spezifische Besonderheiten der Individualentwicklung, die man anhand einer Chronologisierung der Zahnsubstanzablagerung (ähnlich der Jahresringe bei Bäumen) und der Zahnwurzelbildung bestimmen kann, zeigen ebenfalls, daß Homo ergaster ein menschliches Entwicklungsmuster, "Homo" rudolfensis und "Homo" habilis jedoch einen affenähnlichen Entwicklungs-"Takt" aufweisen und auch darin den Australopithecinen sehr ähnlich sind. Letztere haben keine stark verlängerte Kindheits- und Jugendphasen durchlaufen, wie dies für den Menschen typisch ist. Die relative Größe und Form von Zähnen und Kiefern und die daraus abgeleitete Beißkraft führen ebenfalls zu dem Ergebnis, daß "Homo" habilis und "Homo" rudolfensis mehr den Typus-Exemplaren von Australopithecus und Paranthropus als dem Homo sapiens ähneln. Schaut man die verschiedenen Strategien an, mit denen sich die einzelnen Formen an die Gegebenheiten angepasst haben - was man bis zu einem gewissen Grad aus Körpergröße und -form, Fortbewegung, Entwicklung, Kieferapparat und Ernährung ableiten kann - zerfallen die frühen Hominiden in zwei Gruppen: die erste Gruppe (Australopithecinen und die beiden Formen "Homo" habilis und "Homo" rudolfensis) ist aufgrund der relativ kleineren Körpermasse, kletternder Fortbewegung und ihrer Körperform an geschlossene Lebensräume (Bewaldung) angepaßt. Zudem spielten größere Kaukräfte bei ihrer Ernährung eine Rolle und ihre Individualentwicklung verlief affenähnlich. Die zweite Gruppe scheint aufgrund ihrer menschlichen Körpergröße und -form, ihres aufrechten Ganges, und einer Ernährung, für die geringere Kaukräfte aufgebracht werden mußten, eher für offene Lebensräume geeignet. Zur letzteren Gruppe gehörten Homo ergaster, H. erectus, H. heidelbergensis, H. neanderthalensis und H. sapiens (Homo antecessor u.a. werden in ihrer Arbeit nicht als eigene Form aufgeführt). Aus diesen Resultaten muß gefolgert werden, daß "Homo" rudolfensis und "Homo" habilis aus der Gattung Homo ausgegliedert und als neues Taxon in die heterogene Ansammlung australomorpher Gattungen aufgenommen werden müssen. Früher schon publizierte Vermutungen der Autorin, daß diese frühen Formen in den weiteren Radiationskreis der Australomorphen gehören könnten, wurden somit von unabhängiger Seite bestätigt. Wood & Collard schlagen vor, beide Formen vorläufig in die Gattung Australopithecus aufzunehmen. Auch wenn dadurch die Wissenschaftler wiederum vor Probleme gestellt werden könnten, erscheint dies als ein sinnvoller Schritt mit möglicherweise weitreichenden Konsequenzen. Die Reklassifizierung trägt auch einiges zur Klarheit evolutiver Postulate bei. Durch die Ausgliederung von "Homo" habilis aus der Gattung Homo erscheint die Lücke zwischen den recht affenähnlichen Australomorphen und den Menschen größer: "Homo" habilis, ursprünglich ein bedeutendes Bindeglied, hat inmitten der vielgestaltigen australopitheciden Morphologien viel von seinen spezifischen und früher diagnostisch bedeutsamen Konturen verloren. Zudem müssen jetzt völlig neue Szenarien der Evolution - vor allem des aufrechten Ganges - erdacht und mögliche Morphologien sogenannter Zwischenformen entworfen und durchgespielt werden. Der durch die Revision entstandene Artname - Australopithecus habilis - war schon in den 60er und 70er Jahren wiederholt vorgeschlagen worden. Es gibt nichts Neues unter dieser Sonne, der Kreis hat sich geschlossen, eine Ära ist vorbei. |
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