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Entstehung von Urzellen – Rätsel endlich gelöst?

von Boris Schmidtgall

Studium Integrale Journal
26. Jahrgang / Heft 1 - April 2019
Seite 52 - 55


Zusammenfassung: Die Frage nach dem Ursprung des Lebens zu beantworten gilt als eines der attraktivsten Ziele der gegenwärtigen Forschung. Nun berichtet die Forschungsgruppe um Dora Tang, einen „Schlüsselschritt“ in diesem Bereich getan zu haben. Die Wissenschaftler untersuchten die Aufnahme von RNA-Molekülen durch synthetische Mikrotröpfchen und die katalytische Aktivität bestimmter RNA-Moleküle innerhalb dieser Tröpfchen. Die Arbeit verdeutlicht, dass für die Konstruktion synthetischer Imitate von biologischen Organellen der Einsatz von intelligenter Planung und experimentellem Geschick unverzichtbar sind. Ein tatsächlicher Bezug zur Frage nach dem Ursprung des Lebens ist in den Resultaten der Arbeit dagegen nicht zu erkennen.




Einführung

Überraschenderweise wurde kürzlich in der Sächsischen Zeitung gemeldet, dass „Dresdner Forscher einen Ursprung des Lebens gefunden“ hätten. In dem Artikel wurde verheißungsvoll berichtet, die Wissenschaftler seien „erheblich weiter gekommen, eines der größten Rätsel zu lösen“. Die euphorisch geschriebene Schlagzeile nahm Bezug auf eine Meldung des Max-Planck-Instituts in Dresden. Auf der Internet-Seite dieser wissenschaftlichen Einrichtung lautete die entsprechende Überschrift allerdings schon etwas vorsichtiger: „Dem Ursprung des Lebens auf der Spur“. Die Kommentare lesen sich so, als habe es einen wissenschaftlichen Durchbruch in der Frage nach dem Ursprung des Lebens gegeben. Dies wäre außergewöhnlich, denn nicht wenige Kenner dieser Thematik attestierten den bisherigen Bemühungen im Bereich der Lebensursprungsforschung, praktisch seit den Anfängen der Disziplin auf der Stelle zu treten. Besonders deutlich formulierte es zuletzt der Biochemiker Franklin M. Harold (2014): „Bisher scheinen wir der Erleuchtung kaum näher gekommen zu sein als A. I. Oparin oder J. B. S. Haldane.“1 Sind also die euphorische Berichterstattung in den populärwissenschaftlichen Texten und die Einschätzung der Arbeit durch die Autoren als „Schlüsselschritt“ auf dem Weg zu einem plausiblen Modell der Lebensentstehung gerechtfertigt? Welche wissenschaftlichen Befunde liegen den Meldungen zugrunde?

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Koazervate als Ursprung des Lebens – erneutes Aufgreifen einer alten Idee
Abb. 1: Linke Seite: Strukturformeln der zur Herstellung von Koazervaten verwendeten Polymere. Rechte Seite: Schematische Darstellung der Synthese von Koazervaten aus den entgegengesetzt geladenen Polymeren.

Die Berichte bezogen sich auf eine kürzlich veröffentlichte Arbeit der Forschungsgruppe um Dora Tang (Drobot et al. 2018). Dort wurde die katalytische2 Aktivität bestimmter RNA-Moleküle im Zusammenspiel mit synthetisch hergestellten Koazervaten untersucht (Abb. 1). Als Koazervate werden tröpfchenartige Ansammlungen großer Moleküle (hier: Polymere) in wässriger Lösung bezeichnet. Aufgrund der winzigen Maße dieser Tröpfchen (ca. 2 µm Durchmesser; das sind 0,002 mm) nennt man sie auch Mikrosphären. Die Mikrosphären können sich spontan in einer wässrigen Lösung bilden, vergleichbar mit dem Vorgang der Trennung von Öl und Wasser in zwei Phasen. Schon Oparin (1938 Russisch, 1949 Deutsch) vermutete, dass diese winzigen molekularen Agglomerate Vorläufer der ersten Zellen im Sinne einer Entwicklung von unbelebter Materie hin zu ersten Zellen gewesen sein könnten. Auch heute noch wird diese Vermutung aufrechterhalten (Online-Lexikon Spektrum), da Tröpfchen aus Proteinoiden3 von ihrer Größenordnung her Bakterien ähneln, zur spontanen Teilung fähig sind und in manchen Fällen katalytische Eigenschaften aufweisen (Esterase, Peroxidase, ATPase). Erst vor kurzem wurden auch aus Proteinen bestehende kleine Organellen in Zellen ausfindig gemacht, die aufgrund ihrer Eigenschaften ebenfalls als Koazervate bezeichnet werden können (Uversky 2017).

Die zweite wichtige Komponente, die in den Experimenten der Forschungsgruppe zum Einsatz kam, waren bestimmte RNA-Moleküle. Weil sie sowohl als Erbsubstanz als auch als Reaktionsbeschleuniger (enzymatische Wirkung) fungieren können, gelten RNA-Moleküle ebenfalls als vielversprechende Kandidaten in Bezug auf hypothetische Szenarien der Entstehung erster Organismen („RNA-Welt“).

Die Autoren beobachteten, dass die künstlichen Mikrotröpfchen RNA-Moleküle aus der Umgebung aufnehmen. Dies führt dazu, dass im Innern der Koazervate die RNA 50 Mal höher konzentiert ist als in der Umgebung. Dabei war die Verweildauer der RNA-Moleküle in den Tröpfchen abhängig von der Länge der RNA-Moleküle. Je länger die RNA-Moleküle, desto länger verblieben sie innerhalb der Tröpfchen. Kurze RNA-Moleküle bewegten sich dagegen rasch von einem Tröpfchen zum nächsten. Diesen Befund werteten die Forscher als Beleg für einen möglichen präbiotischen4 Stofftransport und eine räumliche Trennung (Kompartimentierung) von RNA-Molekülen – beides Vorgänge, die für Zellverbände unverzichtbar sind.

Weitere Untersuchungen legten nahe, dass die Effizienz katalytisch wirksamer RNA-Moleküle innerhalb der Mikrotröpfchen moderat erhöht war. Als katalytisch aktives Molekül wurde dabei das Hammerhead-Ribozym5 eingesetzt, dessen Aktivität im biochemischen Kontext darin besteht, die Spaltung anderer RNA-Moleküle oder deren erneutes Zusammenfügen (Ligation) zu beschleunigen (Abb. 2). Bei den Versuchen wurde allerdings nur die Spaltung von RNA-Molekülen nachgewiesen. Die Autoren interpretierten ihre Befunde als eine mögliche Lösung für das Problem der geringen Konzentration lebenswichtiger RNA-Moleküle in einer hypothetischen RNA-Welt. Sie betrachten ihre Ergebnisse sogar als „Schlüsselschritt zur Versöhnung einer primitiven RNA-Katalyse mit dem Prototyp einer selektiven Kompartimentierung (Unterteilung)“.

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Der Bezug zur wirklichen Biochemie fehlt
Abb. 2: Schematische Darstellung der katalytischen Spaltung von RNA-Molekülen durch das Hammerhead-Ribozym in Koazervaten.

Bei einer ersten Betrachtung der geschilderten Experimente von Tang und Mitarbeitern fällt auf, dass das chemische System, welches für die experimentelle Untersuchung des Modells genutzt wird, hochgradig artifiziell ist. Bei allen Versuchen wurde eine ganze Reihe typischer Laborchemikalien (z. B. Tris-HCl, speziell gereinigtes Wasser u. v. m.) verwendet, die in biologischen Systemen nicht auftreten bzw. nicht verfügbar sind. Das enzymatisch aktive RNA-Molekül (Hammerhead-Ribozym) wurde stets als gegeben vorausgesetzt und im Verhältnis zum jeweils zu spaltenden RNA-Molekül in doppelter Menge eingesetzt. Die Labilität von RNA in wässrigen Medien ist jedoch hinlänglich bekannt, weswegen ihr Vorhandensein nicht einfach vorausgesetzt werden kann.

Das untersuchte chemische System ist hochgradig künstlich und die Mikrotröpfchen unterscheiden sich grundlegend von biologischen Organellen.

Auch die Mikrotröpfchen waren alles andere als passende Analoga biologischer Organellen. In Organismen vorkommende Mikrotröpfchen bestehen hauptsächlich aus intrinsisch unstrukturierten Proteinen6 (Uversky 2017), welche oft anspruchsvolle Kombinationen verschiedener biochemischer Funktionen aufweisen und eine deutlich andere Struktur haben als die Komponenten der künstlichen Koazervate. Die künstlichen Mikrotröpfchen wurden weder aus Proteinen noch aus Proteinoiden hergestellt (was zumindest eine gewisse Ähnlichkeit mit natürlichen Organellen bedeutet hätte), sondern aus zwei verschiedenen Sorten von synthetischen Polymeren, die über gegensätzliche elektrische Ladungen verfügen. Bei dem einen Typ von Polymer handelt es sich um ein Natrium-Carboxymethyl-Dextran, ein durch aufwändige Laborverfahren mit vielen negativen Ladungen versehener Polyzucker. Das andere Polymer ist ein Poly-Lysin, also ein Kettenmolekül, das ausschließlich aus der bei pH 7 positiv geladenen Aminosäure Lysin gebildet worden ist. Schlussfolgerungen von diesen künstlichen Mikrotröpfchen auf membranlose Organellen, die in Organismen wichtige biologische Funktionen ausführen, wirken daher unbegründet. Zudem sind membranlose Organellen in Zellen hochgradig reguliert und bedürfen exakt eingestellter Bedingungen (pH, Temperatur, Konzentration), sodass sie als Komponenten eines frühen Stadiums der molekularen Evolution ohnehin nicht plausibel sind.

Es ist hier also durchaus angemessen, in Bezug auf die Experimente von Tang von Mikrotröpfchen-Design zu sprechen, denn es wurden gezielt gegensätzlich geladene Polymere verwendet, um durch elektrostatische Anziehungskräfte molekulare Tröpfchen zu erzeugen. Die Zusammensetzung der Mikrotröpfchen aus negativ geladenen und positiv geladenen Polymeren erklärt auch die erhöhte Aufnahme von RNA-Molekülen, da sie wegen ihrer vielfachen negativen Ladung von den positiv geladenen Poly-Lysin-Einheiten angezogen werden – das gilt natürlich für längere RNA-Moleküle in höherem Maße als für kürzere. Es ist deswegen auch nicht überraschend, dass größere RNA-Moleküle in den synthetischen Mikrotröpfchen eine höhere Verweildauer aufweisen als kürzere. Und die „Wanderung“ kleiner RNA-Moleküle von einem Tröpfchen zum nächsten ist eine natürliche Konsequenz ihrer kurzen Verweildauer in den Mikrotröpfchen. Darin eine plausible Simulation eines urtüm-lichen biochemischen Stofftransports zu sehen, ist keineswegs zwingend. Die Experimente ergaben die berichteten Resultate, weil sie genau darauf konzipiert worden waren.

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Das Konzept der Arbeit ist fragwürdig

Zum Schluss weisen die Autoren darauf hin, dass ausschließlich Spaltungsvorgänge von RNA-Molekülen Gegenstand der Untersuchungen waren. Dagegen wäre für die Erforschung von Mechanismen der molekularen Evolution vielmehr der Aufbau genetischer Komplexität durch das Zusammenfügen von kleinen RNA-Molekülen von Interesse. Hierfür wäre anstelle des nukleolytischen Hammerhead-Enzyms eine Ligase als enzymatisch aktives Makromolekül einzusetzen. Diese Feststellung klingt nachvollziehbar. Allerdings stellt man sich als Leser die Frage, warum die Forscher diesen Versuch nicht schon durchgeführt und die Ergebnisse im Rahmen der vorliegenden Publikation geschildert haben. Ein möglicher Grund hierfür ist die Komplexität von Ligasen. Im Unterschied zu den relativ kleinen Hammerhead-Ribozymen handelt es sich bei Ligasen um mittelgroße Proteine (ca. 500–700 Aminosäuren), die für ihre Aktivität auf Cofaktoren (z. B. ATP) angewiesen sind. Experimente mit der Beteiligung solcher Enzyme könnten überhaupt nicht mehr unter der Bezeichnung „präbiotische Chemie“ geführt werden.

Es wäre durchaus wünschenswert, dass die Gruppe um Tang künftig Experimente in Angriff nähme, bei denen der Aufbau genetischer Komplexität unter plausiblen präbiotischen Bedingungen im Mittelpunkt steht. Doch angesichts der anspruchsvollen experimentellen Bedingungen, die bereits nötig waren, um den Abbau von RNA durch einfache Ribozyme in Mikrosphären zu verwirklichen, erscheint die Perspektive auf ein analoges Experiment zum Aufbau genetischer Komplexität unter plausiblen präbiotischen Bedingungen nicht gerade vielversprechend. Dies gilt noch viel mehr für die Simulation eines annähernd realistischen minimalen Organismus, in welchem Aufbau- und Abbauprozesse biochemischer Makromoleküle zeitgleich realisiert sind. Die Ergebnisse der Gruppe um Tang sind also ein weiterer Beleg dafür, dass der Design-Ansatz für die Nachahmung biochemischer Funktionseinheiten notwendig und fruchtbar ist. Dies weist erneut darauf hin, dass es vernünftig ist, auf einen intelligenten Schöpfer als Erzeuger der Lebewesen zu schließen.

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Anmerkungen

1 Haldane und Oparin zählen zu den Gründungsvätern der experimentellen Erforschung der Frage nach dem Lebensursprung. Sie forschten hauptsächlich in der Zeit der 1920er- bis 1940er-Jahren.

2 Katalyse: Beschleunigung chemischer Reaktionen.

3 Protein-ähnliche Polymere, die nicht aus der Biosynthese, sondern unspezifisch, rein chemisch erhalten wurden.

4 Präbiotisch: vor der Existenz echter Organismen.

5 Es handelt sich dabei um einen Typ von einem kleinem RNA-Molekül (ca. 50 Nukleotide), der in Lebewesen weit verbreitet ist.

6 Proteine ohne beständige dreidimensionale Struktur.

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Literatur

Drobot B et al. (2018)
Compartmentalized RNA catalysis in membrane-free coacervate protocells. bioRxiv 273417; doi: https://doi.org/10.1101/273417.
Harold FM (2014)
In search of cell history. The University of Chicago Press, S. 165.
Oparin AI (1938)
Die Entstehung des Lebens auf der Erde. Leipzig 1949.
Online-Lexikon Spektrum, Koazervate
https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/koazervate/36520, abgerufen am 16. 10. 18
Uversky VN (2017)
Intrinsically disordered proteins in overcrowded milieu: membrane-less organelles, phase-separation and intrinsic disorder, Curr. Opin. Struct. Biol. 44, 18–30.


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