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Neuigkeiten über alte Vögel

von Reinhard Junker

Studium Integrale Journal
26. Jahrgang / Heft 1 - April 2019
Seite 47 - 50


Zusammenfassung: Eine Reihe von Merkmalen an neu entdeckten fossilen Vögeln, die evolutionstheoretisch an die Basis des mutmaßlichen Vogelstammbaums gestellt werden, sind unerwartet und bestätigen, dass bereits an der Basis der Gegenvögel und der Ornithuren auch „moderne“ Vogelmerkmale ausgebildet waren. Eine beachtliche Vielfalt tritt relativ abrupt fossil in Erscheinung.




Archaeorhynchus spathula
Abb. 1: Künsterische Darstellung von Archaeorhynchus spathula, der etwas größer als eine Taube war.(© Brian Choo)

Eine bemerkenswerte Entdeckung wurde beim Ornithuromorphen Archaeorhynchus spathula gemacht. Die Ornithuromorphen („Vogelschwänze“) sind diejenige Vogelgruppe, zu der auch die heutigen Vögel gerechnet werden. Fossil sind sie in erheblicher Verschiedenartigkeit seit der Unterkreide überliefert. y aus der Unterkreide Chinas (Jehol-Formation, auf 120 Millionen radiometrische Jahre datiert) war etwa so groß wie ein Star (Abb. 1) und wird aufgrund von Skelettmerkmalen als „basal“ eingestuft. Dennoch besaß diese Art auch eine Reihe „moderner“ Vogelmerkmale: einen zahnlosen Schnabel, einen Brustbeinkiel, die Form der Furkula und asymmetrische Federn. Bemerkenswert ist die Erhaltung von Weichgewebe, die Wang et al. (2018a) als fossilisierte Lungen interpretieren. Aus den fossilen Resten schließen sie, dass die Lunge „sehr ähnlich der Lunge heutiger Vögel“ war. Die Spezialisierungen der Lunge wie das stark unterteilte Parenchym seien „modern“; manche Strukturen ähneln nach ihrer Einschätzung Parabronchien (das sind sehr feine Kapillaren in den Lungen heutiger Vögel). Diese Merkmale deuteten darauf hin, dass die für den Kraftflug erforderliche Sauerstoffmenge aufgenommen werden konnte. Der fossile Befund zeige weiter, dass die Lunge wie bei heutigen Vögeln direkt an der Wand der Hohlräume befestigt war, was die Lunge praktisch unbeweglich machte, wie das auch bei heutigen Vögeln der Fall ist. Diese Fixierung macht es möglich, dass das Parenchym in extrem feine Kapillaren unterteilt werden kann, ohne dass das Gewebe kollabiert, was eine große Atemwegsfläche und die Ausbildung einer extrem dünnen Blut-Gas-Barriere ermöglicht (Wang et al. 2018a, 11559).

Ungewöhnlich sind auch Merkmale des Schwanzes. Zusätzlich zu den gewöhnlichen Schwanzfedern ragen zwei besonders lange, schmale Schwanzfedern über den Rest der Federn hinaus (als „pintail“ bezeichnet). Bei Kreidevögeln war dieser Federtyp bisher nicht bekannt, kommt aber bei heutigen Vögeln wie bei einigen Kolibriarten vor.

Bewertung. Insgesamt weist Archaeorhynchus ein ausgeprägtes Merkmalsmosaik auf, das kaum in eine evolutionäre Übergangsstellung passt. Einmal mehr zeigt sich, dass Erfordernisse für das Fliegen – hier vogeltypische leistungsfähige Lungen – nahe der Basis der fossilen Überlieferung nachweisbar sind.

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Orienantius ritteri

Die zweite Art, die hier vorgestellt werden soll, wird zur neu entdeckten Gattung Orienantius aus der Gruppe der Gegenvögel (Enantiornithes) gestellt. Sie gehört zu den geologisch ältesten Gegenvögeln (Huajiying-Formation Chinas, auf 131 Millionen radiometrische Jahre datiert). Auch bei diesem Fund sind Weichteile fossil erhalten, nämlich Teile der Flughäute (Patagien). Die Autoren schreiben (S. 16): „Die Morphologie der konservierten Weichteile zeigt, dass die für die Flügel moderner Vögel charakteristischen Hauptpatagien (Propatagium, Postpatagium und Metapatagium) bereits bei den frühesten bekannten Enantiornithinen vorhanden waren.“ Ihre Ausprägung deutet darauf hin, dass diese Vögel sehr gut manövrieren und abwechselnd flattern und gleiten konnten, heutigen kleinen und mittelgroßen Vögeln vergleichbar (Liu et al. 2018, 17).

Die für die Flügel moderner Vögel charakteristischen Flughäute waren bei den frühesten bekannten Gegenvögeln vorhanden.

Die Forscher konnten außerdem nachweisen, dass die erhaltene Kontur der Muskulatur des Beines identisch mit der von modernen Vögeln ist; die Weichteile um die Fußknochen deuten darauf hin, dass die Füße von Orienantius ritteri keine Hauptmuskeln hatten, was die Situation bei heute lebenden Vögeln widerspiegelt (Liu et al. 2018, 16).

Bewertung. Auch im Fall von Orienantius zeigt sich, dass eine gute Flugfähigkeit, aber auch andere vogeltypische Merkmale innerhalb der Gegenvögel, von Anfang an – bei den geologisch ältesten Formen – ausgeprägt sind. Liu et al. (2018, 18) kommen zum Schluss, dass dieses neue Taxon zahlreiche Merkmale aufweist, die für spätere Taxa typisch sind, und dass die Gegenvögel bereits bei ihrem frühesten Auftreten in der Fossilüberlieferung ein signifikantes Ausmaß an taxonomischer Differenzierung aufweisen.

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Jinguofortis

Als Beispiel für eine „chaotisch“ verlaufene Evolution (Min Wang1) wird die ebenfalls im Jahr 2018 beschriebene etwa krähengroße fossile Art Jinguofortis perplexus (Abb. 2) genannt. Ihre systematische Stellung ist nicht klar bestimmt. Wie heutige Vögel besaß sie ein Pygostyl (verschmolzene Schwanzwirbel) und damit einen Fächerschwanz. Ein weiteres ausgesprochen „modernes“ Merkmal sind die stark reduzierten Finger.

Abb. 1: Rekonstruktion von Jinguofortis perplexus. (© Chung-Tat Cheung)

Neben vogeltypischen Merkmalen kommen aber auch Merkmale vor, die sonst bei Theropoden-Dinosauriern bekannt und vogeluntypisch sind. Dazu gehören Krallen an den Fingern der Flügel, eine bumerangförmige, vermutlich starre Furkula (Gabelbein), ein Kiefer mit winzigen Zähnen und ein verschmolzener Schultergürtel (Schulterblatt und Rabenbein). Da letzteres Merkmal ungünstig für das Fliegen erscheint, weil es die Flexibilität für den Schlagflug einschränkt, erhielt die Art ihren Artnamen „perplexus“. Nichtsdestotrotz waren die breiten, kurzen Flügel von Jinguofortis typisch für Vögel, die gut zwischen Bäumen manövrieren können. Vielleicht war eine bisher unbekannte Art des Fliegens verwirklicht. Bei heutigen Vögeln ist eine vergleichbare Fusion der beiden Schultergelenksknochen nur bei flugunfähigen Formen bekannt. Dass auch Jinguofortis sekundär flugunfähig war, scheint jedoch eher unwahrscheinlich, zumal die Schwungfedern ausgeprägt asymmetrisch waren (Wang et al. 2018b, 10710).

Der verschmolzene Schultergürtel ähnelt zwar der Situation bei einigen Theropoden-Dinosauriern, trotzdem eignet sich dieses Merkmal nicht als Beleg für eine stammesgeschicht­liche Verbindung von Dinosauriern und Vögeln, weil bei Archaeopteryx diese beiden Knochen nicht verschmolzen waren.

Der Besitz von Zähnen ist bei mesozoischen Vögeln verbreitet, und auch bezüglich dieses Merkmals ist die Ausprägung bei Jinguofortis evolutionstheoretisch nicht gut passend. Denn bei Jinguofortis waren Prämaxilla und Maxilla bezahnt, während bei Archaeopteryx und den Ornithothoraces (= Enantiornithes + Ornithurae) die Spitze der Prämaxilla und bei Jeholornis die ganze Prämaxilla zahnlos war. Daher müsste bezüglich dieses Merkmals evolutionstheoretisch eine Rückentwicklung bzw. wie beim Schultergürtel eine Art evolutionärer Zickzackkurs angenommen werden, was allgemein als unplausibel gilt.

Bewertung. Wang et al. (2018b, 10708) bemerken, dass Jinguofortis die bekannte Diversität früher Vögel vergrößere, und vermuten, dass Entwicklungs-Plastizität eine wichtige Rolle dabei spielte und dass die mutmaßliche Evolution mosaikartig verläuft. (Plastizität ist die Fähigkeit, Merkmale je nach Umwelteinflüssen unterschiedlich auszuprägen, und hat mit Evolution an sich nichts zu tun.) Die Jinguofortisidae trügen zum verbreiteten Vorkommen von Mosaik-Evolution bei (Wang et al. 2018b, 10710). Brusatte spricht von Experimentierung.1

„Mosaik-Evolution“ und „Experimentierung“ sind Fremdkörper in einem evolutionären Szenario.

Doch sowohl Mosaik-Evolution als auch Experimentierung sind Fremdkörper in einem evolutionären Szenario. Denn Experimentierung ist ein zielgerichteter Vorgang; der Begriff verschleiert einen evolutionstheoretisch unerwarteten Befund. Die Merkmalsverteilung passt nicht in ein hierarchisches eingeschachteltes System; daher müssen in großem Maße Konvergenzen angenommen werden, was als „Mosaik-Evolution“ bezeichnet wird. Aber warum und auf welchem Wege gelangt ein natürlicher, zukunftsblinder evolutionärer Prozess vielfach unabhängig zu ähnlichen Konstruktionen? Zudem ist das Merkmalsmosaik so gestaltet, dass es insgesamt nicht als evolutionäre Übergangsform passt, sondern eine eigene evolutive Linie angenommen werden muss.

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Anmerkung

1 https://www.nationalgeographic.com/science/2018/09/news-new-species-fossil-bird-dinosaurs-flight-evolution-paleontology.

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Literatur

Liu D, Chiappe LM, Zhang Y, Serrano FJ & Meng Q (2018)
Soft tissue preservation in two new enantiornithine specimens (Aves) from the Lower Cretaceous Huajiying Formation of Hebei Province, China. Cretaceous Res. (2018), doi: https://doi.org/10.1016/j.cretres.2018.10.017.
Navalón G, Marugán-Lobón J, Chiappe LM, Sanz JL & Buscalioni A (2015)
Soft-tissue and dermal arrangement in the wing of an Early Cretaceous bird: Implications for the evolution of avian flight. Sci. Rep. 5:14864.
Wang X, O’Connor JK, Maina JN, Pan Y, Wang M, Wang Y, Zheng X & Zhou Z (2018a)
Archaeorhynchus preserving significant soft tissue including probable fossilized lungs. Proc. Natl. Scad. Sci. 115, 11555–11560.
Wang M, Stidham TA & Zhou Z (2018b) A
new clade of basal Early Cretaceous pygostylian birds and developmental plasticity of the avian shoulder girdle. Proc. Natl. Acad. Sci. 115, 10708–10713.


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