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Schnelle parallele Anpassung nach Inselbildung

von Daniel Vedder

Studium Integrale Journal
25. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2018
Seite 52 - 54


Zusammenfassung: Fünfzehn Jahre nach Errichtung eines Stausees in Brasilien haben sich Geckos auf den Inseln des neu entstandenen Sees in Verhalten und Körperbau an ihre neue Umgebung angepasst. Sie fressen nun größere Beutetiere und haben dafür relativ zur Körperlänge größere Köpfe.


Inhalt
•  Einleitung
•  Diskussion
•  Literatur


Einleitung

Im Oktober 1996 wurde im brasilianischen Bundesstaat Goiás der Stausee Serra da Mesa fertiggestellt (Abb. 1, 3). Durch die Flutung der flussaufwärts liegenden Täler entstand im Laufe der folgenden zwei Jahre das größte künstliche Wasserreservoir des Landes, wobei sich knapp 300 neue Inseln aus ehemaligen Hügelkuppen bildeten. Durch dieses Großbauprojekt änderten sich innerhalb kürzester Zeit die Lebensbedingungen auf diesen Inseln markant, da die meisten von ihnen zu klein waren, um die bisherige lokale Artenvielfalt zu erhalten.

Abb. 1: Der Ort des Geschehens: Lago de Serra da Mesa, Goiás / Brasilien. (Felipe Venâncio - Flickr; CC BY 2.0)

Was für die Natur ein massiver Eingriff war, stellte jedoch für Wissenschaftler einen echten Glücksfall dar. Denn Inseln genießen in der biologischen Forschung einen hohen Stellenwert: Sie weisen nicht nur viele ökologische Besonderheiten auf, sondern eignen sich auch durch ihre geringe Größe und Isolation gut für Untersuchungen. Die Entstehung dieser neuen Inseln mitverfolgen zu können und zu dokumentieren, wie die Natur darauf reagiert, war für Ökologen also eine einmalige Gelegenheit.

Das Bild kann online nicht zur Verfügung gestellt werden.
Abb. 2: Der Gecko Gymnodactylus amarali, hydrolektrischer Damm Serra da Mesa, Goiás,Brasilien. (© Guilherme Santoro, Universidade de Brasília)

Eine Forschergruppe, die diese Gelegenheit nutzte, hat nun einen Artikel über ihre Beobachtungen veröffentlicht (Eloy de Amorim et al. 2017). In ihrer Studie untersuchten sie die in der Region endemische (d. h. nur dort vorkommende) Geckoart Gymnodactylus amarali (Abb. 2). Diese kleinen Eidechsen, die nur zwei bis fünf Zentimeter groß werden (ohne Schwanz), sind in ihrer Ernährung auf Termiten spezialisiert. Während sie die Fauna der Gegend beobachteten, hatten die Forscher entdeckt, dass auf einigen der neuen Inseln alle größeren Eidechsenarten ausgestorben waren. Somit war G. amarali die einzig verbleibende Art, die auf diesen Inseln noch Termiten fraß.

Aufgrund dieser neuen Situation und ausgehend von aktuellen ökologischen Theorien stellte die Arbeitsgruppe nun zwei Hypothesen auf. Die erste Hypothese besagte, dass die Geckos durch das Verschwinden der konkurrierenden Arten eine sogenannte Nischenexpansion erfahren sollten. Das würde sich dadurch bemerkbar machen, dass die Geckos auf den Inseln größere Termiten fressen würden als ihre Artgenossen auf dem Festland (unter der Annahme, dass die größeren Konkurrenten auf dem Festland den Geckos am ehesten die großen Termiten wegfressen). Die zweite Hypothese ging einen Schritt weiter und betrachtete die morphologischen Konsequenzen einer solchen Nischenexpansion.

Insel-Geckos fressen nicht nur größere Termiten, sondern haben auch überproportional große Köpfe – eine Bestätigung der Vorhersagen.

Um effizient größere Beutetiere fressen zu können, brauchen die Geckos größere Köpfe. Das könnte dadurch geschehen, dass die Tiere insgesamt größer werden. Größere Körper sind jedoch mit einem höheren Energiebedarf verbunden, der den Gewinn durch die bessere Beute wieder zunichtemachen würde. Deswegen postulierten die Forscher, dass die Geckos auf den Inseln relativ zu ihrer Körpergröße größere Köpfe haben sollten als Geckos auf dem Festland.

Tatsächlich konnten die Forscher beide Hypothesen bestätigen. Ihre Daten zeigen sehr schön, dass die Insel-Geckos nicht nur größere Termiten fressen, sondern auch überproportional große Köpfe haben im Vergleich zu denen auf dem Festland. Diese Veränderungen erfolgten zudem nicht nur einmal, sondern auf allen fünf untersuchten Inseln – und das innerhalb von 15 Jahren.

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Diskussion

Eloy de Amorim et al. liefern ein imposantes Beispiel für schnelle parallele Anpassung. Ihre Studie wurde sauber durchgeführt und erbrachte so eindeutige Daten wie nur selten in der Ökologie. Bemerkenswert ist auch die Kombination aus Verhaltensantwort und morphologischer Anpassung, die sie beobachten konnten.

Abb. 3: Die Lage des Lago de Serra da Mesa im Inneren Brasiliens. M1, M2, M3, M4 und M5 sind die Lokalitäten auf dem Festland; I34, I35, I37, I38 und IX sind die Lokalitäten auf den untersuchten Inseln. (Große Karte: CC BY-SA 3.0; Ausschnitt nach Eloy de Amorim et al., 2017, online-Material)

Für weiterführende Studien wären zwei Fragen von Interesse. Die erste betrifft die beobachtete Nischenexpansion, die zweite den genauen Mechanismus der morphologischen Anpassung.

Nischenexpansion ist ein Konzept, das in der Ökologie schon lange diskutiert wird. Unter der ökologischen Nische einer Art versteht man die Bedingungen, unter denen diese Art vorkommt. Dabei unterscheidet man zwischen der fundamentalen und der realisierten Nische. Die fundamentale Nische sind alle abiotischen Umweltbedingungen wie Temperatur oder Niederschlag, unter denen eine Art leben könnte. Die realisierte Nische sind jene Bedingungen, unter denen sie tatsächlich vorkommt, da die meisten Arten aus Gründen wie Konkurrenz- oder Räuberdruck nicht ihr volles Potenzial ausschöpfen können. Verschwinden nun aus irgendeinem Grund die Konkurrenten einer Art (wie in der vorliegenden Studie), sollten die Individuen dieser Art dadurch in der Lage sein, eine breitere Nische als bisher auszufüllen. Das bezeichnet man als Nischenexpansion.

Die Geckos sind ein imposantes Beispiel für schnelle parallele Anpassung mit einer Kombination aus Verhaltensantwort und gestaltlicher Änderung.

So einleuchtend die Theorie hinter diesem Phänomen auch erscheint, so schwierig ist es jedoch, sie auf eine empirisch solide Basis zu stellen. Zwar wurde die Nischenexpansion schon oft genug beobachtet, doch mindestens genauso häufig findet man sie nicht, obwohl man sie erwarten würde. Schon in den 1970er-Jahren gab es dazu Untersuchungen an Inselvögeln (MacArthur et al. 1972) und später auch an Eidechsen (Losos & de Queiroz 1997), sogar in derselben Region, in der die hier betrachtete Studie durchgeführt wurde (Mesquita et al. 2007). Leider gehen Eloy de Amorim et al. nicht darauf ein, warum sie in diesem Fall eine so deutliche Nischenexpansion vorfanden, während sie anderswo ausblieb. Möglicherweise hat es mit der Kürze der Zeit zu tun: Man geht davon aus, dass sich ökologische Prozesse wie die Nischenexpansion auf einer kürzeren Zeitskala abspielen und daher schneller greifen als evolutionäre Prozesse, später aber von diesen überlagert werden können. Vielleicht führte also der plötzliche und relativ rezente Eingriff des Flutens dazu, dass bislang nur ökologische Prozesse von Bedeutung waren. Das wäre eine denkbare Erklärung, bleibt jedoch vorerst Spekulation. Außerdem spricht dagegen, dass die bisherige klare Aufteilung in ökologische und evolutionäre Zeitskalen in der Fachliteratur immer mehr in Frage gestellt wird (Lallensack 2018), unter anderem aufgrund von Studien mit so schneller Anpassung wie dieser.

Das bringt uns zur zweiten Frage. Eine morphologische Anpassung in nur 15 Jahren (und ebenso vielen Generationen) kommt einem evolutionären Sprint gleich. Zwar hat man so schnelle Evolution schon mehrfach anderswo beobachten können, auch bei Eidechsen (vgl. Heilig 2008; Vedder 2016). Dennoch ist unklar, inwieweit die beobachteten Körperveränderungen der Geckos auf Selektionsprozessen beruhten oder ob sie durch andere Prozesse hervorgerufen wurden, zum Beispiel durch phänotypische Plastizität. Phänotypische Plastizität ist die Fähigkeit von Lebewesen, ihre Morphologie oder Physiologie (= Phänotyp) an die momentanen Umweltbedingungen anzupassen (was ohne Änderung des Erbguts erfolgt). Das ermöglicht ihnen eine deutlich schnellere Anpassung, als es evolutionär möglich wäre. (Für eine ausführlichere Behandlung siehe Junker 2014.) Ähnliche Studien mit Anolis-Eidechsen mussten beispielsweise Plastizität berücksichtigen und explizit untersuchen, da sich ihre Auswirkungen zum Teil nur schwer von Folgen der natürlichen Selektion trennen lassen (Losos et al. 2001; Stuart et al. 2014). Eloy de Amorim et al. erwähnen Plastizität überhaupt nicht. Auch wenn es keine zwingenden Gründe gibt, hier einen anderen Anpassungsmechanismus als die natürliche Selektion zu vermuten, wäre eine experimentelle Bestätigung dieser Annahme doch wünschenswert gewesen.

Trotz der noch offenen Fragen ist die vorliegende Studie ein sehr schönes Beispiel für das Zusammenspiel ökologischer und evolutionärer Dynamiken. Sie stützt nicht nur theoretische Überlegungen zur Nischenexpansion, sondern liefert einmal mehr ein eindrucksvolles Beispiel für schnelle und parallele mikroevolutive Anpassung, eventuell auf der Basis von Plastizität.

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Literatur

Eloy de Amorim M, Schoener TW, Santoro GRCC, Lins ACR, Piovia-Scott J & Brandão RA (2017)
Lizards on newly created islands independently and rapidly adapt in morphology and diet. Proc. Natl. Acad. Sci. 114, 8812–8816.
Heilig C (2008)
Ruineneidechsen: Makroevolution oder Polyvalenz? Stud. Integr. J. 15, 76–88.
Junker R (2014)
Die Plastizität der Lebewesen: Baustein für Makroevolution? W+W Special Paper B-14-2. http://www.wort-und-wissen.de/artikel/sp/b-14-2-plastizitaet.pdf (Zugriff: 1. 3. 2018)
Lallensack R (2018)
Evology. Nature 554, 19–21.
Losos JB & de Queiroz K (1997)
Evolutionary consequences of ecological release in Caribbean Anolis lizards. Biol. J. Linn. Soc. 61, 459–483.
Losos JB, Schoener TW, Warheit KI & Creer D (2001)
Experimental studies of adaptative differentiation in Bahamian Anolis lizards. Genetica 112-113, 399–415.
MacArthur RH, Diamond JM & Karr JR (1972)
Density Compensation in Island Faunas. Ecology 53, 330–342.
Mesquita DO, Colli GR & Vitt LJ (2007)
Ecological release in lizard assemblages of neotropical savannas. Oecologia 153, 185–195.
Stuart YE, Campbell TS, Hohenlohe PA, Reynolds RG, Revell LJ & Losos JB (2014)
Rapid evolution of a native species following invasion by a congener. Science 346, 463–466.
Vedder D (2016)
Invasion einer verwandten Spezies führt zu schneller Divergenz. Stud. Integr. J. 23, 55.


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