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Antiwasserstoff und die Herkunft der Materie im Urknallmodell

von Tobias Holder

Studium Integrale Journal
24. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2017
Seite 35 - 37


Zusammenfassung: Präzise Experimente an Antimaterie erlauben einen detaillierten Einblick in die Symmetrieeigenschaften der Elementarteilchen. Mit diesen Messungen können zum einen die Vorhersagen des Standardmodells getestet werden. Andererseits hofft man, einen plausiblen Mechanismus zur Materieerzeugung kurz nach dem Urknall zu finden, was bisher nicht zufriedenstellend gelingt.




Einführung
Abb. 1: Antipartner und ihre Zerstrahlung. Das Elektron kann beim Zusammenstoß mit seinem Antiteilchen (dem Positron) ausgelöscht werden, wobei die Energie in Licht umgewandelt wird.

Seit mehr als 80 Jahren ist bekannt, dass jeder Baustein der Materie einen fast identischen Gegenpart hat, dessen elektrische Ladung das umkehrte Vorzeichen hat („Anti-“). So gibt es nicht nur Protonen, sondern auch Antiprotonen, genauso Myonen und Antimyonen usw. Das Antiteilchen des Elektrons wurde als Erstes entdeckt und heißt aus historischen Gründen Positron. Eine wichtige Eigenschaft der Materie-Antimaterie-Partner ist, dass sie sich bei einer Kollision jeweils gegenseitig vernichten (annihilieren) und in Strahlung umwandeln (Abb. 1). Diese Eigenschaft wird zum Beispiel bei der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) in der Medizin verwendet, um Molekülkonzentrationen präzise zu vermessen.

Eine äußerst wichtige Frage in der Untersuchung von Materie und Antimaterie ist, ob sich beide Antipartner, Teilchen und Antiteilchen, abgesehen vom Vorzeichen der elektrischen Ladung wirklich komplett gleichen. Historisch gesehen war dies eine wichtige Frage, denn es ist bei weitem nicht selbstverständlich, dass ein Proton zum Beispiel genau dieselbe Masse wie ein Antiproton haben soll. Inzwischen ist bekannt und auch theoretisch verstanden, dass die Antipartner tatsächlich dieselben Massen haben. Dies ist eine Folge des gemeinsamen Mechanismus der Masseerzeugung (Higgs-Mechanismus) (Barnes 2010). Im Falle einer solchen perfekten Übereinstimmung spricht man von einer Symmetrie, die zwischen den Elementarteilchen gilt. Im Laufe der Zeit wurden viele Symmetrien zwischen Antipartnern festgestellt und mit immer höherer Präzision experimentell verifiziert. Dies ist aus zweierlei Gründen bis heute ein aktives Forschungsgebiet.

Elementarteilchen sind nicht asymmetrisch genug.

Zum einen ist es auch im Lichte der modernen Physik nicht selbstverständlich, dass Symmetrien vorliegen: Eine Symmetrie wird in der Natur nur dann realisiert, wenn es überhaupt keine Möglichkeit gibt, durch eine Symmetriebrechung auch nur ein kleines bisschen Energie zu gewinnen. Die Erfahrung zeigt, dass Symmetrien in der Natur häufig gebrochen werden, v. a. wenn es sich um komplizierte Symmetrien handelt.

Ein bekanntes Beispiel für solch eine spontane Symmetriebrechung ist der Stabmagnet, wie er z. B. in einer Kompassnadel benutzt wird. Das Magnetfeld, das der Stabmagnet besitzt, wird dadurch erzeugt, dass die magnetischen Momente der Elektronen in den Eisenatomen spontan in dieselbe Richtung zeigen und so ohne Einfluss von außen die Rotationssymmetrie im Raum zerstören (Abb. 2).

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Symmetrien und Materieerzeugung
Abb. 2: Der Ferromagnet als Beispiel für Symmetriebrechung. a zeigt den magnetisierten Zustand, bei dem die magnetischen Momente der Elektronen im Material in eine Vorzugsrichtung zeigen und so ein makroskopisches Magnetfeld erzeugen. In Zustand b ist diese Ordnung aufgehoben und keine Richtung ist ausgezeichnet: Makroskopisch liegt Rotationssymmetrie in alle Richtungen vor. Der Übergang von Zustand b zu a erfolgt unterhalb einer charakteristischen Temperatur.

Die Symmetrie zwischen Materie und Antimaterie hat viele Facetten, die Partner müssen sich nicht nur im Betrag der Ladung, der Masse und des Drehimpulses gleichen, sondern zusätzlich auch noch mit denselben Wahrscheinlichkeiten in jeweils leichtere Teilchen zerfallen. Es ist daher nicht überraschend, dass Antipartner sich doch nicht in allen Eigenschaften exakt gleichen. Im Folgenden soll der Fokus auf den Symmetrieeigenschaften unter Invertierung der Ladung (C), Spiegelung im Raum (P) und Umkehr der Zeitachse (T) liegen. Hierbei mag die experimentelle Realisierung einer Symmetrieoperation wie Zeitumkehr schwer durchführbar erscheinen, man kann solche exotischen Fälle aber tatsächlich auf etwas so Einfaches wie zum Beispiel ein Magnetfeld zurückführen.

In einigen bahnbrechenden Experimenten in den 1960er-Jahren wurde nachgewiesen, dass die schwache Kernkraft sowohl die C-, P- als auch T-Symmetrie verletzt, und auch Kombinationen wie die CP-Symmetrie. Allein für die Kombination von allen drei Symmetrien (CPT) ist bislang keine Symmetriebrechung nachgewiesen worden. Die Signifikanz dieses Befundes kann nur schwerlich überschätzt werden, da die gesamte moderne Elementarteilchenphysik auf der CPT-Symmetrie aufbaut.

In Abb. 3 ist der zuerst gefundene, P-verletzende Zerfall eines Kaons in Pionen abgebildet. Da in unserem Universum die P-Symmetrie gebrochen ist, erhält man einen nichtidentischen Zustand, wenn alle beteiligten Partner durch ihre Spiegelbilder (P) ersetzt werden. Im Experiment macht sich das dahingehend bemerkbar, dass ein geladenes Kaon in zwei Pionen zerfallen kann, ein sonst verbotener Prozess.

Solche seltenen Zerfallskanäle sind der zweite wichtige Grund, warum die Untersuchung von Unterschieden zwischen Materie und Antimaterie auch noch heute von Bedeutung ist: Ausgehend von den experimentell beobachteten Symmetriebrechungen wurde in den vergangenen Jahrzehnten versucht, dieses Verhalten im Standardmodell der Kosmologie (Urknallmodell) zu berücksichtigen und damit die Herkunft des sogenannten Materieüberschusses zu erklären. „Materieüberschuss“ bedeutet hierbei schlicht, dass das Universum überhaupt Materie enthält.

Die eigentliche Problemstellung ist denkbar einfach: Wenn sich Materie und Antimaterie tatsächlich komplett analog verhielten, so würde sich kurz nach der anfänglichen Singularität (Urknall) die gleiche Menge von Materie und Antimaterie bilden. Zur heutigen Zeit müssten dann Regionen im Weltraum gefunden werden, in denen Sterne, Planeten und ganze Galaxien aus Antimaterie bestehen würden. In der Folge gäbe es dann auch Stellen, an denen sich Materie und Antimaterie treffen und mit charakteristischer Strahlung gegenseitig auslöschen. Da das beobachtbare Universum aber nachweislich keine solchen Regionen aufweist und darum keine Ansammlungen von Antimaterie besitzt, wird eine Symmetrieverletzung als Ursache stark favorisiert. Allerdings müssen zur Erzeugung eines Materieüberschusses im frühen Universum einige Randbedingungen erfüllt werden, insbesondere ist hierzu eine CP-Verletzung zwingend notwendig (Riotto 1998).

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Notwendigkeit weiterer Mechanismen
Abb. 3: P-Verletzung beim Zerfall des K+. Da Kaonen (K) und Pionen (π) dieselben Eigenschaften unter Raumspiegelung P besitzen, darf eigentlich nur der untere Zerfallskanal auftreten, bei dem die Zahl der Teilchen ungerade bleibt (1->3). Da für die schwache Kernkraft aber die P-Symmetrie gebrochen ist, kann selten auch ein Zerfall in zwei Pionen auftreten.

Auch wenn in unserem Universum in der Tat die CP-Symmetrie gebrochen ist, so gilt es in der Zwischenzeit als gesichert, dass die Materieerzeugung mithilfe der bereits bekannten Asymmetrien nicht plausibel ist (Trüb 2006). Die Hindernisse für eine erfolgreiche Erklärung des Materieüberschusses betreffen dabei allesamt Einzelheiten der Zerfallskanäle: Die bekannten Symmetrieverletzungen sind schlicht zu klein, um die im Standardmodell erforderlichen Materiemengen der Elemente Wasserstoff, Helium und Lithium zu produzieren.

In neueren Experimenten sucht man deshalb gezielt nach weiteren symmetrieverletzenden Zerfällen. Ein topaktuelles Beispiel hierfür sind die Messungen der LHCb-Kollaboration am CERN in Genf, die im Januar dieses Jahres veröffentlicht wurden (LHCb collaboration 2017). Darin wird zum ersten Mal eine CP-Verletzung bei Zerfällen von Elementarteilchen bestehend aus drei Quarks dokumentiert.

Eine andere Stoßrichtung ist die Suche nach einer Verletzung der kombinierten Symmetrie CPT. Ein positives Ergebnis hätte geradezu monumentale Konsequenzen für die Teilchenphysik, die Relativitätstheorie und das sehr frühe Universum.

Jüngst gelangte ein derartiges Experiment an Antiwasserstoff in den Fokus der Öffentlichkeit (Ahmadi et al. 2017). Das Autorenkollektiv am CERN vermaß dabei äußerst präzise die Spektrallinien von Antiwasserstoff im Vergleich zu denen von Wasserstoff. Die technischen Schwierigkeiten, die es hierbei zu überwinden gilt, sind enorm. Der Antiwasserstoff muss aus zuvor produzierten und abgebremsten Antiprotonen und Positronen zusammengesetzt werden und dann als elektrisch neutrales Atom lange genug eingeschlossen werden, um eine akkurate Messung zu ermöglichen. In dem neuen Experiment gelang dies viel besser als noch vor wenigen Jahren. Andererseits war ebenso wie in allen vorhergehenden Experimenten in den Emissionslinien des Antiwasserstoffs kein Unterschied zum Wasserstoff erkennbar, woraus die Autoren eine Erhaltung der CPT-Symmetrie mit einer relativen Präzision von mindestens 2x10-10 schlussfolgern.

Die Suche nach Symmetriebrechung wird mit Sicherheit auch in den nächsten Jahren spannend bleiben. Von Seiten der Theorie besteht großes Interesse daran, endlich Hinweise auf neue Physik zu finden, und experimentell hat die Charakterisierung der bestehenden Symmetriebrechungen eine hohe Priorität. Für den Moment bleibt aber die Aussage des Standardmodells bestehen, dass die Materieentstehung in einem Urknallszenario nach wie vor nicht zufriedenstellend erklärt werden kann.

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Literatur

Ahmadi M et al. (2017)
Observation of the 1S–2S transition in trapped antihydrogen. Nature 541, 506-510.
Barnes KJ (2010)
Group theory for the standard model of particle physics and beyond. CRC Press.
LHCb collaboration (2017)
Measurement of matter-antimatter differences in beauty baryon decays. Nature Physics 13, 1745-2481.
Riotto A (1998)
Theories of baryogenesis. In: Gava E et al. (eds) Proc. Summer School in High-energy Physics and Cosmology. World Scientific, S. 326-436.
Trüb P (2006)
Der Ursprung der Baryonenasymmetrie. Ein ungelöstes Rätsel am Schnittpunkt von Kosmologie und Teilchenphysik. Stud. Integr. J. 13, 78-85.


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