Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 23. Jg. Heft 1 - Mai 2016
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Frühmenschen mit modern-menschlichen Fähigkeiten

Paradigmenwechsel in der Ursprungsforschung des Menschen

von Michael Brandt

Studium Integrale Journal
23. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2016
Seite 68 - 74


Zusammenfassung: In den Lehrbüchern zur Evolution des Menschen werden die Frühmenschen als primitiv mit deutlich geringer entwickelten Fähigkeiten gegenüber dem modernen Homo sapiens dargestellt. Neuere Forschungsergebnisse von Schöningen und Bilzingsleben bringen dieses Bild ins Wanken.




Einleitung

Lange Zeit war der Neandertaler als brutaler primitiver Mensch verschrien, der dem modernen Homo sapiens weit unterlegen gewesen sei. Dieses Bild musste aufgrund von Forschungsergebnissen in jüngerer Zeit korrigiert werden. Der Neandertaler wird heute in der Wissenschaft als voll entwickelter Mensch mit zwar archaischem Körperbau, aber modernem Verhalten angesehen (Auffermann & Orschiedt 2002).

Die Frühmenschen werden in den Lehrbüchern zur Evolution des Menschen als primitiv mit deutlich geringer entwickelten Fähigkeiten gegenüber dem modernen Homo sapiens dargestellt. Neuere Forschungsergebnisse erfordern eine Korrektur dieses Bildes. Die archäologischen Entdeckungen des Wildpferdjagdlagers Schöningen mit extrem gut erhaltenen Speeren haben das Bild des Homo heidelbergensis geändert. Dieser Frühmensch war ein hocheffektiver Jäger und verfügte damit offensichtlich über ein differenziertes Verhalten und eine komplexe Sprache, vergleichbar mit den Fähigkeiten des modernen Menschen.

Die Ausgrabungsergebnisse des nur 100 km südlich vom Jagdlager Schöningen gelegenen, nahezu zeitgleichen Siedlungsplatzes Bilzingsleben machen eine weitere Korrektur bisheriger Vorstellungen über die Frühzeit der Menschheit erforderlich. Das bedeutsamste Fundstück von Bilzingsleben ist ein Elefantenknochenstück mit eingravierten regelmäßigen Strichfolgen. Das Knochenartefakt weist auf den Besitz einer differenzierten Sprache und auf die Befähigung zum abstrakten Denken hin. Bei dem Artefakt handelt es sich wahrscheinlich um einen Mondkalender. Im Gegensatz zu Schöningen wurden in Bilzingsleben menschliche Knochenüberreste gefunden. Sie weisen auf den Urmenschen Homo erectus als Schöpfer des Kalenders hin.

Die archäologischen Funde von Schöningen und Bilzingsleben legen nahe, dass die Frühmenschen voll entwickelte Menschen waren.

Abb. 1: Lokalitäten von Schöningen und Bilzingsleben.

Mit der Veröffentlichung der Ausgrabungsergebnisse des Jagdlagers von Schöningen in Niedersachsen (Abb. 1) in einem Sonderband der renommierten Fachzeitschrift Journal of Human Evolution im Dezember 2015 bahnt sich die Korrektur des Bildes eines noch älteren Frühmenschen, des Homo heidelbergensis, an (Conard et al. 2015a). „Die einzigartigen Erhaltungsbedingungen und in hoher Qualität erhaltenen Grabungsfunde haben“ – so schreiben Conard et al. (2015a, S. 1) – „zu einem Paradigmenwechsel oder ‚Schöningen-Effekt‘ in unserer Sicht auf die menschliche Evolution im späten Altpaläolithikum geführt.“ Schöningen zeigt, dass der späte Homo heidelbergensis und die nachfolgenden archaischen Homininen über ein differenziertes Verhalten verfügten. Mit der Veröffentlichung in einer renommierten englischsprachigen Fachzeitschrift ging es den Autoren vorrangig darum, die Ausgrabungsergebnisse von Schöningen einer weltweiten wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Vorher wurden schon zahlreiche valide Forschungsergebnisse von Schöningen in englischsprachigen (z. B. Thieme 1997), insbesondere aber vielen deutschsprachigen Publikationen (z. B. Thieme 2007a) dargelegt.

Es gibt allerdings mit Bilzingsleben (Abb. 1) in Thüringen einen weiteren zeitlich ähnlichen altpaläolithischen Fundplatz in Deutschland, der aber schon eine längere Forschungsgeschichte als Schöningen aufweist. Die Erforscher dieses Fundplatzes sind zu recht ähnlichen Schlussfolgerungen wie die Ausgräber von Schöningen gelangt. Im Gegensatz zu Schöningen fand man in Bilzingsleben auch fossile Überreste der einst dort lebenden Frühmenschen. Die Analyse dieser Knochenüberreste ergab, dass der altpaläolithische Mensch von Bilzingsleben einer anderen Frühmenschenform zuzuordnen ist, als für die Jäger von Schöningen vermutet wird. Bilzingsleben erfordert deshalb die Korrektur des Bildes einer weiteren, fossil noch älteren und im evolutionstheoretischen Kontext noch archaischeren Menschenform als Homo heidelbergensis.

Im Folgenden werden zunächst die Forschungsergebnisse des Jagdlagers von Schöningen dargestellt. Danach wird auf den Siedlungsplatz Bilzingsleben eingegangen.

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Jagdlager Schöningen und neues Bild des Frühmenschen

In dem einleitenden Übersichtsartikel des erwähnten Sonderbandes des Journal of Human Evolution stellen Conard et al. (2015b) fest, dass die Ausgrabungen von Schöningen bedeutende Auswirkungen auf die Debatte um die Evolution geistiger Fähigkeiten, von kooperativem Verhalten, gemeinsamer Nutzung von Ressourcen, Planungstiefe und Evolution der Sprache haben. Die Daten von Schöningen erlauben nach Conard et al. (2015b) Antworten auf diese Fragen.

Abb. 2: Altpaläolithischer Speer, Landkreis Helmstedt. Detail der sehr sorgfältig zugerichteten Spitze von Speer II (Gesamtlänge etwa 2,30 m). Die Speere aus Schöningen (400 000 radio­metrische Jahre v.h.) sind Hochleistungsspeere, für jede Weite geeignet. Jeder Speer ist optimal hergestellt worden. Die Spitze stammt aus dem härtesten Teil des Baumstammes an der Basis. Jeder Speer hat die gleichen Proportionen wie ein moderner Speer mit maximaler Dicke und größtem Gewicht (Schwerpunktzentrum) im vorderen Bereich. Der lange hintere Teil verjüngt sich zum Ende hin. Intensive Planung, ein anspruchsvoller Entwurf und Geduld beim Schnitzen des Holzes waren zur Herstellung der Speere erforderlich. Der europäische Frühmensch hatte offensichtlich Fähigkeiten, die man bisher nur dem modernen Menschen zutraute. (© Dr. Hartmut Thieme, Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege, Hannover, Foto: C. S. Fuchs)

Weltweite Berühmtheit hat Schöningen durch neun geborgene Jagdspeere (Abb. 2) vom Pferdeschlachtplatz erlangt. Die Speere sind in jeder Hinsicht perfekte Waffen. Sie erlauben tiefgreifende Rückschlüsse auf die Hersteller. In Kasten 1 und 2 wird auf die Herstellung und die Flugeigenschaften der Speere ausführlich eingegangen.

Der altpaläolithische Frühmensch von Schöningen verfügte über modern-menschliche Fähigkeiten.

Die Herstellung, der Transport, die Nutzung, die erneute Brauchbarmachung und schließlich die Entsorgung der Speere demonstrieren einen hohen Grad an Planungstiefe. Die geplanten Pferdejagden durch hochkoordinierte Gruppen mit ausgeklügelten Waffen weisen nach Conard et al. (2015b) darauf hin, dass die Frühmenschen von Schöningen, die aufgrund des Alters der abgelagerten Schichten von 300 000-337 000 radiometrischen Jahren (Kasten 3) dem Homo heidelbergensis zugeordnet werden, über eine komplexe Sprache verfügten. Sie waren damit in der Lage, Informationen über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und räumliche Verhältnisse mitzuteilen, die über die unmittelbare Umgebung hinausgehen. Diese Sprachfähigkeiten wurden für den Homo heidelbergensis von Forschern wie Tomasello et al. (2012) bisher bestritten.

Conard et al. (2015b) gehen zwar von einer komplexen Sprache aus, bestreiten aber, dass das linguistische Repertoire des Homo heidelbergensis dem des modernen Menschen vollständig glich. Die Autoren meinen unzweideutige Hinweise auf eine voll moderne menschliche Sprache erst mit der Evolution des modernen Menschen mit gut dokumentierten Hinterlassenschaften symbolischer Artefakte im späten Pleistozän zu haben. Diese voll entwickelte Kommunikationsfähigkeit erklärt nach Conard et al. (2015b) die Ausbreitung des modernen Menschen vor 50 000 radiometrischen Jahren auf der Erde, während vor dieser Zeit vielfältige hominine Taxa auf einem breiten sprachlichen und auch verhaltensmäßigen Spielfeld konkurrierten. Bei dieser Vermutung setzen Conard et al. (2015b) aber bereits voraus, dass sich die Sprache des heute lebenden Menschen im Laufe der menschlichen Evolution graduell entwickelt habe. Gegen die von Conard et al. (2015b) postulierte eingeschränkte Sprachfähigkeit des Homo heidelbergensis gibt es begründete Einwände, wie nachfolgend gezeigt wird.

In Schöningen wurden neun extrem gut erhaltene Speere geborgen. Sie zeigen keine Veränderungen durch den Fossilisationsprozess, obwohl einige Waffen gebrochen und Teile der Speere wahrscheinlich durch Wassereinwirkung leicht verschoben sind.

Die Speere sind sehr sorgfältig durchdacht und gearbeitet. Sie stellen eine hochentwickelte ausgeklügelte Jagdausrüstung dar.

Das bevorzugte Rohmaterial der Speere war das Holz der langsam wachsenden Fichte, die bei trockenem Klima oder anderen unvorteilhaften Bedingungen gedeiht. Das Holz des Stammes der kleinen Bäume ist für die Herstellung von starken harten Speeren ideal geeignet. Die Spitze der Speere stammt nicht aus dem Zentrum des Stammes, weil das Holz außerhalb des Zentrums in der Nähe der Wachstumsringe härter als im weicheren Zentrum ist. Ein Speer wurde mehrmals benutzt. Darauf weist das Nachschärfen der Spitze des Speeres hin.

Die Merkmale der Speere mit schmalen Fichtenstämmen als Rohmaterial, Entfernung der Zweige und Glättung der Oberfläche, Platzierung der Spitze weg vom weichen Zentrum des Stammes und die perfekten Flugeigenschaften (Kasten 2) sind das Ergebnis von Experimentieren, Optimierung und eines Informationsaustausches innerhalb und zwischen den Generationen der Frühmenschen. Der Aufwand von mehreren Stunden Herstellungszeit für die Speere und die Nutzung von schmalen langsam wachsenden Fichtenstämmen als Rohmaterial, die in der nahen Umgebung des Jagdlagers nicht verfügbar waren, sprechen gegen die Vorstellung, dass die Speere unmittelbar im Anschluss an die Entscheidung zu jagen hergestellt wurden. Die Speere wurden lange vorausschauend für einen späteren Einsatz geplant und angefertigt (Conard et al. 2015b, Schoch et al. 2015).

Die Speere von Schöningen wurden nachgebaut und von Speerwerfern unter Leitung von Hermann Rieder untersucht. Rieder war früher selber aktiver Speerwerfer und später Bundestrainer für Speerwerfer des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, u. a. auch Trainer von Klaus Wolfermann, einem ehemaligen Weltrekordler und Olympiasieger von 1972 in München.1

Der Mittelwert der vollständig erhaltenen Speere von Schöningen betrug in der Länge etwa 2,20 m. Die Speere wogen etwa 500 g. Die Speere entsprechen damit fast exakt dem heutigen Damenspeer, der aber 100 g schwerer ist. Studentinnen der Sportwissenschaft der Universität Heidelberg meinten: „Mit diesen Speeren hätten wir in der Prüfung lieber geworfen“ (Rieder 2007, S. 160). Viele ehemalige und noch aktive deutsche Größen im Speerwerfen begutachteten die nachgebauten Speere und waren gleichermaßen fasziniert. In diesem Zusammenhang hörte Rieder (2007, S. 160) öfter den Ausspruch „Das gibt’s ja gar nicht“.

Bei den durchgeführten Wurfversuchen unter Leitung von Rieder (2007) standen drei Fragen im Mittelpunkt:

  • Wie groß ist die Eindringtiefe der geworfenen Speere?
  • Wie weit kann man mit diesen Speeren werfen?
  • Wie gut kann man auf welche Entfernungen mit den Speeren treffen?

Die Eindringtiefe bei Abwurf aus 5 m Entfernung in einen Gelatineblock beträgt zwischen 22,5 und 25,5 cm. Mit dieser Eindringtiefe hätte man Wild sehr gefährlich verletzt (Schoch et al. 2015).

Der Weitwurf hat bei der Jagd damals sicherlich nicht die wichtigste Rolle gespielt, ist heute aber wahrscheinlich der interessanteste Aspekt. Der 70-m-Werfer M. Rau sollte mit 80 % Krafteinsatz und nur fünf Anlaufschritten werfen. Rau erzielte 62 m. Rau wurde gefragt: „Wenn du trainierst und mit voller Kraft wirfst, was traust du dir für eine Weite zu?“ Die Antwort war spontan 100 Meter. Auch der 80-m-Werfer A. Linden traute sich bei Training eine Wurfweite von 100 Metern zu (Rieder 2007, S. 161). Das bedeutet, dass man die Holzspeere heute nicht besser machen kann.

Wie gut kann man auf welche Entfernungen treffen? Heutige Speerwerfer treffen bis 15 m sehr gut, von 15-25 m gut und darüber hinaus schnell abfallend. Allerdings sind die heutigen Speerwerfer im Zielwerfen nicht geübt. Da Zielwerfen aber gut trainierbar ist und im Altpaläolithikum bei der Jagd überlebenswichtig war, dürften unsere Altvorderen wohl bessere Zielwerfer als die heutigen Spitzenwerfer gewesen sein.

Diese Ergebnisse führten dazu, dass im Verlauf der Wurfversuche die Hochachtung für die altsteinzeitlichen Jäger von Schöningen bei Hermann Rieder immer größer wurde.

Es stellt sich nämlich die Frage, warum der anatomisch moderne Mensch sich erst vor 50 000 radiometrischen Jahren um den Globus ausgebreitet hat, denn er ist fossil bereits seit 200 000 radiometrischen Jahren nachweisbar (McDougall et al. 2005). Die These von Conard et al. (2015b) impliziert, dass der moderne Homo sapiens während der längsten Zeit seiner Existenz nicht über ein modern-menschliches Verhalten mit einer voll entwickelten Sprache verfügt hat.

In der Altsteinzeit hat sich der moderne Mensch mit verschiedenen archaischen Menschenformen gepaart (kurze Übersicht siehe Brandt 2015). Ist es plausibel, dass sich Menschen mit voll entwickelter Sprache und Menschen mit nicht voll entwickelter Sprachfähigkeit häufig gepaart haben?

Die Hauptkritik entzündet sich jedoch an der Behauptung von Conard et al. (2015b), dass symbolische Artefakte nur im Zusammenhang mit dem anatomisch modernen Menschen nachweisbar seien und ihr fehlender Nachweis zwingend auf eine nicht voll entwickelte Sprachfähigkeit hinweise.

Conard (2008) stellt selbst fest, dass es zahlreiche rezente Jäger-Sammler-Gruppen mit einer modernen Kultur gibt, die aber keine archäologisch sichtbaren Artefakte hinterlassen, die auf dieses moderne Verhalten hinweisen. So verfügen Eingeborene wie die Pitjendadjara aus Australien nur über eine sehr einfache materielle Kultur. Zu ihren Gerätschaften gehören Steinwerkzeuge, Speere, Grabstöcke, Holzschüsseln, Mahlsteine, einfache Spulen für Pelzfäden und verschiedene persönliche Schmuckgegenstände (siehe Brandt 2000). Perforierte Perlen, die annehmbar als Schmuckgegenstände verwendet wurden, sind schon aus dem Acheuléen (Altpaläolithikum) bekannt (Bednarik 2015). Die Pitjendadjara besitzen aber wie alle Völker dieser Erde mit nur sehr einfacher materieller Kultur eine voll entwickelte Sprache. Die Sprachforschung hat allgemein gezeigt, dass kein Zusammenhang zwischen dem Kulturniveau einer Gemeinschaft und der Struktur ihrer Sprache nachweisbar ist. Eine Stammesgemeinschaft kann in sehr einfachen Verhältnissen leben und dennoch eine sehr komplexe Sprache besitzen (Liebi 2003).

Die Hypothese der etwas eingeschränkten Sprachfähigkeit des Homo heidelbergensis ist nur vor dem Hintergrund der Annahme von Conard et al. (2015b) zu verstehen, dass sich im Laufe einer menschlichen Evolution die syntaktische Kommunikation und Sprache, wie sie von heute lebenden Menschen bekannt ist, entwickelt habe.

Die archäologischen Hinterlassenschaften lassen vermuten, dass Homo heidelbergensis über eine voll entwickelte menschliche Sprache verfügte.

Vor Conard et al. (2015a) hat sich der langjährige Leiter der Ausgrabungen von Schöningen, Hartmut Thieme (2007b, S. 226), unter der Überschrift „Der große Wurf von Schöningen: Das neue Bild zur Kultur des frühen Menschen“ zu den Holzwaffen von Schöningen klar geäußert: „Der durch große Fertigkeiten in der Holzbearbeitung gekennzeichnete Entwicklungsstand dieser technisch ausgefeilten, ballistisch ausbalancierten Fernwaffen lässt nur den Schluss einer langen Tradition in der Verwendung derartiger Geräte zu. […] Die Speere liefern […] ein breites Spektrum völlig neuer Erkenntnisse vom bereits im Altpaläolithikum erreichten hohen Niveau der Großwildjagd. Denn hier sind in einem gemeinschaftlich organisierten und koordinierten Jagdunternehmen Fernwaffen gezielt ausschließlich auf Pferde, auf schnelles flüchtiges Herdenwild, eingesetzt worden.“ Weiter schreibt Thieme (S. 227): „Aus all dem lässt sich nur schlussfolgern, dass, entgegen einem bisher weit verbreiteten Geschichtsbild, bereits der Homo erectus2 über die erst dem modernen Denken zugeschriebenen intellektuellen Fähigkeiten vorausschauenden, planenden Denkens und Handelns verfügte. Denn sämtliche in Schöningen beobachteten (und rekonstruierten) komplexen Handlungsabläufe und Arbeitsvorgänge sind ohne begriffliches Denken nicht möglich; es ist Voraussetzung und Bedingung einer für diese frühe Zeit schon vorhandene, weit entwickelte, variantenreiche sprachliche Kommunikation. Allein nur die verschieden gestalteten, exzellent erhaltenen Speere wären dafür schon ausreichender Beweis: Ein abstraktes (geistiges) Bild – verknüpft mit all dem erforderlichen Wissen um die künftig erwarteten Wurf- und Flugeigenschaften sowie Eindringtiefen – bestimmt das dadurch gesteuerte zielstrebige Handeln zum Auffinden und zur Auswahl des geeignetsten Rohmaterials über die diversen Bearbeitungsschritte mit entsprechenden verschiedenen Geräten bis hin zum fertigen Endprodukt: einem Wurfspeer als Jagdwaffe ebenso wie als Waffe zum Schutz des eigenen Lebens und des Lebens der Gruppenmitglieder vor Raubtieren.“

Der archäologisch wichtigste Horizont 13/II-4 von Schöningen, aus dem die Speere geborgen wurden, und der archäologische Horizont Bilzingsleben II werden dem Reinsdorf-Interglazial und damit einem ähnlichen geologischen Alter zugeordnet (Thieme 2007, Richter & Krbetschek 2015). Deutlichere Diskrepanzen gibt es jedoch in den absoluten Altersangaben.

Thieme (2007) vermutet ein Alter des Speer-Horizontes von Schöningen von etwa 400 000 radiometrischen Jahren (MIS 113 radiometrisches Alter 374 000-424 000 Jahre, siehe Richter & Krbetschek 2015). Richter & Krbetschek (2015) datieren Schöningen 13/II-4 dagegen auf 300 000-337 000 Jahre (MIS 9), wobei in Conard et al. (2015) allgemein der untere Wert von 300 000 radiometrischen Jahren für die Speere angegeben wird.

Bilzingsleben II mit dem bekannten Fundhorizont des Homo erectus ist nach Mania (2007) einerseits nur einige tausend radiometrische Jahre älter als der Speer-Horizont Schöningen 13/II-4. Andererseits wird Bilzingsleben II mit den kulturellen Hinterlassenschaften und den menschlichen Fossilresten von Mania (1998, 2004) und Mania et al. (2000) mit einem durchschnittlichen Alter von 370 000 radiometrischen Jahren angegeben, was etwas geringer ist als das von Thieme (2007) angegebene Alter des Speerhorizontes von Schöningen. Der etwas ältere Fundhorizont 12/1 in Schöningen, aus dem ebenfalls Kulturreste bekannt sind, ist vermutlich zeitgleich mit der Homo erectus-Fundschicht aus Bilzingsleben anzusetzen (Mania 2007).

In den Schichten von Schöningen sind leider keine knöchernen Überreste der einst jagenden Menschen gefunden worden. In diesem Punkt ist die Fundsituation von Schöningen ungünstiger gegenüber der eines nicht weit entfernten nahezu zeitgleichen Siedlungshorizontes einer weiteren Frühmenschengruppe in Thüringen.

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Siedlungsplatz des Homo erectus in Bilzingsleben
Abb. 3: Altpaläolithisches Knochengerät mit eingeritzter Strichfolge (400 000 radiometrische Jahre v. h.) aus Bilzingsleben, Thüringen (aus Schössler 2003). Der Fund besteht aus einem Stück zerschlagenen Schienbeins eines Waldelefanten und ist mit einem Fächer aus Strichbündeln (gestrichelte Linien sind Ergänzungen) versehen. Nach Schössler handelt es sich um einen Mondkalender. Der Hersteller des Kalenders war ein (fortgeschrittener) Homo erectus.

Die altpaläolithische Siedlung4 Bilzingsleben liegt nur 100 km Luftlinie südlich von Schöningen entfernt (Abb. 1). Der Fundplatz wurde 1969 von Dietrich Mania entdeckt und unter seiner Leitung viele Jahre erforscht. Das Alter des Fundortes wird mit 370 000 radiometrischen Jahren angegeben (Kasten 3). Der Frühmensch von Bilzingsleben gliederte den Platz in verschiedene Arbeits- und Wohnbereiche. Vielleicht besaß er sogar eine Kultstätte. Er lebte hauptsächlich von der Großwildjagd (Übersichtsarbeiten Mania 1998, 2004). Aufgrund der unbestritten zeitlichen und räumlichen Nähe könnten sich nach Mania (2007) die beiden Frühmenschenpopulationen von Schöningen im Nordharzvorland und Bilzingsleben in Thüringen gekannt haben.

In Bilzingsleben wurden neben zahlreichen Stein- und Knochenwerkzeugen Holzartefakte geborgen, unter denen sich wahrscheinlich auch Speere befinden (Mania & Mania 1998). Diese Stücke sind leider schlecht erhalten und nach Schoch et al. (2015) einer näheren Inspektion nicht zugänglich.

Während die bemerkenswertesten Artefakte von Schöningen die sehr gut erhaltenen Holzspeere sind, erlaubt ein Elefantenknochenstück mit eingraviertem Strichmuster Cdie tiefgreifendsten Rückschlüsse auf die Fähigkeiten des Frühmenschen von Bilzingsleben.

Thieme (2007b, 227-228) zitiert Dietrich Mania zu diesem Artefakt: „Im Fundhorizont von Bilzingsleben traten Knochenartefakte mit eingravierten Strichmustern auf. Auf einem Stück, einem 40 cm langen Knochengerät […], beginnt ein solches mit einem Strichbündel aus sieben Linien (links), geht über in eine mittlere Reihe aus aufgefächerten 14 Linien (Mitte) und endete wahrscheinlich – hier ist das Gerät ausgesplittert (rechts) – in einem symmetrisch zum dargestellten Strichbündel gleichartigen divergierenden Bündel aus sieben Strichen. Hier liegt eine der ältesten optisch wirksamen Darstellungen eines Gedankens vor. Das geschieht quasi symbolisch. Sie verrät uns Befähigung zum abstrakten Denken und zur Sprache in dieser frühen Zeit. Die Wurfspeere von Schöningen bestätigen dieses Ergebnis von Bilzingsleben auf die beste Weise.“ Dieser Knochen mit eingravierten Strichmustern wird von Schössler (2003) als Mondkalender interpretiert (Abb. 3). Wer war der Schöpfer dieses Kalenders?

Der Urmensch Homo erectus von Bilzingsleben besaß wahrscheinlich eine komplexe Sprache und war zu abstraktem Denken fähig.

Im Bilzingslebener Fundhorizont wurden Reste von Frühmenschen gefunden. Es sind 29 Schädelreste, ein rechter Unterkiefer und neun isolierte Zähne. Aus den Schädelresten konnte Emanuel Vlček drei Schädelindividuen rekonstruieren. Zu einem vierten Individuum gehört der Unterkiefer. Die Schädel sind lang und flach gestreckt, haben eine mächtige Überaugenwulst, die über der Nasenwurzel nicht unterbrochen ist, ein abgewinkeltes Hinterhaupt, auf dem eine mächtige Hinterhauptswulst sitzt, sowie eine starke seitliche Einschnürung hinter der Orbitapartie (Abb. 4). Das alles sind wesentliche Merkmale des Homo erectus. Vergleichende Untersuchungen von Vlček haben die größte morphologische Ähnlichkeit bis Übereinstimmung der Bilzingsleben-Individuen 1 und 2 mit Homo-erectus-Funden aus Afrika und Asien ergeben: Olduvai 9 aus der Olduvai-Schlucht in Tansania (besonders Individuum 1), Sinanthropus 3 aus Choukoutien in China und Pithecanthropus 7 von Sangiran auf Java.5 Dagegen unterscheiden sich die beiden Individuen von Bilzingsleben deutlich von den archaischen Homo-sapiens-Formen (Steinheim, Swanscombe, Biache, Ehringsdorf u. a.). Der rechte Unterkiefer E7 aus Bilzingsleben zeigt eine große Ähnlichkeit mit zwei Unterkiefern von Homo erectus aus Choukoutien von einer Frau (Sinanthropus HI) und einem Kind (Sinanthropus BIV) (Mania et al. 2000, Vlček et al. 2002).

Conard et al. (2015a) gehen im Rahmen ihrer Vermutung, dass die Jäger von Schöningen aufgrund des radiometrischen Alters des Jagdlagers von etwa 300 000 Jahren der späte Homo heidelbergensis oder frühe Neandertaler waren, leider nicht auf die Morphologie und taxonomische Zuordnung der fossilen Menschenreste von Bilzingsleben ein.

Abb. 4: Rekonstruktion der Schädel Bilzingsleben Individuum I (oben) und Individuum II (unten) in der Ansicht von (v. l. n. r.) vorn, rechts seitlich und hinten (aus Vlček et al. 2002). Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Dietrich Mania.
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Zusammenfassung

Die archäologischen Entdeckungen des Wildpferdjagdlagers Schöningen mit extrem gut erhaltenen Speeren haben das Bild vom Homo heidelbergensis in der Archäologie geändert. Dieser Frühmensch war ein hocheffektiver Jäger und verfügte damit offensichtlich über ein differenziertes Verhalten und eine komplexe Sprache, vergleichbar mit den Fähigkeiten des modernen Menschen. Damit wurde mit einem „Weltbild“ aufgeräumt, das in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts besonders im anglo-amerikanischen Fachschrifttum (z. B. Binford 1981) über den Frühmenschen verbreitet worden ist. In diesem „Weltbild“ wurden der Mensch des Altpaläolithikums, aber auch noch der nachfolgende Neandertaler, primär als Aasesser, allenfalls gerade noch als opportunistischer, d. h. nur kurzfristig oder lokal begrenzter, Jäger auf ungefährliches Kleinwild beschrieben. Erst der als eigentlicher Kulturträger postulierte anatomisch moderne Mensch war nach dieser Auffassung vor etwa 40 000 radiometrischen Jahren zur systematischen Großwildjagd fähig (Thieme 2007a). Mit der ungerechtfertigten Vermutung, dass der Homo heidelbergensis über eine noch nicht ganz vollentwickelte Sprache verfügte, konnten sich auch Conard et al. (2015b) von dieser Auffassung noch nicht vollständig lösen.

Die Speere von Schöningen zeigen eindrucksvoll, dass ein gut dokumentierter archäologischer Fund ausreichen kann, um grundlegende Vorstellungen über die Evolution des Menschen mit einem Schlag zu widerlegen.

Die Ausgrabungsergebnisse des nur 100 km südlich vom Jagdlager Schöningen gelegenen, nahezu zeitgleichen Siedlungsplatzes Bilzingsleben machen eine weitere Korrektur der Vorstellungen über die Frühzeit der Menschheit erforderlich. Das bedeutsamste Fundstück von Bilzingsleben ist ein Elefantenknochenstück mit eingravierten regelmäßigen Strichfolgen. Das Knochenartefakt weist auf den Besitz einer differenzierten Sprache und auf die Befähigung zum abstrakten Denken in dieser frühen Zeit hin. Bei dem Artefakt handelt es sich wahrscheinlich um einen Mondkalender. Menschliche Knochenüberreste von Bilzingsleben weisen auf den Urmenschen Homo erectus als Schöpfer des Kalenders hin.

Die archäologischen Funde von Schöningen und Bilzingsleben stehen im Einklang mit der Vorstellung, dass schon die frühesten echten Menschen voll entwickelte Menschen waren.

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Anmerkungen

1 Der Autor dieses Artikels war in seiner Jugend selbst Speerwerfer und hat mit Hermann Rieder persönlich über die Speere von Schöningen gesprochen.

2 Hartmut Thieme geht in Analogie zu Bilzingsleben auch in Schöningen von Homo erectus als Träger der altpaläolithischen Kultur aus. Menschliche Knochenüberreste wurden in Schöningen aber nicht gefunden.

3 Sauerstoff-Isotopenstufe (engl. Marine Isotope Stage, Abkürzung MIS), die anhand des Verhältnisses der Isotope 16O und 18O des Sauerstoffs bestimmt wird. Es handelt sich um eine Gliederung der abstrahierten Sauerstoffisotopenchronologie (quartärer mariner Sedimente) in Stufen; die Oszillationen werden als relativ wärmere und relativ kältere Perioden interpretiert. Die Sauerstoff-Isotopenstufen (MIS) werden radiometrisch/zyklostratigraphsch kalibriert und sind selbst keine Datierungsmethode.

4 Nach Dietrich Mania wurden unter Leitung von Clemens Pasda (2005) weitere Grabungen in Bilzingsleben im Randbereich der von Mania untersuchten Flächen durchgeführt (siehe auch Pasda 2010). Die ausgegrabene fundführende Schicht stellt nach Pasda (2005) kein primäres Begehungsniveau altsteinzeitlicher Menschen dar, sondern ist eine Schlammstromablagerung. Die darin geborgenen Objekte seien somit von anderer Stelle umgelagert worden (siehe aber Entgegnung Mania 2005).

5 Der Frühmensch von Bilzingsleben wird auch als „entwickelter“ Homo erectus bezeichnet (Mania et al. 2000).

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