Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 19. Jg. Heft 1 - Mai 2012
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Das Erdbeben bei der Kreuzigung Jesu

Ereignis in Ablagerungen des Toten Meeres nachgewiesen?

von Michael Kotulla

Studium Integrale Journal
20. Jahrgang / Heft 1 - April 2013
Seite 25 - 33
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Zusammenfassung: Bis heute ist kein außerbiblisches Zeugnis des im Matthäus-Evangelium berichteten Erdbebens bekannt. Nach Auswertung von Sedimenten des Toten Meeres hat eine Forschergruppe um Jefferson B. Williams eine erdbebengestörte Lage auf den Zeitraum 26-36 n. Chr. datiert und folgert, dass es sich dabei um das Erdbeben bei Jesu Kreuzigung handeln kann. Eine Analyse zeigt die Unsicherheiten und die Komplexität einer präzisen Datierung auf.




Einführung

Der Titel An early first-century earthquake in the Dead Sea in der Zeitschrift International Geology Review lässt nicht vermuten, dass das im Matthäus-Evangelium (Kap. 27,51; vgl. auch 28,2) berichtete Erdbeben bei Jesu Kreuzigung thematisiert wird. Aber genau das ist der Fall. Dabei ist der Leitautor, Jefferson B. Williams, nicht durch das Motiv bestimmt, Aussagen der Bibel durch externe Befunde bestätigen oder widerlegen zu wollen. Er selbst bezeichnet sich, so sein Web-Auftritt1, als Agnostiker. Ihm gehe es vielmehr darum, einer gestörten Sedimenteinheit des Toten Meeres, die als Seismit* interpretiert wird, alleine anhand einer Auszählung von Warven* ein konkretes Kalenderdatum zuzuordnen.

Das wahrscheinlichste Kreuzigungsdatum passt in das ermittelte Zeitfenster des Erdbebens von 26-36 n. Chr.

Das Ergebnis: Ein Erdbeben 31 n. Chr. mit einer Unsicherheit von ± 5 Jahren. Und unter Zugrundelegung der Ergebnisse von Humphreys & Waddington (1983), die den 3. April 33 für das wahrscheinlichste Kreuzigungsdatum halten, passe dieses Datum in das ermittelte Zeitfenster von 26-36 n. Chr. „This places the above-postulated 31 AD2 earthquake within the 26-36 AD window (31 AD ± 5) when Pontius Pilate was Procurator of Judea and the earthquake of the crucifixion is historically constrained.“

Wie sind nun die Ergebnisse von Williams et al. (2012) zu bewerten? Haben sie in der Tat das Erdbeben bei der Kreuzigung Jesu nachgewiesen? Wie sicher ist das genannte Datum 31 AD ± 5? Diese Fragen sollen in diesem Artikel beantwortet werden.

Die jüngsten Ablagerungen des Toten Meeres enthalten zahlreiche Seismite, erdbebengestörte Lagen. Eine Forschergruppe um Jefferson B. Williams hat den Zeitpunkt der Bildung einer dieser Lagen auf den Zeitraum 26-36 n. Chr. datiert und folgert, dass es sich dabei um das Erdbeben bei Jesu Kreuzigung handeln kann.

Unter Einbeziehung weiterführender Arbeiten wird jedoch aufgezeigt, dass bei grundlegender Betrachtung eine Datierung nicht möglich bzw. mit zahlreichen Unsicherheiten behaftet ist. In der Hauptsache ist dies darin begründet, dass mit den angewendeten Datierungsmethoden – 14C, Warvenzählung – am Toten Meer bisher keine nachweislich validen Ergebnisse erzielt wurden. Weder existiert eine 14C-Kalibrierungskurve für das extreme Milieu des Toten Meeres noch erfahren die 14C-Datierungen eine Bestätigung durch eine Warvenchronologie, da diese vom zeitlichen Rahmen der 14C-Datierungen abgeleitet ist. Die Zuordnung von historisch bekannten Erdbeben zu Seismiten ist wiederum rein subjektiv. So herrscht über das wahre Alter selbst dieser jüngsten Ablagerungen des Toten Meeres Unklarheit. Dass der fragliche Seismit auf das Erdbeben bei Jesu Kreuzigung zurückgeht, wird daher mit einer Wahrscheinlichkeit deutlich kleiner 50% eingeschätzt.

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Untersuchungen an Sedimenten des Toten Meeres
Abb. 1: Satellitenaufnahme des Toten Meeres. Eingefügt sind die Orte der Entnahme der Bohrkerne und weiterer Aufschlüsse an der Westküste sowie der Verlauf der Transformstörung. (Foto: NASA)

Das Tote Meer ist ein abflussloses Becken in der Jordansenke und Teil der Transformstörung*, die sich vom Golf von Aqaba bis in die südöstliche Türkei erstreckt. Entlang dieser Störungszone und insbesondere am Toten Meer ist eine stark erhöhte seismische* Aktivität sowohl in der Gegenwart als auch in der historischen Vergangenheit bezeugt.

1997/98 wurden mit dem Ziel der Rekonstruktion des Paläoklimas* und der Paläoseismizität an vier Lokationen (Ein Feshkha, Ein Gedi, Hever und Ze’elim) entlang der heutigen Uferlinie der Westküste des Toten Meeres (Abb. 1) Kernprofile, teilweise bis in 21 m Tiefe, entnommen (Migowski 2001). Daneben liegen Profilaufnahmen und Analysen aus Canyonwänden der Ze’elim-Terrasse sowie bei Ein Feshkha vor (Ken-Tor et al. 2001a, 2001b; Kagan et al. 2011). Williams et al. (2012) untersuchten das von Migowski (2001) originalbearbeitete Ein Gedi-Kernprofil in einer Sedimenttiefe von 2,7 m bis 3,0 m (Abb. 2). Dieser Teilbereich gehört zu einer Abfolge aus alternierenden Mergel- und Aragonitlagen mit gelegentlichen Einschaltungen von Gipslagen (Sedimenttiefe 0,78 m bis 4,50 m), die Migowski (2001) als „obere Aragonit-reiche Sequenz“ bezeichnet. Im gesamten Profil treten in unregelmäßigen Abständen deformierte Sequenzen auf. Abb. 2 zeigt die gestörten Lagen No. 28, fragliches Erdbeben bei Jesu Kreuzigung, und No. 29, fragliches Erdbeben 31 v. Chr. (Nummerierung nach Migwoski et al. 2004). Die direkte Distanz zwischen Ein Gedi und Jerusalem beträgt etwa 40 km.

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Die wesentlichen Annahmen

Für die Untersuchung und Schlussfolgerung sind drei Annahmen entscheidend:

  1. Die gestörten Sequenzen (No. 28, No. 29) bestehen aus ehemals laminierten* Lagen des Seebodens, die seismisch „durchgeschüttelt“ wurden und demgemäß genetisch als Seismit anzusprechen sind.
  2. Die liegende gestörte Sequenz (No. 29) ist präzise datiert (Erdbeben 31 v. Chr.).
  3. Bei den laminierten Sedimenten zwischen den beiden gestörten Sequenzen handelt es sich um Warven, also saisonale Ablagerungen, sodass die Anzahl der Jahre zwischen den gestörten Sequenzen jahrgenau abgezählt werden kann. Dabei entsprechen i. d. R. 2 Lagen (= 1 Couplet) einem Kalenderjahr.

AMS: Accelerator mass spectrometry (Beschleuniger-Massenspektrometrie); hier: die Erwähnung des für die 14C-Datierung eingesetzten Verfahrens. Alters-Tiefen-Kurve: Modellierung einer Alters-Tiefen-Beziehung; hier: Sedimenttiefe (Bohrkern) [Y-Achse] vs. 14C-Alter [X-Achse]. Brekzie, brekziieren: Sediment(gestein) mit eckig-kantigen Bruchstücken in einem feinkörnigeren Grundsediment (Matrix); hier: Bildung des brekziierten Gefüges nach Sedimentation an Ort und Stelle durch seismische Erschütterung. Chronologie: Abfolge von Ereignissen. Eine Datierung der Ereignisse ist nicht zwingend, aber i. d. R. Gegenstand historisch-geologischer Forschung. Evaporit, evaporitisch: ein durch Verdunstung (Evaporation) gebildetes Gestein. klastisch: aus den Trümmern anderer Sedimente stammend. laminiert: lagig, feinlagig. paläo-: alt, hier: die Vergangenheit betreffend; z. B. Paläoklima: Das Klima in früherer Zeit. seismisch: Erdbeben betreffend; hier: von Erdbeben verursacht. Seismit: Sedimente mit unterschiedlichen Deformationsstrukturen, deren Ursache seismische Erschütterungen sind. Dabei wird der oberste Sedimentkörper des See- oder Meeresbodens im noch unverfestigten Zustand „durchgeschüttelt“ und kann → brekziiert, teilverflüssigt und in Suspension versetzt und erneut abgesetzt werden. σ (Sigma): Standardabweichung; hier: 14C-Alter mit Angabe der jeweiligen Standardabweichung, es gelten die Sicherheitswahrscheinlichkeiten: ± 1 σ (68,3% – wahrscheinlich), ± 2 σ (95,5% – sehr wahrscheinlich); je höher die Sicherheitswahrscheinlichkeit, desto breiter ist der Altersbereich (bzw. das Altersfenster). Transformstörung: Horizontalverschiebung , hier: Sinai-Subplatte und Arabische Platte. Validität, validieren: im Sinne von Gültigkeit, etwas für gültig befinden. Warven: Saisonal gebildete laminierte Sedimente, wobei i. d. R. zwei Lagen (ein Hell-Dunkel-Couplet) der Sedimentablagerung eines Jahres entsprechen.

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Entstehung der deformierten Lagen
Abb. 2: Schematisches Profil des Bohrkernes von Ein Gedi in einer Sedimenttiefe von etwa 2,6 m bis 3,0 m nach Migowski et al. (2004); Zuordnung der Jahreszahlen nach Williams et al. 2012.

Williams et al. (2012) bezeichnen die deformierten Lagen als brekziiert*. Dies ist bei den Textabbildungen ihres Artikels bei Lage No. 29 (31 BC) gut zu erkennen; bei der geringmächtigen Lage No. 28 (31 AD) sind Lagenstörungen deutlich. Migowski (2001) beschreibt die deformierten Abschnitte im Profil Ein Gedi als bestehend aus „fragmentierten Aragonit- und (...) Gipslagen, von einigen mm bis cm Länge, welche fast regellos in einer feinkörnigen Matrix, einer Mischung aus dunklem mikritischen Mergel, eingebettet sind“. Andere beobachtete Strukturen an anderen Lokalitäten des Toten Meeres sind Falten und Verwerfungen im mm- und cm-Bereich sowie verflüssigter Sand (Kagan et al. 2011) und wulstige, wickelige Verfältelungen (Enzel et al. 2000). In Abb. 3 sind in dem Horizont Event B Brekzien* (weiße, eckige Bruchstücke) gut erkennbar.

Sofern andere Bildungsbedingungen ausgeschlossen werden können (z. B. subaquatische Gleitung), wird solchen deformierten (zum Zeitpunkt der Entstehung unverfestigten) Sedimenten nicht nur in Ablagerungen des Toten Meeres eine seismische Ursache zugesprochen (z.B. Seilacher 1984, Pascua et al. 2003). Agnon et al. (2006) beschreiben als Mechanismen der Brekzienentstehung u. a. Bodenbeschleunigung, Verflüssigung und Wasserentweichung.

Ein Seismit ist eine Ereignislage, denn je nach Erdbebenstärke ist ein Teil oder der gesamte Seeboden zur gleichen Zeit erfasst worden. Allerdings sind bei einem Seismit bisher keine Eigenschaften festgestellt worden, welche seine eindeutige Identifizierung zulassen würde (beispielsweise im Vergleich zu vulkanischen Aschelagen mittels Geochemie oder Kristallmorphologie). Eine Korrelation gleichzeitig entstandener Seismite aufgrund eigener Merkmalseigenschaften in entfernten Profilen ist daher nicht möglich.

Fazit. Die Interpretation der deformierten Sequenzen als Seismite in den Ablagerungen des Toten Meeres ist sehr gut begründet, insbesondere durch die Strukturelemente der Deformation sowie dem Vorkommen in einem seismisch aktiven Gebiet. Wie viele der ehemals unverfestigten Lagen deformiert worden sind, kann häufig nur geschätzt werden. Eine weitere gut begründete Annahme ist, dass nur Beben mit einer vor Ort erreichten Magnitude ML > 5,5 bis 6 in der Lage sind, die unverfestigten Bodensedimente zu deformieren. Dass es sich bei den Lagen No. 28 und No. 29 um Seismite handelt, ist nahezu sicher.

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Das Erdbeben 31 v. Chr.

Zu Recht wird dieses Erdbeben von Williams et al. (2012) als „Anker“-Beben bezeichnet. Denn ist die zeitliche Zuordnung des Seismits (No. 29) an der Basis falsch, stimmen auch alle 62 nachfolgenden Datumsangaben nicht. Als primäre historische Quelle gilt die Beschreibung des Bebens durch den jüdischen Historiker Flavius Josephus (37 - ca. 100 n. Chr.) in seinem zwischen 75 und 79 n. Chr. erschienenen Werk Geschichte des jüdischen Krieges. Aufgrund der weitreichenden Zerstörungen und vielen Opfer (Josephus 1981) u. a. in Qumran, Masada und Jericho wird dem Erdbeben 31 v. Chr. eine Magnitude von ML > 6 bis 7 (Karcz 2004) und ein Epizentrum in der Nähe von Jericho (Reches & Hoexter 1981) zugeschrieben. Im Weiteren verweisen Williams et al. (2012) auf die Untersuchungen von Ken-Tor et al. (2001a), Migowski et al. (2004) sowie Kagan et al. (2011); alle Bearbeiter der westlichen Uferprofile ordnen dieses „omnipräsente“ Beben jeweils einer gestörten Lage zu. Damit entsteht der Anschein eines „chronologischen Ankers“.

Abb. 3: Laminierte Sedimente bei Nahal Ze’elim am Toten Meer. Die gestörten Lagen Event B und C werden als Seismite interpretiert, Event B wurde dem Erdbeben 31 BC zugewiesen. Event C wird mit dem Seismit korreliert, der im Profil Ein Gedi auf 31 AD ± 5 datiert wird. Oben rechts Dünnschliff des Ausschnitts. (Foto/Grafik: Jefferson B. Williams, freundliche Überlassung)

Ken-Tor et al. (2001a) untersuchten auf der Ze’elim-Terrasse in einem neuen Zufluss zum Toten Meer die (wegen des signifikant gefallenen Seespiegels) nunmehr frei liegenden obersten Ablagerungen. Für die zeitliche Verankerung verwendeten die Autoren 14C-Daten von Pflanzenresten in den Seismiten oder dazwischengeschalteten Sedimenten und interpolierten auf Basis der so gewonnenen durchschnittlichen Sedimentationsraten. Nach ihren Ergebnissen deckt das etwa 7,5 m mächtige zusammengestellte Profil die Sedimentations- und Erdbebengeschichte (acht große Ereignisse, Event A-H, Event B/C, siehe Abb. 3) der letzten 2200 Jahre ab. Demnach liegt für Seismit „Event B“ ein Radiokarbonalter von 1950 ± 60 Jahren BP3 vor, das entspricht einem kalibrierten 14C-Alter (2 σ*) von 100 BC – 230 AD. Aufgrund des zuvor ebenfalls 14C-datierten liegenden Seismits „Event A“ und einer vorgenommenen Einordnung als Beben von 64 BC sowie weiterer stratigraphischer Erwägungen weisen die Autoren das „Event B“ dem Erdbeben von 31 BC zu. In dieser Weise wird das Profil nach oben durchgearbeitet. Seismit „Event C“, 32,5 cm über „Event B“, wird dem Beben von 33 AD zugeordnet. Durch Interpolation der Sedimentationsrate (4-9 mm/Jahr bezogen auf „Event A“) ergibt sich zunächst eine Spanne von 64 BC bis 311 AD, die aufgrund der zuvor vorgenommenen Verankerung von „Event B“ für „Event C“ auf 5 AD bis 50 AD reduziert wird. Hier muss angemerkt werden, dass bereits Ken-Tor et al. (2001a) ein Beben 33 AD als geologisch dokumentiert betrachteten; ihre „Grobabstimmung“ allerdings erfolgte auf der Grundlage interpolierter Sedimentationsraten. Im Gegensatz dazu basiert die „Feinabstimmung“ von Williams et al. (2012), auf einer jahrgenauen Abzählung von Warven (Diskussion siehe unten).

Methodisch werden also die historisch bekannten Erdbeben (Auflistungen beispielsweise bei Amiran et al. 1994) gemäß ihrer Erdbebenstärke und Distanz zur Lokalität klassifiziert und nach bestem Ermessen den Seismiten im Rahmen der Radiokarbon-Alterszeitfenster zugeordnet. Wie bereits oben beschrieben, besitzen die Seismite keine eigenen Erkennungsmerkmale; Auswahl und Zuordnung ist subjektiv. Migowski et al. (2004) und Kagan et al. (2011) sind im Wesentlichen gleichermaßen vorgegangen.

Die Verlässlichkeit und Präzision der Radiokarbondatierungsmethode ist allerdings umstritten. Neev & Emery (1995) stellen die Validität* der Radiokarbonmethode zur Bestimmung einer präzisen Chronologie* in Frage, zumindest für das Milieu des Toten Meeres. Das ist ihre Schlussfolgerung der Auswertung von Radiokarbondaten an Proben von Kernprofilen der Lisan- und Dead Sea-Formation sowie vom Mount Sedom als auch an nahegelegenen archäologischen Stätten.4 Ken-Tor et al. (2001b) dagegen (siehe oben) beanspruchen, hochpräzise (korrekt innerhalb einiger Dekaden) 14C-Alter zu erzielen. Sie gehen dabei so vor, dass sie die kalibrierten (teilweise großen) Reichweiten (Zeitfenster) derart verkürzen und verfeinern, dass sie mit bekannten historischen Erdbeben abgestimmt und durch stratigraphisches Ermessen weiter eingeschränkt werden. Das Resultat dieser Vorgehensweise ist, dass dann die meisten Erdbeben in das 1 σ-Fenster fallen.

Migowski (2001) wiederum kann die im Ein Gedi-Profil vorkommenden deformierten Sequenzen erst Erdbeben zuordnen, nachdem die Autorin die Alters-Tiefen-Kurve* entlang der Zeitachse verschiebt (S. 77). Die Verschiebung beträgt bis zu 350 Jahre; dementsprechend sind ihre kalibrierten AMS*-14C-Alter bis zu 350 Jahre zu hoch. Dieser Versatz wird mit der Umlagerung der Pflanzenreste erklärt; d. h. die Pflanzenreste sind erst bis zu 350 Jahre nach Ausschluss vom Kohlenstoff-Kreislauf eingebettet worden. Sofern Migowskis Zuordnung korrekt ist, stellt sie die Aussagen von Ken-Tor et al. (2001a, 2001b) in Frage und umgekehrt. Die jeweils angegebenen und deutlich differierenden Zeitspannen für Transport und Sedimentation der Pflanzenreste, an denen die 14C-Datierungen vorgenommen wurden, können auch als Erklärungsversuch der Abweichung von der Kalibrierungskurve gewertet werden. Wenn für Ein Gedi eine Umlagerung des organischen 14C-Probenmaterials von bis zu 350 Jahren über einen Gesamtzeitraum von 2000 Jahren tatsächlich zutrifft, so ist dies auch für Ze’elim oder Ein Feshkha nicht auszuschließen. Dann wären die Erdbebenzuordnungen von Ken-Tor et al. (2001a) und Kagan et al. (2011) wahrscheinlich nicht korrekt. Umgekehrt: Ist deren Zuordnung korrekt und liegt tatsächlich eine kürzere Verweildauer vor5, dann kann Migowskis Zuordnung wahrscheinlich nicht korrekt sein. Allein diese Größe bzw. Unbekannte führt zu einer signifikanten Unsicherheit, die eine präzise Datierung nicht zulässt.

Die Validität von 14C-Datierungen im Milieu des Toten Meeres ist nicht bekannt.

Für die vergangenen 2500 Jahre sollte angenommen werden können, dass die Validität der Radiokarbondatierungsmethode durch bekannte historische Ereignisse sehr gut gesichert ist. Fakt ist aber, dass die Verlässlichkeit der 14C-Datierung an Pflanzenresten und Karbonaten im Milieu des Toten Meeres nicht bekannt ist. Die 14C-Kalibrierungskurven (INTCAL98, Stuiver et al. 1998; INTCAL04, Reimer et al. 2004) für den diskutierten Zeitraum basieren auf Probensets dendrochronologisch datierter Baumringe, und zwar einem Mix aus Bäumen mittelhoher Breiten der nördlichen Hemisphäre (insbesondere Deutschland, Irland, Washington, Oregon und Kalifornien). Eine Kalibrierungskurve für das extreme Milieu des Toten Meeres gibt es nicht. Diese Unkenntnis über die Verlässlichkeit lässt keine präzisen Datierungen zu, noch scheinen selbst Einstufungen in der Größenordnung von einigen Hundert Jahren korrekt zu sein. Da die Zuordnung von historisch bekannten Erdbeben zu den Seismiten subjektiv ist, kann auch diese „Seismit-Chronologie“ die 14C-Datierung weder unterstützen noch validieren. Selbst wenn die 14C-Datierungen im Rahmen ihrer 2 σ-Unsicherheiten (etwa bis zu ± 150 Jahre) korrekt wären, kann die Zuordnung der Erdbeben falsch sein, beispielsweise: Ein Beben war zu schwach, um am jeweiligen Ort einen Seismit bewirkt zu haben, oder: ein Seismit ist zwar vorhanden, aber das verursachende Beben ist historisch nicht belegt. Es kann auch sein, dass mehrere Erdbeben für das bis zu 300 Jahre umspannende Zeitfenster in Frage kommen, was ohnehin die Regel ist. Auch wenn Seismite über verschiedene Lokalitäten hinweg korreliert werden (z. B. Kagan et al. 2011), bedeutet dies nicht, dass die o. g. Voraussetzungen erfüllt sind und die Korrelation korrekt ist. Nichtdestotrotz können die Bearbeiter der Profile einen Treffer oder eine Trefferserie gelandet haben oder dicht am Ziel liegen; doch selbst wenn der Versatz nur einen einzigen Seismit betragen sollte, ist schlussendlich die Datierung falsch.

Fazit: Aus oben genannten Gründen wird die Wahrscheinlichkeit, dass es sich im Profil Ein Gedi bei Seismit No. 29 um das Beben 31 BC handelt, auf unter 50% eingeschätzt.

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Können an den Sedimentlagen die Kalenderjahre abgezählt werden?

Entsprechend ihrer Basisannahme interpretieren Williams et al. (2012) die laminierten Sedimente als saisonale Ablagerungen. Für den zu untersuchenden Profildetailabschnitt (Tiefe 271,5 cm bis 283,3 cm) sind in ihrem Artikel zwei sich überlappende Groß-Dünnschliffe, die dazugehörige Auswertung der Mikrostratigraphie und ihre graphische Darstellung, also der Ausweis der Lagen und der Lagencouplets (= Warven), sowie eine dreiklassige Warvenqualitätsbestimmung abgebildet (Teilausschnitt siehe Abb. 4). Die Aufbereitung ist so gut, dass die Annahmen bis zu einem gewissen Grade nachvollzogen werden können. In einigen Bereichen sind die Lagen sehr dünn und/oder diffus, ein Erkennen einer Lage daher schwierig oder nicht möglich. Gemäß den Abbildungen können in dem Profilabschnitt von 10,2 cm 119 Lagen bzw. 59,5 Warvenjahre gezählt werden, zuzüglich 2,5 Warvenjahre für deformierte Lagen bzw. Anteile des Bebens „31 AD“. Insgesamt sind die Kalenderjahre 31 BC bis 31 AD fortlaufend beschriftet. Die Autoren beziehen sich auf Migowski et al. (2004) und nehmen einen Zähl- bzw. Interpretationsfehler von 7,1% an, d. h. bei 62 Warvenjahren einen Fehlerwert von ± 4,4 (gerundet 5) Warvenjahren. Daraus erschließt sich das Datum 31 AD mit einer Unsicherheitsangabe von ± 5 Jahren. Obwohl Williams et al. (2012) über die Hälfte der Warven als diskontinuierlich und nicht eindeutig charakterisieren, erhalten sie nach eigenen Aussagen unabhängig das gleiche Zählergebnis, nämlich 31 AD versus ~33 AD (Migowski et al. 2004).

Abb. 4: Dünnschliff des Profils Ein Gedi im Bereich unmittelbar oberhalb des Seismits, der mit dem Erdbeben 31 BC korreliert wird. Interpretation der Laminae als Sommerlage (türkis) und Winterlage (gelb) und entsprechende Zuweisung des Datums (Kalenderjahr). (Foto/Grafik: Jefferson B. Williams, freundliche Überlassung)
Zur Fazies-Legende (linke Spalte): gelb = klastische (detritische) Körner vorhanden; türkis, weiß gepunktet = Evaporite mit keinen oder wenig Klasten; rosa = Mixed Layer [Seismit]

Williams et al. (2012) diskutieren nicht ihre Annahme, dass es sich um Warven handelt; sie verweisen auf Migowski et al. (2004) sowie Heim et al. (1997)6, die diesen Nachweis erbracht hätten. So liegt nach Migowski (2001) eine Warvierung nur für den (in Rede stehenden) Bereich unterhalb 0,78 m bis 3,04 m Sedimenttiefe vor7. Aufgrund der petrographischen Merkmale interpretiert sie (S. 46-47) die Sedimentbildungsbedingungen am Beckenrand des Toten Meeres als Winter-Flutereignisse aus den unmittelbar angrenzenden Wadis. Dabei wird Detritus in den See transportiert und als klastische* Lage sedimentiert; die evaporitischen* Lagen entstehen abhängig vom Ioneneintrag des Frischwassers sowie der Evaporationsrate. Reine Aragonit- und Gipslagen werden als Fällungsprodukte der niederschlagsfreien Monate angesehen. Die auftretenden Kombinationen (Muster) von klastischen Lagen, Aragonit- und Gipslagen (weniger häufig) ordnet die Autorin jeweils einem Jahr zu, wobei nie mehr als drei Lagen pro Jahr gebildet wurden. So wird beispielsweise bei einer Abfolge aus klastischer Lage und Aragonitlage, die von einer klastischen Lage überdeckt wird, dem ersten Lagenpaar ein Jahr zugewiesen. Folgt dagegen eine Gipslage, bilden alle drei Lagen zusammen ein Jahr. Definitionsgemäß beginnt jeweils ein Jahr mit einer klastischen Lage. Zwei gut ausgeprägte, unmittelbar übereinanderliegende klastische Lagen werden als zwei Flutereignisse innerhalb eines Jahres interpretiert.

Eine Zusammenschau von Migowskis Tabellen (Tab. 1) für den relevanten Profilabschnitt gibt Rätsel auf. 1. Vier deformierte Sequenzen (vgl. Migowskis Tabellen E1 und 2) zwischen Lage No. 29 und No. 28 (Tiefe 2,742 m) erfahren keine Zuordnung und werden nicht weiter erwähnt. Auch die naheliegende deformierte Sequenz in einer Tiefe von 2,76 m beispielsweise könnte vom Beben 33 n. Chr. herrühren. Da theoretisch mehrere Seismite für das Beben 33 n. Chr. in Frage kommen, ist eine Aufstellung und Bewertung der Ereignis-folge oberhalb der Bezugslage No. 29 von grundlegender Bedeutung. Doch Williams et al. (2012) nehmen keinen Bezug auf diese vier deformierten Lagen (sie weisen keine weiteren deformierten Lagen in dem von ihnen untersuchten Profilabschnitt aus). 2. Lage No. 28 ist bei der Originalbearbeitung des Profils (vgl. Migowskis Tabelle E1) nicht als deformierte Lage ausgewiesen. Die „Herkunft“ wird von Migowski et al. (2004) nicht erklärt (z. B. Revision des Profils in diesem Abschnitt). Dabei handelt es sich aber ausgerechnet um den Seismit, welchem sie das Datum 33 n. Chr. (Kreuzigung Jesu Christi) zuordnen.

Tab. 1: Ausschnitt und Zusammenschau des Ausweises deformierter Sequenzen im Profil Ein Gedi, Erklärung siehe Kasten. Datenbasis: Migowksi (2001) und Migowksi et al. (2004).

Der Übergang von einem Flutereignis zu einer Jahresschichtung wird von Migowski (2001) allerdings nicht ausreichend vertieft und begründet. Einerseits beobachtet und folgert sie (S. 35-36): „Die Hypothese der unmittelbaren Ausfällung von Aragonit als Folge von Ioneneintrag durch Flutereignisse (Stein et al. 1997, Barkan et al. 2001) wird von der Beobachtung gestützt, dass bei den Abschnitten mit alternierender Ablagerung von klastischen und evaporitischen Lagen die Basis der Aragonitlagen unter dem Mikroskop häufig als dichtkristallisiert, von klastischem Material verunreinigt erscheint. Das bedeutet, dass die Ausfällung und Ablagerung des Aragonits bereits erfolgt, während sich der feinkörnige klastische Eintrag noch absetzt.“ Andererseits fährt sie unmittelbar fort: „Bei der Ausfällung und anschließenden Ablagerung reiner Evaporitlagen, meist Aragonit, spielt zusätzlich die Verdunstung eine große Rolle. Im Verlauf des Jahres, wenn die Temperaturen und somit auch die Verdunstung hoch genug sind, lagert sich Aragonit als reine Phase ab.“ Doch bereits Neev & Emery (1967) zeigten, dass die Bildung von „Aragonit-Warven“ nicht auf die sommerlichen Ausfällereignisse (das sogenannte „whitening“) zurückzuführen sind. Und die oben erwähnten Autoren Barkan et al. (2001) folgern aufgrund ihrer Untersuchungen, dass zumindest ein Großteil der Aragonitausfällungen durch „Winterfluten“ (Eintrag durch den Jordan und Wadis) bedingt sind (HCO3--Ioneneintrag des Frischwassers in den Ca2+-reichen hypersalinen See). Sie widersprechen damit auch der weithin akzeptierten Auffassung, dass die „Aragonitwarven“ des Lisan-Sees8 (dem Vorgängersee des Toten Meeres) während der Sommermonate zu Zeiten erhöhter Evaporation gebildet wurden. Migowski (2001) entwickelt die Flutereigniskette nicht zu Ende, insbesondere ob die reine(re) Aragonitlage nämlich als Abschluss des Flutereignisses zu interpretieren ist, nachdem sich der feinkörnige klastische Eintrag abgesetzt hat. Demzufolge wäre die nächste Sequenz, die mit einer klastischen Lage beginnt, nicht als Beginn eines neuen Jahres zu interpretieren, sondern zunächst einmal als ein nächstes Flutereignis. Weder werden die Ausfällgeschwindigkeiten für Aragonit noch die Ausfällvolumina diskutiert. Vor allem wird nicht auf den Umstand von mehr als zwei Flutereignissen (ausgelöst durch heftige Regengüsse) in der niederschlagsreichen Herbst-/Winter-/Frühlings-Saison eingegangen. Denn mehrere, in der Anzahl schwankende Flutereignisse (oder auch keine) pro Regen-Saison würden das Konzept der Jahresschichtung bzw. der jahrgenauen Auflösung der Sedimentfolge unwahrscheinlich machen.

Jahresschichten können nicht
nachgewiesen werden.

Ungeachtet der unsicheren und umstrittenen Sachlage ist Migowski (2001, 52) der Ansicht, ihre Arbeit habe den Nachweis einer Warvierung erbracht: „Die Übereinstimmung der Sedimentationsraten beider Modelle (Warven- und 14C-Chronologie) bestätigt die Richtigkeit des jährlichen Ablagerungscharakters für die ausgezählten Abschnitte des Profils. Auf der Basis des in dieser Arbeit aufgestellten Sedimentationsmodells kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass in allen Profilabschnitten, in denen eine Ausbildung von reinen karbonatisch-evaporitischen Lagen alternierend mit klastischen Lagen vorherrscht, eine Warvierung des Sedimentprofils vorliegt.“ Wird allerdings die Vorgehensweise nachverfolgt, ist einzuwenden, dass die „Warven-Chronologie“ und die daraus folgende Berechnung der Sedimentationsraten nicht unabhängig von der „14C-Chronologie“ entwickelt wurde. Migowski beschreibt (S. 48), wie sie in einer Voruntersuchung anhand von Detailaufnahmen zunächst die Lagen zwischen den 14C-Daten der Tiefen 2,50 m und 0,22 m in Schritten von 0,5 mm vermessen und gezählt hat. Die Zählung ergab für diesen zuvor 14C-datierten Zeitraum von 1190-1450 Jahren (2 σ) 1303 ausgezählte Einzellagen, darunter 432 Aragonitlagen, die mit 432 (Warven)jahren gleichzusetzen sind (in diesem Sinne wären nur etwa ein Drittel der Jahre repräsentiert). Sie stellt fest, dass im Vergleich mit dem 14C-datierten Zeitraum von 1190-1450 Jahren eine Diskrepanz vorliegt und „die Identifikation der einzelnen Lagen nur anhand der Farben auf dem Foto nicht ausreicht“. Dies veranlasste sie, eine größere Auflösung vorzunehmen. Anschließend wurde der Abschnitt zwischen den 14C-Daten der Tiefen 3,04 m und 0,78 m nunmehr in Schritten von 0,1 mm gezählt. Diese Zählung ergab für den ebenfalls zuvor 14C-datierten Zeitraum von 1130-1500 Jahren (2 σ) 2690 Lagen; das Ergebnis (S. 48) lautet: „Die zugehörige Anzahl von Jahren (14C-Datierung) beläuft sich für diesen Abschnitt auf 1130-1500 Jahre, was dem Zählergebnis von 1505 Jahren relativ nahe kommt.“ Später heißt es (S. 51): „Da es sich bei dem aus der Zählung des warvierten Abschnittes resultierenden Alters-Tiefen-Modell um eine schwebende Chronologie handelt, wurde sie in die anhand der AMS-14C-Datierungen erstellten Alters-Tiefen-Kurve eingehängt (Abb. 5.6).“ Die Beschriftung zu Abb. 5.6 lautet sodann: „Das durch die Warvenvermessung aufgestellte Alters-Tiefen-Modell stimmt mit den AMS-14C-Daten innerhalb ihrer 2 σ-Bereiche relativ gut überein.“ Hier wird eine von 14C-Datierungen unabhängig erstellte Warven-Chronologie suggeriert, was aber anhand der zuvor erwähnten Voruntersuchung nicht der Fall ist.

Fazit. Williams et al. (2012) sehen eine Warvierung als gegeben an und haben keine eigenen diesbezüglichen Untersuchungen vorgenommen. Der Nachweis einer Warvierung im Ein Gedi-Profil im Sinne einer Jahresschichtung ist von Migowski (2001), der Originalbearbeiterin des Profils, nicht schlüssig erbracht worden. Alle Beobachtungen schließen auf eine Ereigniskette im Zusammenhang mit Frischwassereintrag in der niederschlagsreichen Herbst-/Winter-/Frühlings-Saison. Ob überhaupt und wenn ja, wie häufig Flutereignisse innerhalb eines Jahres stattgefunden haben, ist nicht bekannt. Das heißt, solange nicht eine Jahresschichtung nachgewiesen ist, können auch keine Jahre abgezählt werden. Es kann allerdings sein, dass zu einem späteren Zeitpunkt der Nachweis einer Jahresschichtung noch erbracht wird.

Der Artikel von Williams et al. (2012) hat, ohne es darauf abgesehen zu haben, für ein kurzes Aufsehen gesorgt. Am 24. 5. 2012 titelte Discovery News9: „Day of Jesus’ Crucifixion Believed Determined. It’s been debated for years, but researchers say they now have a definitive date of the crucifixion.“ Das zeugt von Oberflächlichkeit und Unverständnis, denn der Artikel hatte die Absicht, ein Erdbeben zu datieren, nicht das Datum der Kreuzigung Jesu Christi zu bestimmen. Auf diese Weise kann schnell die wissenschaftliche Integrität der Autoren in Zweifel gezogen werden.

Insbesondere sind die Schlussfolgerungen der Autoren (auf Basis ihrer gegebenen Annahmen, Diskussion s. o.) wissenschaftlich korrekt:

„Danach verbleiben drei Möglichkeiten als Ursache für das im Ein Gedi-Profil beobachtete 26-36 AD Erdbeben:

a) das im Matthäusevangelium beschriebene Erdbeben geschah mehr oder weniger wie berichtet;

b) das im Matthäusevangelium beschriebene Erdbeben war in Wirklichkeit von einem Erdbeben „entliehen“, welches sich irgendwann vor oder nach der Kreuzigung, aber während der Regierungszeit von Pontius Pilatus, ereignete;

c) das im Matthäusevangelium beschriebene Erdbeben ist eine allegorische Fiktion und der 26-36 AD Seismit wurde von einem Erdbeben verursacht, von welchem in noch vorhandenen historischen Aufzeichnungen nicht berichtet wird.“

Die genannten „Ursachen“ (b) und (c), theoretisch möglich, doch selbst schon Fiktion, zeugen vom Zeitgeist heutiger Wissenschaft, übertriebene Vorsicht im Grenzbereich Naturwissenschaft und Theologie walten zu lassen. Das war nicht immer so und ist auch heute nicht durchgängig verbreitet. Die Bibel, zunächst einmal als historische Quelle, hatte und hat in der Geologie ihren Stellenwert. So beispielsweise bei Blanckenhorn (1914, 141): „Schon die biblische Angabe des Vorkommens von ‚Pechbrunnen‘ in der Siddimau vor der Katastrophe von Sodom und Gomorrha beweist die Existenz von Erdöl- oder Asphaltquellen in der Umgebung des Toten Meeres in der Vergangenheit.“ Oder bei Neev & Emery (1995, 3): „[Die] Kenntnis von dem regionalen geologischen Hintergrund erlaubt die Übertragung der biblischen Beschreibungen in wissenschaftliche Ausdrucksweise, die nahelegt, dass die Geschichten von Sodom, Gomorrha und Jericho reale Ereignisse beschreiben, welche im Altertum stattfanden, bevor viel über Geologie bekannt war.“ Bemerkenswert dagegen Claudia Migowski, die das Erdbeben bei Jesu Kreuzigung in ihren Studien von 2001 nicht berücksichtigt, es sodann aber in der Zusammenarbeit mit ihren israelischen Kollegen in 2004 in ihrer „Seismit-Chronologie“ ergänzt.

Ein geologischer Artikel, der diese Kombination von Schlagworten aufweist – Totes Meer, Holozän, Warven, Erdbeben, Kreuzigung, Neues Testament – und welcher die Textstellen Mt 27,50-51; 28,1-2 sowie Apg 16,25-26 zitiert und im Rahmen des historischen Gesamtkontextes der Kreuzigung beschreibt und geologisch „auslegt“10, ist außergewöhnlich.

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Zusammenfassung und Ergebnis

Insgesamt geben Williams et al. (2012) einen vollumfänglichen, offenen und zu würdigenden Einblick in ihre Arbeit. Vorbildlich legen sie ihre Vorgehensweise dar und führen den Leser Schritt für Schritt durch ihre Annahmen, Ergebnisse und Schlussfolgerungen.

Sind die von Williams et al. (2012) aufgestellten Annahmen gegeben (das sind die o. g. Annahmen 1 und 3), wovon die Autoren ausgehen, so besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich zwischen 26 und 36 n. Chr. in dieser Region ein Erdbeben (ML etwa >= 6) ereignete. So betrachtet gehen die Autoren nur ein geringes Risiko ein. Selbst wenn ein größerer Fehler bei der Warvenzählung berücksichtigt wird, z. B. 62 ± 20 Warvenjahre (± 32%), gibt es in dem Zeitraum von 11 bis 51 n. Chr. kein historisch bezeugtes und qualifizierendes Erdbeben, sodass es wahrscheinlich bleibt, dass es sich um das Erdbeben bei Jesu Kreuzigung handelt.

Anders verhält es sich, wenn eine oder mehrere der Basisannahmen nicht oder nur einschränkend gegeben sind. Das ist nach dieser Analyse der Fall. Zusammenfassend wird festgestellt:

1. Die deformierten Sequenzen sind mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Seismite.

2. Die Datierung des Seismits an der Basis des Profilabschnitts (No. 29) ist nicht sicher. Die Validität der 14C-Datierung an organischem Material und Karbonaten im Milieu des Toten Meeres ist nicht bekannt. Migowskis „Warven-Chronologie“ validiert die 14C-Datierung nicht; vielmehr wurde sie vom zeitlichen Rahmen der 14C-Datierung abgeleitet. Die Zuordnung von historisch bekannten Erdbeben zu den Seismiten ist subjektiv; auch eine „Seismit-Chronologie“ kann die 14C-Datierung weder unterstützen noch validieren.

3. Die laminierten Sedimente in dem diskutierten Profilabschnitt werden als Ereignislagen interpretiert. Eine Saisonalität im Sinne einer Warvierung ist nicht nachgewiesen. Ein Ereignis (heftiger Regenfall, Sturzflut) könnte mehrmals in einem Jahr stattgefunden haben oder auch ausgeblieben sein. Eine Abzählung der Sedi-mentlagen als Kalenderjahre ist mit sehr hoher Unsicherheit behaftet.

4. Es besteht Unklarheit über vier weitere Seismite zwischen Lage No. 29 und No. 28, des Weiteren über die „Herkunft“ der Lage No. 28 selbst, welche bei der Originalaufnahme des Profils nicht ausgewiesen wurde.

5. Insgesamt wird die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dem fraglichen Seismit (No. 28) um das Erdbeben bei Jesu Kreuzigung (30-33 n. Chr.) handelt, mit deutlich kleiner 50% eingeschätzt. Das soll nicht bedeuten, dass das Beben keine seismische Deformationen an Bodensedimenten des Toten Meeres hervorgerufen haben könnte. Davon ist durchaus auszugehen. Der Einwand soll vielmehr besagen, dass nach gegenwärtigem Erkenntnisstand bei grundlegender Betrachtung eine Datierung nicht möglich bzw. mit zahlreichen signifikanten Unsicherheiten behaftet ist.
Was fehlt, sind eine oder mehrere unabhängige Zeitmarken, beispielsweise identifizierbare Aschelagen (Thera-Eruption?, auch wenn etwa 1500 Jahre früher) oder, was an der Lokalität nicht auszuschließen ist, datierbare zivilisatorische Überreste. Nur durch solche Verankerungen könnten die bisherigen Datierungsversuche validiert werden. Die aktuogeologische Situation könnte durch Aufstellen von Sedimentfallen und der weiteren Analyse des Aragonit-Ausfällmechanismus untersucht werden. Sodann müsste evaluiert werden, ob die Ergebnisse auf die Vergangenheit übertragen werden können. Weiterhin könnte der Versuch unternommen werden, die Radiokarbondatierungsmethode für das Milieu des Toten Meeres zu kalibrieren.

Es ist zu wünschen, dass die angesprochenen Datierungsunsicherheiten durch neue Erkenntnisse eingegrenzt oder beseitigt werden können. Jefferson B. Williams will seine Forschungen fortsetzen. Im Interview mit Discovery News äußerte er, dass er einem weiteren Naturereignis bei der Kreuzigung Jesu Christi nachspüre, der Finsternis. Solch eine Finsternis könnte von einem Staubsturm ausgelöst worden sein. So gilt es, die Ablagerungen auf Windeinträge hin zu überprüfen.


Dank

Dr. Martin Ernst und Dr. Reinhard Junker danke ich für die Durchsicht des Manuskripts und wertvolle Hinweise, Jefferson B. Williams für die Zurverfügungstellung der Abbildungen 3 und 4.

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Anmerkungen

1 http://www.deadseaquake.info/home/, Abfrage 8. 1. 2013

2 Wahlweise werden anstelle von „v./n. Chr.“ auch die internationalen Abkürzungen AD (Anno Domini) und BC (Before Christ) verwendet.

3 BP = before present, bezogen auf 1950

4 Eine Diskussion von 14C-Datierungsergebnissen nahegelegener archäologischer Stätten würde über den Rahmen dieses Artikels hinausgehen.

5 Ken-Tor et al. (2001a): „… the lag period due to transport and deposition of vegetation debris is very short in this arid environment, probably not more than a few decades.“ Kagan et al. (2011): „… transport time very short …“

6 Heim et al. (1997) kennen aber die Ergebnisse von Barkan et al. (2001) noch nicht und konstruieren eine Jahresschichtung: „Thus the pollen data confirms that the dark layers formed in autumn-winter-spring while the light layers were deposited during summer.“

7 Migowski et al. (2004) übernehmen die Ergebnisse von Migowski (2001).

8 Eine Diskussion der Bildung der Lisan-Formation würde über den Rahmen dieses Artikels hinausgehen.

9 http://news.discovery.com/history/jesus-crucifixion-120524.html, Abfrage 21. 12. 2012

10 Beispielsweise: Das Beben in Mt 28,1-2 wird als Nachbeben interpretiert. Die Dicke des Vorhangs zum Allerheiligsten wird diskutiert.

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Studium Integrale Journal 20. Jg. Heft 1 - April 2013