Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 19. Jg. Heft 1 - Mai 2012
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Können Schimpansen wie Menschen Steinwerkzeuge herstellen?

von Michael Brandt

Studium Integrale Journal
20. Jahrgang / Heft 1 - April 2013
Seite 4 - 9


Zusammenfassung: In Gefangenschaft lebende Zwergschimpansen lernen, mit einem Hammerstein von einem Kernstein Steinsplitter abzuspalten und diese als Werkzeuge zu benutzen,um an Nahrung zu gelangen. Die einfache Abschlagtechnik der Schimpansen unter­scheidet sich deutlich von der komplexen Abschlagtechnik der frühen Steinwerkzeughersteller.




Einführung

Im August 2012 erregte eine Veröffentlichung in der amerikanischen Fachzeitschrift PNAS großes Aufsehen, deren Ergebnis deshalb sofort einer breiten Leserschaft zugänglich gemacht wurde. Itai Roffman und Forscherkollegen hatten Experimente mit Schimpansen durchgeführt und kamen zu dem Schluss, dass Schimpansen in Bezug auf Werkzeugnutzung und Werkzeugherstellung menschenähnliche Fähigkeiten besäßen.1 Diese starke Behauptung wird nach einer kurzen Beschreibung der Versuche eingehend analysiert.

 

In Gefangenschaft lebende Zwergschimpansen lernen durch Abschauen vom Menschen mit der Hammerperkussion Splitter von Steinen abzuspalten. Dabei schlagen sie mit einem in der rechten Hand gehaltenen Hammerstein auf einen in der linken Hand gehaltenen Kernstein. Die Schimpansen hacken, graben, schaben, schneiden und bohren mit den Splittern, um an Nahrung zu gelangen, die in Baumstämme gesteckt und versiegelt oder vergraben wurde.

Die einfache Abschlagtechnik der Zwergschimpansen unterscheidet sich deutlich von der komplexen Abschlagtechnik der frühesten Steinwerkzeughersteller: Die Abschlagbewegungen sind nicht kontrolliert, die Hammersteine zeigen Hinweise auf viele Fehlschläge, die Kerne sind wenig abgebaut und die erzeugten Splitter werden nicht bearbeitet. Die Gründe dürften kognitiver und biomechanischer Natur sein.

Im Tierreich ist der Gebrauch von Steinen als Werkzeuge ein bekanntes Phänomen. Es wurde aber noch nie ein Schimpanse oder ein anderes Tier in freier Wildbahn bei der absichtlichen Steinsplitterung beobachtet.

Die Hersteller der frühesten Hinterlassenschaften der Oldowan-Kultur in Afrika sind eher echte Menschen als „Vormenschen“ gewesen, auch wenn keine sicheren Knochenüberreste von ihnen bisher in Fundplatznähe entdeckt worden sind.

Abb. 1: Der Zwergschimpanse Kanzi bei der Herstellung von Steinsplittern mit der Hammerperkussion.

 

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Steinsplitter produzierende Zwergschimpansen

In den 1990er Jahren hat man begonnen, den Zwergschimpansen (Pan paniscus) Kanzi (männlich) zu lehren, Feuersteinsplitter herzustellen, um diese als Werkzeuge einzusetzen. Er durchschnitt damit Leder, das eine Trommel verschloss, oder durchtrennte Seile, die eine Box verschnürten. In beiden Behältnissen wurde Nahrung bereitgestellt. Kanzi konnte die Absplitterung von Steinen beobachten und anschließend wurde er mit unbearbeiteten Steinen versorgt, damit er diese selber absplitterte. Später lernte auch seine Halbschwester Pan-Banisha Steinsplitter abzuschlagen (Schick et al. 1999, Toth et al. 2009). Diese Studien wurden nun erweitert.

Abb. 2: (1-5) Die dicken kortikalen Splitter schlug Kanzi von den Rändern der Kerne ab. Die dicke proximale Hälfte von 1 wurde benutzt, um kraftvoll auf den Baumstamm zu hämmern. Dann wurde die rechte distale scharfe Kante als Axt benutzt; mit ihr wurde auf den Stamm wiederholt senkrecht geschlagen. Bei diesem Vorgang löste sich der Splitter 1a und 1b (unterer und oberer Pfeil). Am kortikalen Splitter entstand dadurch eine gezähnte Kante. 1, 2 und 3 wurden als Handäxte benutzt. 4 wurde als Grabwerkzeug benutzt. (Aus Roffman et al. 2012)

Wiederum waren beide Bonobos mit der Herausforderung der Nahrungsgewinnung – diesmal unter natürlichen Bedingungen – konfrontiert. Dazu wurde Nahrung unter Steinen, in losem Sand und in festem Lehmboden vergraben. Außerdem wurde Nahrung in das Innere eines hohlen Baumstammes gesteckt und dieser anschließend versiegelt (Roffman et al. 2012).

In Gefangenschaft lebende
Zwergschimpansen lernen
Steinsplitter herzustellen und
als Werkzeuge einzusetzen,
um an Nahrung zu gelangen.

Alle Steinwerkzeuge haben Kanzi und Pan-Banisha durch direkte Hammerperkussion hergestellt. Dabei wird der Kern in der linken Hand und der Hammerstein in der rechten Hand gehalten (Abb. 1). Diese Technik war in der frühen Steinzeit vorherrschend. Dies hat man durch nachvollziehende Experimente und detaillierte Technikanalysen der prähistorischen Artefakte nachgewiesen (Schick et al. 1999).

Kanzi stellte zwei Arten von Feuersteinartefakten her: dicke Abschläge mit Rinde (Cortex) auf der Außenseite, die von der Kernoberfläche stammen (Abb. 2), und kleine Abschläge mit scharfen Kanten von tieferen Abschnitten des Kerns (Abb. 3). Pan-Banisha produzierte Splitter verschiedener Größe, aber keine dicken kortikalen Abschläge. Die Variation der produzierten Feuersteinsplitter war größer als bei vorherigen Experimenten.

Zum Graben benutzten beide Bonobos nicht beschlagene Feuersteingerölle und Splitter. Während Pan-Banisha Splitter unabhängig von ihrer Größe verwendete, benutzte Kanzi für diese Aufgabe jedoch nur dicke ovale Splitter.

Völlig verschieden war das Herangehen beider Zwergschimpansen beim Versuch, an die Nahrung in dem präparierten Baumstamm zu gelangen. Während Pan-Banisha den Baumstamm lediglich auf den Boden warf, rückte Kanzi ihm mit schweren und leichten Feuersteinstücken zu Leibe. Roffman et al. (2012) unterscheiden zwei Hauptkategorien von Oldowan-Werkzeugtypen („heavy-duty“ und „light-duty“) und suggerieren damit eine nicht vorhandene Ähnlichkeit mit echten Oldowan-Werkzeugen, wie weiter unten noch ausgeführt wird. Dicke kortikale Abschläge verwendete Kanzi als Äxte und Keile, kleine Splitter als Bohrer oder Schaber und zum Schneiden. Kanzis Werkzeugverhalten war also viel differenzierter als das von Pan-Banisha. Die als Äxte oder Keile benutzten dicken kortikalen Abschläge hinterließen Abnutzungsmuster entlang der zugeklebten Spalten auf den Baumstämmen.

Kanzi war viel erfolgreicher in der Beschaffung des Futters aus dem Baumstamm. Während er in allen 24 Versuchen an die Nahrung gelangte, schaffte dies Pan-Banisha dagegen nur in zwei Fällen.

Roffman et al. (2012) schließen von diesen Untersuchungsergebnissen auf technische Fähigkeiten in der Werkzeugnutzung und Werkzeugherstellung des Schimpansen, die denen des Menschen vergleichbar sind. Ist dieser Schluss gerechtfertigt?

Um diese Frage zu beantworten, wird im folgenden Abschnitt auf die Herstellung von Abschlägen von Kernen in der frühesten Steinzeit eingegangen. Beim Vergleich zwischen den Produkten der Zwergschimpansen und denen der frühesten Steinwerkzeughersteller ist mitzubedenken, dass die Untersuchungsergebnisse der Schimpansen nur auf zwei in langjähriger Gefangenschaft lebenden Individuen basieren und dass deren erlernte Fähigkeiten sich deutlich unterschieden.

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Bemerkenswert komplexe Abschlagtechnik schon in der frühen Steinzeit
Abb. 3: (1-5) Kleine Splitter mit scharfen Kanten, die Kanzi hergestellt und auf dem Baumstamm als Schlitzer benutzt hat. Mit 1-4 wurden bohrerähnliche Bewegungen durchgeführt. 5 wurde zum Schaben benutzt. (Aus Roffman et al. 2012)

Die ältesten bekannten Steinwerkzeuge mit typischen Merkmalen anerkannter paläolithischer Artefakte stammen aus Ablagerungen des oberen Paläozäns Frankreichs. Sie werden auf 56-59 Millionen Jahre radiometrisch datiert (Abb. 4). Diese Werkzeuge werden als Artefakte des Menschen abgelehnt, weil sie nicht in die Rahmenvorstellungen evolutionärer Abstammungstheorien des Menschen integrierbar sind (ausführliche Diskussion bei Brandt 2011a).

Die heute allgemein anerkannten ältesten Steinwerkzeugfunde stammen aus Gona in Äthiopien und werden auf 2,5-2,6 Millionen Jahre radiometrisch datiert (Semaw 2000, Semaw et al. 2003). Diese Artefakte widersprechen nicht den heute diskutierten Evolutionsszenarien; allerdings sind die Hersteller der Werkzeuge nicht sicher bestimmbar.

Die ältesten weltweit verbreiteten Steinwerkzeuge werden der Oldowan-Kultur zugeordnet. Sie wird nach der Technologie auch Mode 1 genannt. Diese Kultur wird häufig als technologisch einfach angesehen. So beschrieb Kibunjia (1994) Steinwerkzeuge aus Lokalalei nahe dem Westufer des Turkanasees in Kenia als sehr primitiv. Nur wenige Jahre später wurden jedoch Steinwerkzeuge aus einer anderen Grabungsstelle (Lokalalei 2C) des gleichen Fundgebietes mit einem völlig anderen Untersuchungsergebnis in Bezug auf ihren Komplexitätsgrad publiziert. Das Alter der Werkzeuge wird mit 2,34 Millionen radiometrischen Jahren angegeben. Die Artefakte gehören damit zu den ältesten allgemein anerkannten Steinwerkzeugen überhaupt (Roche et al. 1999, Delagnes & Roche 2005).

Der sehr gute Erhaltungszustand des Fundplatzes Lokalalei 2C erlaubte es, abgeschlagene Splitter teilweise und auch nahezu vollständig wieder zu den ursprünglichen Rohlingen (Kernen) zusammenzusetzen (Abb. 5). Auf diese Weise konnten die Steinabbaufolgen rekonstruiert werden (Abb. 6).

Die Splitterherstellung erfolgte nach ausgeklügelten technischen Regeln. Die Abschlagsbewegungen waren hochgradig kontrolliert. Von den Kernen wurden in der Regel viele Splitter abgeschlagen. Die Werkzeughersteller hatten Erfahrungen mit der Qualität des Ausgangsmaterials und dessen Spalt- und Brucheigenschaften. Einfache Abschläge wurden aus schlechtem Rohmaterial, besseres Abschlagsmaterial dagegen aus qualitativ gutem Stein gewonnen (Kasten).

Das gemeinsame Merkmal der Oldowan-Industrie ist die Herstellung von Splittern mit kontrollierter Abschlagstechnik, um scharfe Kanten zu erzeugen. Die Oldowan-Kultur weist einerseits eine Variationsbreite in der technischen Ausführung auf – von einfach bis komplex, andererseits bleibt die Variationsbreite aber zwischen 2,6 bis 1,6 Millionen Isotopenjahren unverändert (Stout et al. 2010)2. Die Oldowan-Kultur persistiert also in einem anthropologisch unermesslich langen Zeitraum (siehe Brandt 2011b).

Technologische Merkmale des Schlagplatzes Lokalalei 2C in Kenia

1. Technisch ausgeklügelte Abschlagregeln
Es wurden Steine mit geeigneten Schlagwinkeln (unter 90 Grad) ausgewählt und nur die großen flachen Flächen als Abschlagflächen genutzt. Die aufeinander folgenden und in verschiedene Richtungen ausgeführten Serien von invasiven subparallelen Abschlägen wurden so ausgeführt, dass immer flache Flächen auf dem Kern erhalten blieben.

2. Viele Abschläge im Verhältnis zur Zahl der Kerne
Im Durchschnitt wurden 18 Splitter von einem Kern abgeschlagen mit einem Minimum von 9 Abschlägen für die 13 bedeutendsten zusammengesetzten Gruppen. Von einem Kern wurden wenigstens 51 Splitter abgeschlagen. In einigen Fällen waren verschiedene Kerne (zwei oder drei) von einem Geröll abgebaut. In einem Fall war ein Geröll in verschieden große Fragmente zerbrochen und erbrachte insgesamt über 73 Splitter.

3. Hochgradig kontrollierte Abschlagbewegungen
Hammersteine und Kerne weisen auf hochgradig kontrollierte Abschlagbewegungen hin. An den Hammersteinen sind umschriebene Schlagzonen und eine hohe Dichte an Schlagnarben nachweisbar. Sie weisen auf wiederholte gleiche motorische Bewegungen hin. Die Kerne zeigen Schlagschäden von Fehlschlägen, wie es bei Ungeschicklichkeit des Steinschlägers zu erwarten wäre. Auch die Begrenzung der Schläge auf die Kanten mit geeigneten Schlagwinkeln weist auf ein genaues Verständnis der Abschlagtechnik hin.

4. Transport und Verwendung des Rohmaterials weist auf Vorausschau und Planung
Kleine Gerölle wurden unversehrt zum Fundplatz gebracht. Größere Gerölle wurden dagegen am Fundplatz gebrochen, bevor sie zum Schlagplatz transportiert wurden.

Einfache Abschläge (débitage) wurden aus schlechtem Rohmaterial hergestellt, besser gearbeitetes Abschlagmaterial dagegen aus qualitativ gutem Stein ge­­wonnen. Die Werkzeughersteller von Lokalalei 2C haben die natürlichen Schlagplattformen der kantigen Steine zur Splitterherstellung genutzt, aber sie haben keine Schlagflächenpräparation durchgeführt, d.h. sie haben keine neuen Schlagplattformen geschaffen.

Wer waren die frühesten Steinwerkzeughersteller?

Potentiell werden großaffenähnliche „Vormenschen“ aus dem australomorphen Formenkreis, deren versteinerte Überreste aus gleichalten Schichten wie die Oldowan-Werkzeuge geborgen wurden, als Werkzeughersteller diskutiert. Ein Vertreter ist Australopithecus garhi, der nur 60 km entfernt von Gona, dem frühesten allgemein anerkannten Steinwerkzeugfundplatz, in ähnlich alten Schichten gefunden wurde. Diese Art tritt etwa zeitgleich mit Australopithecus aethiopicus in Ostafrika und Australopithecus africanus in Südafrika auf. Weitere mit der Oldowan-Kultur nachweisbare „Vormenschen“-Taxa sind Australopithecus habilis, Kenyanthropus rudolfensis, Paranthropus robustus und Paranthropus boisei zwischen 2,4 und 1 Millionen radiometrischen Jahren. Es gibt keinen allgemeinen Konsens darüber, welche „Vormenschen“ potentielle Werkzeughersteller waren.

Abb. 4: Paläozäne Artefakte aus Nordfrankreich im Vergleich mit anerkannten Werkzeugen aus dem Pleistozän. Werkzeuge aus Schichten des Oberen Paläozäns: (1), (3), (5), (7) aus Belle-Assise (aus Breuil 1910), (9) aus Ercheu, (11) aus Lihus (aus Commont 1909). Anerkannte pleistozäne Artefakte aus Deutschland: (2) Chopperartiges Gerät, (4) schräger Schaber von Borgholzhausen-Cleve, (12) Kratzer aus Rindenabschlag aus Stukenbrock-W (aus Adrian 1982), (6) Feinbohrer, (8) kernartig zugerichtetes Gerät (aus Mania 1997) (1-2 1/2 Originalgröße, 3-8, 11-12 3/4 Originalgröße, 9 1/2 Originalgröße). (10) Pleistozäner Kern aus Wimereux, Pas-de-Calais, Frankreich (1/2 Originalgröße).

Die Fähigkeit zur Werkzeugherstellung wird dem frühesten fossil nachgewiesenen echten Menschen aber unbestritten zuerkannt. Fossil sicher nachgewiesen ist er in Afrika erst ab 1,8 Millionen Isotopenjahren. Da in Eurasien bisher keine Knochenüberreste von australopithecinen Formen entdeckt wurden, kommt auf diesen Kontinenten nur der echte Mensch als Verursacher von Oldowan-Werkzeugen in Betracht. Könnte auch in Afrika der echte Mensch alleiniger Hersteller der frühesten Steinwerkzeuge gewesen sein? Diese Frage drängt sich auf, da einerseits die Oldowan-Kultur weltweit ähnlich ist, anderseits aber eine deutliche morphologisch-funktionelle Kluft zwischen den frühesten echten Menschen und den „Vormenschen“ besteht. Dass so verschiedenartige Wesen über die gleiche Kultur verfügt hätten, wäre erstaunlich. Homo erectus (oder ein anderer fossil bisher nicht entdeckter echter Mensch) könnte deshalb der alleinige Schöpfer der Oldowan-Kultur auch in Afrika gewesen sein. Diese Möglichkeit wird durch die Tatsache gestützt, dass auf unserer Erde zu bestimmten Zeiten, manchmal über lange Zeiträume, Lebewesen ohne fossile Überlieferung existiert haben. Dieser Befund wird in der Paläontologie häufiger erhoben (siehe dazu ausführlich Stephan 2002). Aus diesem Grunde ist das Fehlen von Fossilien echter Menschen in der Nähe der Werkzeugfundstellen kein sehr starkes Argument dagegen, dass Menschen auch die ältesten Oldowan-Werkzeuge hergestellt haben können.

Besitzen Bonobos menschenähnliche Fertigkeiten in der Herstellung von Steinwerkzeugen wie Roffman et al. (2012) behaupten? Sind die Produkte der in Gefangenschaft gehaltenen Zwergschimpansen mit denen aus der frühesten Steinzeit vergleichbar? Im Folgenden soll diesen Fragen nachgegangen werden.

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Steinwerkzeuge von Zwergschimpansen und aus der frühen Altsteinzeit im Vergleich
Abb. 5: Ein aus mehreren Steinabschlägen zusammengesetzter Rohling (Kern) vom Fundplatz Lokalalei 2C westlich des Turkana-Sees. Die von Roche und Kollegen wieder zusammengesetzten scharfkantigen Splitter benutzten die bisher nicht identifizierten Hersteller als Werkzeuge. (Aus Stelle 1999)

Nicholas Toth und Kathy Schick (2009) haben die frühesten Steinwerkzeuge Afrikas vom Fundort Gona (Oldowan) mit den Steinwerkzeugprodukten (Kerne, Splitter) der beiden Zwergschimpansen Kanzi und Pan-Banisha verglichen. Kanzi hatte diese zunächst überwiegend mit einer eigen-ständig entwickelten Wurftechnik erzeugt, d. h. er warf einen Stein gegen einen anderen Stein oder auf einen harten Untergrund (Schick et al. 1999). Später stellten Kanzi und Pan-Banisha Splitter mit der Harthammerperkussion her. Die Artefakte der Zwergschimpansen unterscheiden sich wesentlich von denen der frühesten Steinwerkzeughersteller.

Die Bonobos bauen die Kerne weniger stark ab als die Hersteller der Oldowan-Werkzeuge. Auf den Kernen sind deshalb deutlich weniger Splitternarben nachweisbar. Ein Großteil der Hammersteine ist durch Fehlschläge an den Kanten angeschlagen. Bei den Oldowan-Hammersteinen ist dies weit weniger der Fall. Die Kerne und die Abschläge zeigen, dass die Abschlagsgeschwindigkeit nicht hoch war und die Schläge weniger kontrolliert ausgeführt worden sind als in der Oldowan-Werkzeugkultur.

Die einfache Art der Splitterherstellung
von Schimpansen unterscheidet sich deut-lich von der komplexen Abschlagtechnik
der frühen Steinwerkzeughersteller.

Roffman et al. (2012) beschreiben die von den Bonobos mit der Harthammerperkussion produzierten Splitter nicht näher, d. h. sie gehen nicht auf das Vorhandensein oder Fehlen von menschlichen Abschlagmerkmalen ein (z. B. Schlagbulbus, Schlagnarbe usw.). Allerdings beschreiben Schick et al. (1999) an den durch Werfen erzeugten Splittern von Kanzi Merkmale, die auch an den durch Hammerperkussion hergestellten Abschlägen des Menschen nachweisbar sind: dicke Schlagplattform, prominenter Perkussionsbulbus sowie stumpfe innere und spitze äußere Plattformwinkel.

Die Untersuchungen von Schick et al. (1999) und Roffman et al. (2012) zeigen, dass Bonobos zwar Splitter herstellen können, die sie zum Schaben, Schneiden, Hacken, Graben und Bohren verwenden, sie bearbeiten diese und andere Steinbruchstücke aber nicht an den Kanten wie es schon die frühesten Steinwerkzeughersteller taten. Kanzi versuchte es trotz eingehender Anleitung nicht: In einer Sitzung wurde ihm eine Anzahl großer Splitter mit sehr guten Schneidekanten gezeigt. Der Experimentator machte die scharfen Kanten stumpf und gab die Splitter dem Zwergschimpansen. Kanzi machte keine Anstalten, die stumpfen Kanten mit Hilfe eines Hammersteines zu modifizieren. Er versuchte aber mit ihnen zu schneiden, natürlich ohne Erfolg (Schick et al. 1999).

Nicholas Toth und Kathy Schick (2009) resümieren: Bonobos lernen in Gefangenschaft die Herstellung von Steinwerkzeugen, aber sie erzeugen keine Artefakte, die denen der frühesten Steinwerkzeughersteller vergleichbar sind. Die Gründe dürften kognitiver und biomechanischer Natur sein.

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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Abb. 6: Zusammengesetzter Rohling (Kern), der die komplexe Schlagtechnik am Fundort Lokalalei 2C in Kenia zeigt. Unidirektionale (eine Richtung) oder multidirektionale (mehrere Richtungen) abgeschlagene Splitter wurden von einer einzigen Schlagoberfläche entfernt. Dabei wurden natürliche oder präparierte, d.h. vom Steinschläger künstlich geschaffene Schlagplattformen genutzt. Auf diese Art und Weise wurde eine optimale Anzahl an Splittern hergestellt. (Aus Roche et al. 1999)

Steinwerkzeuggebrauch ist bei verschiedenen Tierarten bekannt. Beispielsweise benutzen Geier der Gattung Neophron (Schmutzgeier) Gerölle, um Eier aufzuschlagen, Seriema-Vögel der Gattung Cariama töten Beute, in dem sie mit Steinen auf sie schlagen und Cebus-Kapuzineraffen benutzen Steine als Hammer, um damit Nüsse auf flachen Ambosssteinen aufzuschlagen. Schimpansen zeigen jedoch das am höchsten entwickelte Verhalten im Umgang mit Werkzeugen unter allen nichtmenschlichen Lebewesen. Es wurden aber noch nie Schimpansen (oder andere nichtmenschliche Primaten) in der Wildnis beobachtet, die absichtlich Steine splittern. Deshalb hinterlassen sie keine Steine, die der Oldowan-Kultur vergleichbar sind (Toth & Schick 2009).

Jedoch hatten Mercader et al. (2002) vermutet, dass an einer Lokalität in Westafrika, wo Nüsse von Schimpansen mit Hilfe von Steinen geknackt worden sind, die steinernen Hinterlassenschaften den Artefakten von frühen Oldowan-Fundplätzen ähnlich seien. Nach Schick & Toth (2009) ist dieses Material jedoch den meisten Oldowan-Artefakten unähnlich und nicht das Ergebnis absichtlichen Perkussionssplittens, sondern nur ein Nebenprodukt des Nüsseknackens.

Die in Gefangenschaft lebenden Bonobos Kanzi und Pan-Banisha lernten die Herstellung von Steinsplittern mit der Hammerperkussion, die sie sich vom Menschen abschauten. Kanzi entwickelte außerdem eine eigene Splittertechnik, indem er einen Stein gegen einen anderen Stein oder einen festen Untergrund warf.

Gefangene Schimpansen verfügen über weit geringere Fähigkeiten Steinwerkzeuge zu produzieren als die frühen Steinwerk-zeughersteller der Oldowan-Kultur.

Die beiden Zwergschimpansen wählen unter den erzeugten Splittern geeignete Stücke aus, mit denen sie hacken, graben, bohren, schaben und schneiden, um an Nahrung zu gelangen, die sich in präparierten Behältern befindet oder in der Erde vergraben ist. Sie legen dabei ein unterschiedlich differenziertes Verhalten an den Tag.

Die Fähigkeit der Steinsplitterung ist bei gefangenen Zwergschimpansen weit geringer entwickelt als bei den frühesten Steinwerkzeugherstellern der Oldowan-Kultur. Bonobos beherrschen nicht die Technik des kontrollierten Abschlages mit hoher Geschwindigkeit. An den Hammersteinen sind viele Fehlschläge nachweisbar und die Kerne sind nur gering abgebaut. Im Gegensatz zu den Oldowan-Werkzeugherstellern lernen es Zwergschimpansen nicht, Steinkanten zu bearbeiten.

Die Hersteller der frühesten Steinwerkzeuge in Afrika sind eher echte Menschen als „Vormenschen“ gewesen, auch wenn bisher keine sicheren Knochenüberreste von ihnen in Fundplatznähe entdeckt worden sind.

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Anmerkungen

1 „... present-day Pan exhibit Homo-like technological competencies.“

2 Die frühesten Faustkeile, die Markenzeichen der Acheuléen-Kultur sind, sind in Afrika vor 1,76 Millionen radiometrischen Jahren nachgewiesen (Lepre et al. 2011).

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