Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 17. Jg. Heft 2 - November 2010
Druckerfreundliche Ansicht dieser Seite


Sean M. Carroll
From Eternity To Here

Rezension von Peter Trüb

Studium Integrale Journal
17. Jahrgang / Heft 2 - November 2010
Seite 117 - 118


Sean M. Carroll
From Eternity To Here
Dutton Adult 2010
448 Seiten

Sean Carroll ist Vertreter einer jungen Generation von Wissenschaftlern, welche virtuos die Möglichkeiten des Web 2.0 einsetzt. Der Leser erhält die neuesten Informationen zum Buch nicht nur über Twitter-Feed, Facebook-Gruppe oder Youtube-Video, sondern kann dank des interaktiven Book-Clubs auf dem bekannten Blog „Cosmic Variance“ auch direkt Fragen an den Autor richten. So trendig die Vertriebskanäle, so aktuell die Themen, mit denen sich der theoretische Physiker am California Institute of Technology in diesem Buch beschäftigt. Fragen wie „Was geschah vor dem Urknall?“ oder „Leben wir in einem Multiversum?“ sind derzeit nicht nur beliebte Gesprächsthemen unter Physikern, sondern werden auch von den Medien aufgegriffen.

Aufgebaut ist das Buch rund um die Frage nach dem Wesen der Zeit, was bereits aus dem Untertitel des Buches „Auf der Suche nach der ultimativen Theorie der Zeit“ ersichtlich wird. Im ersten Teil des Buches wird erläutert, welche Bedeutung das Konzept der Zeit in der Physik und im speziellen in der Kosmologie besitzt. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Tatsache gerichtet, dass durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik eine Zeitrichtung besonders ausgezeichnet wird, obwohl die bekannten fundamentalen Naturgesetze nicht zwischen Vergangenheit und Zukunft unterscheiden. Diese beiden scheinbar widersprüchlichen Sachverhalte miteinander zu versöhnen, ist das eigentliche Ziel des Autors. Bevor er sich dieser Aufgabe widmet, erläutert Sean Carroll im zweiten Teil des Buches in allgemeinverständlicher und unterhaltsamer Weise, wie unser herkömmliches Verständnis der Zeit durch die Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie von Albert Einstein revolutioniert wurde. Nach einem Exkurs über Zeitreisen in die Vergangenheit kehrt er im dritten Teil zu seinem eigentlichen Kern-Thema, dem Zusammenhang zwischen dem Zeitpfeil und dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zurück. Sean Carroll führt unsere Erfahrung, dass die Zeit in eine bestimmte Richtung läuft, auf dieses Gesetz der Wärmelehre zurück, welches besagt, dass die Entropie in abgeschlossenen Systemen kontinuierlich zunimmt. Nach allem, was wir wissen, bevorzugen jedoch alle fundamentalen Gesetze der Allgemeinen Relativitätstheorie wie auch der Quantenphysik keine bestimmte Zeitrichtung. Offensichtlich kann die Gültigkeit des zweiten Hauptsatzes nicht durch diese Theorien erklärt werden. Um das Universum verstehen zu können, muss außer der Gültigkeit der genannten Theorien zusätzlich angenommen werden, dass das Universum in einem sehr speziellen Zustand mit niedriger Entropie seinen Anfang nahm. Im vierten Teil des Buches diskutiert Sean Carroll verschiedene Ansätze, die versuchen, diese spezielle Anfangsbedingung zu begründen. Dabei stellt er fest, dass weder das anthropische Prinzip noch das gegenwärtige kosmologische Standardmodell in der Lage ist zu erklären, weshalb das Universum in einem Zustand niedriger Entropie gestartet ist.

Im abschließenden Kapitel präsentiert er schließlich seinen eigenen Lösungsvorschlag, auf welchen der Leser nun seit mehr als dreihundert Seiten gespannt wartet. Als Startpunkt wählt der Autor ein Universum, das sich außer einer positiven Vakuumsenergie in einem beliebigen Zustand befindet. Ein solches Universum wird sich immer weiter ausdehnen und sich einem leeren Universum im thermodynamischen Gleichgewicht annähern. Nimmt man an, dass in einer Theorie der Quantengravitation auch die Raumzeit selbst zufälligen Fluktuationen unterworfen ist, könnten aus dieser Situation neue „Baby-Universen“ entstehen. Der Autor schlägt vor, dass der Anfangszustand unseres Universums durch eine solche Fluktuation kombiniert mit einer Energie-Fluktuation entstanden sein könnte und sich daraufhin gemäß dem Urknallmodell weiter entwickelte. Da sich die Geschichte des zu Beginn gewählten Universums nach Carroll auch in umgekehrter Zeitrichtung genau gleich abspielen würde, hätten wir damit eine zeit-symmetrische Kosmologie, die nicht von einem speziell gewählten Anfangszustand abhängt. Der Autor ist ehrlich genug einzugestehen, dass dieses Modell hochgradig spekulativ ist und vielleicht nicht die richtige Erklärung für die Tatsache ist, dass die Zeit in eine bestimmte Richtung verläuft.

Um Carrolls Argumentation nachvollziehen zu können, ist es notwendig, seine Denkvoraussetzungen zu kennen, die an verschiedenen Stellen im Buch zum Ausdruck kommen. Am bedeutsamsten ist seine Annahme, dass der Mensch und sein Verstand (engl. mind) Teil der natürlichen Welt sind und durch die physikalischen Gesetze beschrieben werden können. Insofern ist auch die menschliche Erfahrung der Zeit für Carroll ausschließlich auf den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zurückzuführen. Die Zukunft unterscheide sich von der Vergangenheit lediglich dadurch, dass die Entropie in Zukunft höher sein wird, das heißt, dass die Anzahl der möglichen physikalischen (Mikro-) Zustände für die Zukunft höher ist. Aus rein naturalistischer Sicht ist diese Ansicht sicher folgerichtig, widerspricht jedoch der menschlichen Erfahrung, dass wir die Vergangenheit erlebt haben und nicht mehr ändern können, die Zukunft aber offen vor uns liegt. Wie bei einem typischen theoretischen Physiker ist ein weiterer Grundsatz seiner Vorgehensweise das Streben nach Symmetrie. Aus diesem Grunde kann er sich mit dem gegenwärtigen Standardmodell der Kosmologie nicht anfreunden, da es mit dem Urknall zwar einen Anfang in der Zeit kennt, nach heutigem Wissensstand jedoch kein Ende haben wird. Ebenso unbefriedigend findet er, den Beginn des Universums als nicht weiter begründbare Tatsache akzeptieren zu müssen. Auch hier geht sein Bestreben dahin, diesen durch natürliche, sprich physikalische Prozesse erklären zu können.

Auch unter Kosmologen wird wahrgenommen, dass unser Universum
Eigenschaften aufweist, die von einem
naturalistischen Standpunkt her als
unnatürlich beziehungsweise erklärungs-
bedürftig empfunden werden.

Das vorliegende Buch zeigt sehr schön auf, wie auch unter Kosmologen wahrgenommen wird, dass unser Universum gewisse Eigenschaften aufweist, die von einem naturalistischen Standpunkt her als unnatürlich beziehungsweise erklärungsbedürftig empfunden werden. In unserem Fall ist dies die Tatsache, dass die Entropie des Universums sehr viel kleiner ist als sie sein könnte. An anderer Stelle ist es die Feinabstimmung von physikalischen Konstanten, die Erklärungsbedarf hervorruft. Bemerkenswert ist auch die Lösung, die von Carroll vorgeschlagen wird: das Multiversum. Der Autor ist eher bereit, ein – wie er selber eingesteht – vielleicht nie testbares Konzept einzuführen, als auf eine naturalistische Erklärung für die niedrige Entropie des Universums zu verzichten. Damit wird eine weltanschauliche Gebundenheit deutlich, derer sich der Autor erfreulicherweise bewusst ist.

Carroll kommt in seinem Buch auch auf die Möglichkeit zu sprechen, dass das Universum von Gott in einem Zustand niedriger Entropie erschaffen wurde. Diese Option kann er nicht vollständig ausschließen. Er lehnt sie jedoch ab mit dem Argument, dass sich die Vorgehensweise, ungelöste Fragen durch ein Eingreifen Gottes zu erklären, in der Wissenschaftsgeschichte bisher nicht bewährt habe. So hätte die Entdeckung der Impulserhaltung die Erfordernis nach einem „Ersten Beweger“ überflüssig gemacht, Darwin das Bedürfnis nach einem Schöpfer des Lebens aufgehoben und das Multiversum-Konzept nun möglicherweise auch die niedrige Entropie unseres Universums erklärt. Generell ist Carroll nicht gut auf Kreationisten zu sprechen, welchen er an anderer Stelle im Buch (teilweise sicher berechtigt) vorwirft, den zweiten Hauptsatz fälschlicherweise als Argument gegen eine natürliche Lebensentstehung vorzubringen. Ob die Entstehung des Lebens durch Darwins Selektionstheorie wirklich geklärt ist, darf aus anderen Gründen sicher bezweifelt werden. Was die Physik betrifft, mag Carroll mit seiner Aussage richtig liegen. Im Gegensatz zur Biologie ist in der Physik bislang keine Grenze erkennbar, an der die Methode, alle Phänomene naturalistisch zu erklären, halt machen müsste. Kritisch anzumerken ist außerdem, dass im Rahmen eines theistischen Weltbildes nicht einfach ungelöste Fragen durch Gottes Eingreifen erklärt werden, sondern durchaus differenzierter argumentiert wird.

Für wen lohnt sich die Lektüre des immerhin mehr als vierhundertseitigen Buches, angesichts der unbiblischen Denkvoraussetzungen des Autors? Sicherlich für jene, die gerne allgemeinverständliche Literatur über faszinierende Themen der modernen Theoretischen Physik lesen. Wer ein Buch sucht, das in verständlicher Sprache Konzepte wie die Entropie, die Unschärferelation der Quantenmechanik, Schwarze Löcher oder die Inflation erklärt, ist mit diesem Werk sicher gut bedient. Enttäuscht sein wird wohl jener Leser, der eine allgemeine Einführung in die Kosmologie erwartet, weil wichtige Themen wie dunkle Materie, dunkle Energie oder die kosmische Hintergrundstrahlung nur am Rande vorkommen. Auch wer sich nur über das konkrete Modell von Sean Carroll informieren will, ist anderweitig wohl besser bedient, da dieses vom Autor absichtlich nur in einem relativ kurzen Kapitel am Ende des Buches erläutert wird. Wer hingegen bereits Stephen Hawkings „Eine Kurze Geschichte der Zeit“ mit Genuss gelesen hat, sollte sich auch das vorliegende, nach Meinung des Rezensenten eindeutig empfehlenswertere Buch nicht entgehen lassen. Im Gegensatz zu Hawking, der sich in Illustrationen schon mal gerne selbst in Szene setzt, ist Carrolls bescheidenere Art um einiges angenehmer. Darüber hinaus kann das Buch mit seiner lebendigen Sprache und anschaulichen Erklärungen auch als Vorbild dienen, wie man komplexe Sachverhalte einem breiteren Publikum zugänglich machen kann.


zum Seitenanfang

Studium Integrale Journal 17. Jg. Heft 2 - November 2010