Einführung
Der Genbestand für die wichtigsten Funktionen der Lebewesen, die Zellen mit Zellkernen haben, ist bei allen Arten mehr oder weniger gleich. Ein bekanntes Beispiel ist ein wichtiger Regulator für die Entwicklung von Augen, pax, der zwischen Mäusen und Fliegen austauschbar ist. Auch Hox-Gene treten in nahezu jedem Lebewesen, von Quallen bis Menschen auf und werden für die Entwicklungssteuerung der Körperachsen und -abschnitte benötigt, während der Organismus heranwächst. Aber auch Strukturen oder Stoffwechselwege finden sich mit jeweils vergleichbaren Genen in jedem Organismus wieder. Wenn nun dieser grundlegende Genbestand so ähnlich ist, worin unterscheiden sich dann eigentlich Wurm und Mensch? Eine Theorie besagt, dass die Steuerungsgene in den jeweiligen Organismen im Laufe der Evolution immer wieder „neu verdrahtet“ wurden allerdings ein hypothetischer, wenn nicht gar spekulativer Prozess (Diskussion bei Junker 2009). Khalturin und Mitarbeiter (2009) stellen nun eine weitere, ihrer Meinung nach ergänzende Hypothese vor: In jedem bislang komplett sequenzierten Organismus finden sich etwa 10-20% Gene, die man sonst in keiner weiteren Art oder Familie findet Waisengene. Könnte es nicht sein, so fragen die Forscher, dass hier ein weiterer Schlüssel für die Unterschiedlichkeit der Organismen liegt?
Der Begriff „Waisengen“ wird jedoch vielleicht vorschnell vergeben; es könnte ja sein, dass durch neue Forschungen vergleichbare Gene in weiteren Organismen gefunden werden. In der Tat haben enger verwandte Arten (Familien) oft einen gemeinsamen Bestand an Waisengenen, der nur in dieser Gruppe vorkommt. Man spricht daher besser von „taxonomisch begrenzt vorkommenden Genen“, ich bleibe der Einfachheit halber jedoch bei „Waisengen“. Die ursprüngliche Hypothese, dass mit mehr Sequenzdaten die Waisengene verschwinden würden hat sich nicht bestätigt. Trotz des exponentiellen Anwachsens der Sequenzdaten in Datenbanken verbleibt dieser „Bodensatz“ von 10-20%. Diese Beobachtung führte zu der Vermutung, dass der entsprechende Genbestand jeweils mit der Anpassung an eine bestimmte Nische einhergeht. Beispielsweise sind zwei Fadenwurmarten komplett sequenziert, sie sind morphologisch kaum unterscheidbar, aber auch hier konnten jeweils 11% der Gene nicht im Genom des anderen Wurm gefunden werden. Waisengene kommen also überall vor, aber was ist ihre Funktion? Einen Hinweis geben die Forschungen von Khalturin und Mitarbeitern (2009) an Nesseltieren.
Zu den Nesseltieren zählen Quallen, Süßwasserpolypen, Korallen und Blumentiere. Diese Organismen sind vergleichsweise einfach aufgebaut, besitzen aber die komplexesten Zellen aller Tiere überhaupt, die Nesselzellen. Diese Zellen sitzen nach außen gerichtet in der Haut der Tiere, bei Berührung platzen sie auf und entlassen einen Schlauch, der sich wie ein umstülpender Handschuh entfaltet. Die Geschwindigkeit, mit der sich dies vollzieht, ist unglaublich hoch, so dass ein Nesselschlauch zum Teil mit der Wucht einer Gewehrkugel ausgestoßen wird. Der Schlauch durchdringt die Haut von Beutetieren oder dient auch manchen Nesseltieren zum Festhalten, wenn sie auf Wanderschaft gehen. Oft wird auch ein Gift injiziert; bei der Seewespe eine vor Australien vorkommende Würfelqualle reicht die Berührung weniger Tentakel, um getötet zu werden.
Zurück zu den Waisengenen. In einem Genom-weiten Screening wurden möglichst alle Gene erfasst, die für die Nesselzellbildung bei Süßwasserpolypen (Hydra) notwendig sind. Es konnten 51 Gene identifiziert werden und von diesen finden sich 41 nur in Süßwasserpolypen, aber nicht in anderen Tieren. Die wichtigste strukturelle Komponente der Nesselkapseln sind kurze Proteine, die „Minikollagene“ genannt werden. Sie enthalten eine Domäne (das ist ein öfter vorkommendes Teilstück eines Proteins), die in ähnlicher Form im Bindegewebe-Eiweiß anderer Tiere (Kollagen-Domäne) vorkommt, und die Minikollagene sind außerdem reich an der Aminosäure Cystein. Über eine chemische Bindung werden diese Minikollagene an ein weiteres Kapselprotein gebunden und stabilisieren so die Wand der Nesselzelle. Auch die Stacheln der Nesselzellen enthalten ein besonderes Protein, das Spinalin. Hier haben wir also mehrere taxonomisch begrenzt vorkommende Gene mit definierter Funktion. Es wird vermutet, dass solche Gene vorwiegend durch Genduplikation zustande kommen. Die neue Kopie ist nun im Lauf der Evolution in der Lage, eine neue Funktion anzunehmen und wird dadurch vermutlich zu einem „taxonomisch begrenzt vorkommenden Gen“, einem Waisengen. Auch die Steuerung der Nesselkapselproteine während der Herstellung von Nesselkapseln erfolgt mit völlig anderen Faktoren, d. h. bislang unbekannten Proteinen. Auch diese sind damit wiederum selbst Waisengene. Die Autoren schreiben daher (Übertragung): „Zusammengenommen scheint die Erfindung eines neues morphologischen Merkmals wie das der Nesselkapseln eng mit der Evolution von taxonomisch begrenzten Genen zusammenzuhängen“ (Khalturin et al. 2009).
Ein weiteres Merkmal von Nesseltieren sind die antibakteriellen Peptide. Nesseltiere besitzen keine besondere Barriere gegen das umgebende Wasser und sind so dem Angriff von Krankheitserregern leicht ausgesetzt. Der Süßwasserpolyp Hydra produziert Periculin, ein Protein, das durch ein Waisengen codiert wird. Auch die Ohrenqualle Aurelia hat ein ihr eigenes Verteidigungspeptid, Aurelin, ebenfalls von einem Waisengen codiert. In ähnlicher Weise besitzen Fliegen das Diptericin und Säugetiere das Psoriasin.
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