Neue molekularbiologische Untersuchungen zur Systematik der Angiospermen aufgrund des Vergleiches einer größeren Zahl von Plastidengenen.
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Abb. 1: Zweigstücke des Gewöhnlichen Hornblatts (Ceratophyllum demersum), einer heimischen Unterwasserpflanze. Ihre Stellung im System ist unklar. Aber auf jeden Fall unterscheidet sie sich von allen Zweikeimblättrigen Pflanzen in morphologischer ebenso wie in molekularer Hinsicht. (Wikipedia, Public Domain) |
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„Neue umfangreiche molekularbiologische Untersuchungen zweier Arbeitsgruppen bestätigen nunmehr das schnelle, ja explosionsartige Auftreten dieser mit knapp 300.000 Arten größten Pflanzengruppe (Jansen et al. 2007, Moore et al. 2007). Die Basis für die Untersuchungen war denkbar groß, indem die Gensequenzen von 81 bzw. 61 Plastidengenen (vgl. Kasten) bei 64 bzw. 45 ausgewählten rezenten Vertretern der Angiospermen verglichen wurden. Wegen der großen Anzahl untersuchter Gene scheint der für einige vorgehende Analysen zutreffende Vorwurf, es würde statt der Stammesgeschichte lediglich das Schicksal eines einzigen Gens oder weniger Gene verfolgt, zu entfallen. Dennoch muss kritisch eingewandt werden, dass weder Gene des Zellkerns noch solche der Mitochondrien und auch keine morphologischen Merkmale berücksichtigt wurden. Außerdem mag zwar eine größere Anzahl von Plastidengenen die Auflösung der verwandtschaftlichen Beziehungen erhöhen, da mehr Merkmale untersucht werden können, aber es ist zu beachten, dass das Plastidengenom nur aus einem einzigen Molekül besteht, und daher die Daten nicht voneinander unabhängig sind, sondern lediglich einen einzigen, wenn auch umfangreichen Merkmalskomplex darstellen.
Bemerkenswert ist in dem Zusammenhang ein Artikel über die genannten Arbeiten in der Online-Zeitschrift spektrumdirekt (Marty 2007), in welchem der Autor einem größeren Leserkreis die Situation des „abscheulichen Geheimnisses“ nochmals eindrücklich bewusst macht. So heißt es u.a. „... Ihren außerordentlichen Artenreichtum hätten die Bedecktsamer also schlagartig hervorbringen müssen ... Vermutlich entfalteten sie den Großteil ihrer grünen Pracht innerhalb weniger Millionen Jahre im Maßstab der Evolution nicht mehr als ein Wimpernschlag ... Warum die Artenvielfalt so plötzlich explodierte, wissen die Forscher allerdings immer noch nicht. Darwins Wissen ist damit zwar überholt sein 'abscheuliches' Geheimnis bleibt aber wohl noch eine Weile ungelüftet.“
Nun zu den Ergebnissen der Arbeitsgruppen um Robert K. Jansen (Jansen et al. 2007) und Douglas E. Soltis (Moore et al. 2007): Das Plastidengenom der Angiospermen umfasst 129 Gene, von denen 16 zweimal vorhanden sind. 18 Gene besitzen Introns, das sind nicht codierende DNA-Abschnitte innerhalb eines Gens. Von 15 Genen und einer Gruppe von 11 Genen ist bekannt, dass sie bei einzelnen Arten fehlen können. Gelegentlich fehlen mehrere gleichzeitig. Den bisherigen Rekord hält die Passionsblume, der 9 Plastidengene + 2 Introns fehlen. Viele Arten aber verfügen über das volle Gensortiment. Die Annahme, dass sich die fehlenden Plastidengene im Kerngenom wiederfinden, konnte bisher in zwei Fällen nachgewiesen werden.
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Abb. 2: Phylogramm der Angiospermen auf der Basis des Vergleichs von 61 Plastidengenen bei 45 ausgewählten Pflanzen nach Moore et al. (2007). Die Zahlen an den Verzweigungen geben auf verschiedene Weise berechnete statistische Absicherungen an und können trotz teilweise extrem kurzer horizontaler Astlängen (z.B. nach der Abzweigung der basalen Angiospermen) mit nur einer Ausnahme (der Verbindung der drei obersten Arten im Baum mit dem Rest) als signifikant angesehen werden. Die Strichlänge unten links ist das Maß für die Astlängen und bedeutet 0.05 Austausche pro Nukleotidposition oder, als grobe Annäherung, ca. 5% Sequenzunterschied. |
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Welche Gene fehlen und wie viele, korrespondiert im Allgemeinen nicht mit dem aufgestellten Stammbaum, d.h. es gibt diesbezüglich zahlreiche Konvergenzen. So ist z.B. das Gen clpP dreimal und das Gen infA elfmal „verloren gegangen“. Das heißt, wir haben auch hier wieder die bei „Stammbäumen“ so häufig auftretende Situation, dass man unter der Annahme einer gemeinsamen Abstammung das mehrfache unabhängige Entstehen solcher Verluste postulieren müsste. Auffällig ist, dass die „Genverluste“ nicht die basalen Gruppen der Bedecktsamer betreffen, sondern sich auf die mehr abgeleiteten Gruppen innerhalb der Einkeimblättrigen und Zweikeimblättrigen beschränken. Was dieses Phänomen zu bedeuten hat, ist derzeit offenbar noch ungeklärt.
Grundsätzlich geht man bei allen molekularbiologischen Untersuchungen im evolutionstheoretischen Rahmen davon aus, dass die festgestellten Ähnlichkeitsbeziehungen, die man als Kladogramm (gabeliges Verzweigungsschema) darstellen kann, als Stammbaum der betreffenden Gruppe interpretiert werden können. Welche Probleme mit der Auswertung solcher Daten verbunden sind, wird ausführlich in Kapitel 10.2 des Lehrbuchs von Junker und Scherer (2006) erläutert (siehe auch Kasten). Dennoch sind die Ergebnisse solcher Vergleiche oftmals aufschlussreich, vor allem wenn sie wie im vorliegenden Fall auf eine relativ breite Basis gestellt wurden.
Die Ergebnisse bzw. ihre Interpretation bestätigen in groben Zügen die ersten Ergebnisse entsprechender molekularbiologischer Studien, wie sie bereits von Chase et al. (1993) vorgelegt wurden und die auch Aufnahme in die 34. Auflage (1998) des von Strasburger begründeten Lehrbuchs der Botanik gefunden hatten. In weiten Abschnitten gehen sie auch mit Einteilungen aufgrund der Morphologie einher. Bei genauerem Betrachten zeigen sich aber doch auch deutliche Unterschiede, und manche Abzweigungen im Kladogramm fallen auch heute noch je nach verwendetem Auswertungsverfahren und je nach zugrunde gelegten Datensätzen unterschiedlich aus. Besonders auffällig sind die Diskrepanzen bei der auch in Deutschland vertretenen isolierten Ordnung der Ceratophyllales mit der einzigen Gattung Ceratophyllum (Hornblatt), einer hornartig versteiften, untergetaucht lebenden Wasserpflanze (Abb. 1). Diese Gattung nimmt in den acht alternativen Kladogrammen, die Moore et al. (2007) exemplarisch darstellen, auch acht verschiedene Positionen ein, darunter aber bemerkenswerterweise nicht die im Strasburger (1998) herausgestellte Position als Schwestergruppe aller übrigen Bedecktsamer (siehe auch Kasten, Stichwort Kladogramm).
Betrachten wir die neu vorgelegten „Stammbäume“ etwas genauer, so fällt zunächst auf, dass wir wegen geringer Unterschiede der basalen Gruppen (d.h. der als ersten von den anderen abzweigenden Gruppen) keine Bäume, sondern eher Sträucher vorfinden. Dieses Bild ist auch von anderen Organismengruppen bekannt.
Bei den Angiospermen ist auffällig, dass die „Sträucher“ stark asymmetrisch sind, indem eine ganze Reihe von isolierten, meist wenig artenreichen und meist nur dem Spezialisten bekannten Ordnungen an der Basis steht und sich jeweils vom ganzen Rest absetzt (Abb. 2). Die erste Abzweigung dieser Art wird durch die Ordnung der Amborellales gebildet, zu der nur die eine Art Amborella trichopoda (Abb. 3) gehört, ein immergrüner Strauch, der in seiner Verbreitung auf die vor Australien gelegene Inselgruppe Neukaledonien beschränkt ist. Vom verbleibenden Rest hebt sich die Seerosenverwandtschaft (Nymphaeales) mit den Gattungen Nymphaea (Seerose) und Nuphar (Teichrose, Abb. 4) ab. Es folgen die artenarmen Ordnungen Austrobaileyales mit z.B. der Gattung Illicium und Chloranthales mit der Gattung Chloranthus. Die Länge der Gabeläste als Maß für die Unterschiede (in der Grafik durch die Länge der Striche in der Horizontale bis zur Abzweigung dargestellt) sind teilweise minimal.
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Abb. 4: Die Gelbe Teichrose (Nuphar lutea) bildet mit weiteren Vertretern der Seerosengewächse eine der untersten Abzweigungen im „Stammbaum“ der Bedecktsamigen Blütenpflanzen. Sie ist eine auch bei uns heimische Schwimmblattpflanze. Man erkennt die typische Blüte und eine dem Wasser aufliegende Spreite. (Foto: R. Junker) |
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Aus praktischen Gründen werden die kleinen asymmetrischen Verzweigungen zusammengefasst. So werden z. B. in Abb. 2 die „untersten Äste“ mit Amborella, Nymphaea + Nuphar und Illicium als „basale Angiospermen“ bezeichnet. Davon abweichend schließen Jansen et al. (2007) noch weitere Gruppen wie etwa Chloranthus und die Magnolienverwandten (Magnoliids) mit in die basalen Angiospermen ein.
Für alle, die sich in den letzten Jahren nicht mit neueren Ergebnissen der Systematik der Blütenpflanzen beschäftigt haben, zeigt Abb. 2 weitere Überraschungen. So ist vor allem die altbekannte Zweiteilung der Bedecktsamer in die klar getrennten Äste der Einkeimblättrigen (Monocotyledoneae) und Zweikeimblättrigen (Dicotyledoneae) aufgehoben, was sich allerdings auch vorher schon zunehmend aufgrund von morphologischen Kriterien abzeichnete. Stattdessen „erscheinen“ praktisch gleichzeitig drei Gruppen (Klassen) mit jeweils starker basaler Verzweigung, nämlich die bereits genannten „basalen Angiospermen“ unter Einschluss der Magnoliidae (Magnoliopsida oder „Einfurchenpollen-Zweikeimblättrige“), aus denen sowohl die Eigentlichen Dikotylen (Rosopsida = Eudicots) als auch die Monokotylen (Liliopsida = Monocots) hervorgehen. Im Groben ist diese Gliederung schon seit einigen Jahren bekannt (vgl. Strasburger 1998). Bei den hier vorgestellten Untersuchungen ging es hauptsächlich darum, die im Detail noch unklaren basalen Verzweigungen besser aufzulösen. Dies ist auch für manche Bereiche geglückt, aber z.B. die genaue Stellung der drei großen Gruppen zueinander ist nach wie vor unklar, da sie selbst bei gleicher Datengrundlage von den verwendeten Auswertungsverfahren abhängig sind, z.B. ob man die Unterschiede sog. schneller oder langsamer Gene miteinander vergleicht.
Aus molekularbiologischer Sicht kann man die vorgelegten Ergebnisse für den Augenblick so zusammenfassen, dass die methodischen Probleme bei der Rekonstruktion der Beziehungen der basalen Linien noch heftig diskutiert werden, auch wenn in der einen oder anderen Frage sich ein Konsens herauszubilden scheint, so z.B. in Bezug auf die basale Position von Amborella oder das Schwestergruppenverhältnis von Einkeimblättrigen (Monocots) und Eigentlichen Zweikeimblättrigen (Eudicots) (siehe auch Kasten, Stichwort Phylogramm).
Plastidengenom: Die in typischen Pflanzenzellen als Organellen enthaltenen Plastiden besitzen ein eigenständiges, vom Zellkern unabhängiges Erbgut. Die bekannteste Zustandsform (Modifikation) der Plastiden stellen die photosynthetisch aktiven Chloroplasten dar. Deshalb spricht man auch vom Chloroplastengenom. Die DNA der Plastiden ist ringförmig angeordnet und umfasst im vollständigen Satz 129 Gene. Das Plastidengenom wird meist mütterlicherseits übertragen. Es gibt aber auch Fälle, wo es von beiden Eltern und sogar solche, wo es nur väterlicherseits (also durch den Pollen) vererbt wird. Mitochondriengenom: Auch die winzig kleinen, sowohl in pflanzlichen als auch in tierischen Zellen vorhandenen Mitochondrien besitzen ein eigenes Erbgut. Mitochondriengene wurden in den hier besprochenen Arbeiten nicht untersucht. Kladogramm: Das ist allgemein die grafische Darstellung genetischer Unterschiede in Form eines Baumes, bei dem sich im Idealfall jede Linie in zwei Tochterlinien aufspaltet. Ein Kladogramm gibt also nur die Art und Reihenfolge der Verzweigungen an (d.h. die Topologie des Baumes). Diese Anordnung ist aber wesentlich von den für die Rekonstruktion des Baumes verwendeten Kriterien abhängig. Unterschiedliche Auswertungsverfahren desselben Datensatzes können zu unterschiedlichen Bäumen führen. Dies gilt z. B. auch für die im Text erwähnten acht verschiedenen Kladogramme in Moore et al. (2007), in denen z. B. die Gattung Ceratophyllum (Hornblatt) acht verschiedene Plätze einnimmt; sie beruhen alle auf den gleichen Daten. Zu weiteren Problemen der Interpretation von Kladogrammen vgl. Junker & Scherer (2006, Kapitel 10.2). Phylogramm: Es enthält über das Kladogramm hinaus Informationen über die Länge der Äste als Maß für die Größe der jeweiligen Unterschiede. Beispiel für ein Phylogramm stellt Abb. 2 dar. Sind die horizontalen Äste sehr kurz, gibt es mehrere Interpretationsmöglichkeiten. Zum Beispiel können sich mehrere Linien innerhalb kurzer Zeit aufgespalten haben (so auch die Interpretation von Moore et al. 2007), oder inkongruente Merkmale legen alternative Topologien nahe, so dass die kurzen internen Äste eher auf widersprüchliche Information als auf tatsächliche Artaufspaltungs-Ereignisse zurückzuführen sind. Selbst eine ausgezeichnete statistische Absicherung solcher Äste kann irreführend sein im Hinblick auf die „wirkliche“ Phylogenie (vgl. Rokas & Carroll 2006). Einige der generellen Probleme in Bezug auf die phylogenetische Rekonstruktion, insbesondere bei weit entfernter Verwandtschaft, diskutieren Martin et al. (2005).
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