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(Nichts) Neues von Lucys Großfamilie
Lucys „Baby-Oma“ bestätigt menschenaffenartigen Körperbau

von Sigrid Hartwig-Scherer

Studium Integrale Journal
14. Jahrgang / Heft 1 - April 2007
Seite 33 - 35


Zusammenfassung: In Dikika, Äthiopien, ca. 70 km südlich von Hadar, wurde ein Teilskelett mit der Katalogbezeichnung DIK 1-1 eines 3-jährigen mutmaßlich weiblichen Australopithecus afarensis gefunden (Alemseged et al. 2006). Es ist mit 3,3 MrJ (Millionen radiometrische Jahre) knapp 0,2 MrJ (Wynn et al. 2006) älter als „Lucy“, ein vor über 25 Jahren entdecktes sensationell gut erhaltenes A. afarensis-Skelett. Der neue juvenile (jugendliche) Fund ist mit mindestens 50% Erhaltung noch um einiges vollständiger als „Lucy“ und damit das vollständigste Fossil früher Hominiden.

Der neue Fund bestätigt viele frühere Erkenntnisse über den insgesamt menschenaffenartigen Körperbau, die kombinierten Fortbewegungsweisen (mosaikartige Morphologie), über eine allenfalls geringfügige Verzögerung der ontogenetischen Entwicklung gegenüber den Menschenaffen und die arboreale Fortbewegungsart dieser Art (Klettern im Geäst) (Wood 2006).




Erhaltungszustand
Abb. 1: „Es ist ein Mädchen! Das 'älteste' Baby stellt sich vor“ – so überschrieb die Pressestelle der Max-Planck-Gesellschaft am 20. September 2006 einen Bericht über den Fund des jugendlichen Australopithecus DIK 1-1. Bild: National Museum of Ethiopia, Addis Ababa.

Forschern unter der Leitung von Zeresenay Alemseged vom Max Planck-Institut in Leipzig über eine lange Zeitspanne von 3 Jahren (Ende 2000-2003) ausgegraben und über 5 Jahre lang mühselig von anhaftender Sandsteinmatrix befreit. Der ganze obere Körper war in einem sehr kompakten Sandsteinblock eingebettet und mit der Sandsteinmatrix so stark verklebt, dass die Befreiung der Fossilien sozusagen Sandkorn um Sandkorn erfolgen musste und noch muss. Nun ist der Fund zumindest soweit freigelegt, dass eine Veröffentlichung in Nature möglich wurde (Abb. 1).

Die Erhaltung des Skeletts ist einer raschen Einbettung zu verdanken, möglicherweise durch eine plötzliche Überflutung verursacht. Ob das Tier bei der Flut umkam oder kurz zuvor starb, ist unklar. Es konnte jedoch nur kurze Zeit vor der Einbettung gestorben sein, da der Körper als Ganzes eingebettet wurde.

Das Skelett umfasst zum einen den ziemlich kompletten Schädel mit Gesicht und fast allen Zähnen, Schädelbasis und Gehirnschädel inklusive einem guten Gehirnabdruck, der unter den abgeplatzten Scheitelbeinen sichtbar wurde. Sehr ungewöhnlich ist der Nachweis des überaus zarten und fast nie erhaltenen Hyoids (Zungenbein), das für die Australopithecinen bislang völlig unbekannt war. Außerdem ist vom oberen Körperstamm die fast komplette Hals- und Brustwirbelsäule inklusive beider Schulterblätter, vieler Rippen und beider Schlüsselbeine erhalten. Außer vom körperfernen Ende des Oberarmknochens und dem rechten
Mittelfingerknochen ist jedoch nichts von den Vorderextremitäten erhalten. Die untere Körperhälfte ist ebenfalls etwas fragmentarischer; das Becken fehlt, aber Teile der Oberschenkel inklusive Kniekapsel, größere Fragmente beider Schienbeine, ebenso ein fast komplettes Fußskelett sind vorhanden.

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Geologisches und ontogenetisches Alter und die Bestimmung der Art

Jonathan Wynn von der Universität St. Andrews, England datierte zusammen mit Kollegen die über und unter dem Fund liegenden vulkanischen Sedimente auf 3,3 MrJ (Tephrostratigraphie). Die vulkanischen Aschen lassen sich anhand ihrer „chemischen Fingerabdrücke“ mit verschiedenen datierten Vulkaneruptionen korrelieren. Unter den gängigen Annahmen der radiometrischen Datierung scheint dieses recht genaue Ergebnis innerhalb der Fehlergrenze von +/– 40 000 rJ zu liegen.

Das ontogenetische Alter des Skelettes bei seinem Tod erfolgte durch Vergleiche mit heute lebenden Menschenaffen und Menschen: der Entwicklungsstand von Milch- und der Adultbezahnung (Zähne der Erwachsenen), die in Ober- und Unterkiefer als Keime angelegt sind und durch computertomographische Bildgebung gut untersucht werden können, ergeben ein ganz spezifisches Muster. Dieses Entwicklungsmuster stimmt am besten mit dem eines dreijährigen Schimpansen überein. Die Größe der fertig angelegten Adultzahnkronen soll zudem gleichzeitig ein Indiz für das Geschlecht sein: Die relativ kleine Kronengröße soll auf ein Weibchen hindeuten; die geringe Kronengröße kann aber auch andere Gründe haben.

Typisch für die Zugehörigkeit zu A. afarensis (im Unterschied zu A. africanus) sind die schmale Nasenöffnung, die fehlenden Knochenverstrebungen im Gesicht und die langen schmalen stundenglasförmigen Nasenbeine. Bei der Diagnose fehlt bemerkenswerterweise ein Vergleich mit der Gattung Kenyanthropus. Mit Kenyanthropus platyops gemeinsam hat der neue Fund – im Gegensatz zu A. afarensis – die relativ kleineren Zähne, einen kleinen äußeren Gehöreingang (wie bei Affen) und ein relativ flaches Gesicht. Dass der Vergleich mit Kenyanthropus nicht gezogen wird, könnte ein Indiz dafür sein, dass die Art Kenyanthropus platyops doch noch nicht genügend etabliert ist.

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Fortbewegung – das bekannte Mosaik

Der Erhaltungszustand des postkraniellen Skeletts bestätigt eine Reihe von Rückschlüssen bezüglich der Fortbewegungsart von Australopithecus, die vorher nicht in dieser Klarheit möglich war. Die Fragmente der Ober- und Unterschenkel sowie die Fußkonstruktion legen die Möglichkeit zur zweibeinig aufrechten Fortbewegung nahe. Die anderen Skelettmerkmale deuten eher auf eine arboreale Lebensweise hin.

Die Stellung von Australopithecus
im Übergangsbereich
Menschenaffe – Mensch
wird weiter in Frage gestellt.

Die Morphologie der Schulterblätter ist dezidiert affenähnlich. Sie erinnert an die eines Gorillas mit den mehr nach oben weisenden Gelenkpfannen. Der Gorilla ist ein schwergewichtiger Knöchelgeher, der in jungen Jahren das Hangeln ausübt, was sich in der Überkopfpositionierung des Schultergelenks zeigt. Eine weitere Bestätigung der hangelnden Fortbewegung bei den Australopithecinen ist der (einzig überlieferte) stark gekrümmte Fingerknochen, der an den eines dreijährigen Schimpansen erinnert. Schimpansen kommen mit nur leicht gebogenen Fingerknochen auf die Welt und entwickeln innerhalb der ersten Jahre durch das vermehrte Hangeln eine stärkere Krümmung.

Einen weiteren Hinweis auf die nicht-aufrechte Fortbewegung bieten winzige Strukturen im Innenohr, die für den Gleichgewichtssinn zuständig sind: Die Bogengänge, die der Orientierung im Raum dienen, sind drei in die drei Raumdimensionen weisende flüssigkeitsgefüllte Kanälchen. Ihre Konstruktion ist ähnlich der von Afrikanischen Menschenaffen und von A. africanus, und weist auf eine nicht-aufrechte Orientierung im Raum hin.

Da die Präparation noch nicht abgeschlossen ist und einige Skelettteile noch in der Sandmatrix stecken, können weitere wichtige Teile noch nicht diskutiert werden. So weiß man wenig über die Rippenform und ihre Anordnung zum Brustkorb (Tonnen- oder Trichterform), die für die Analyse der Körperhaltung und Fortbewegungsart von A. afarensis wichtig sind. (Entsprechend der anderen Befunde kann man erwarten, dass der Brustkorb trichterförmig wie beim Schimpansen und nicht tonnenförmig wie beim Menschen ist.)

Warum die Erkenntnis über die arboreale Fortbewegung die Autoren „geschockt“ hat, wie Co-Autor Fred Spoor in einem Science-Kommentar erklärte (Gibbons 2006), ist völlig unverständlich: Denn die kletternde Fortbewegungsweise war in den letzten Jahrzehnten häufig diskutiert worden – mit zunehmender Datenbasis, wenn auch diese Sichtweise von einigen Anthropologen heftig bekämpft wurde.

Bei diesen und ähnlichen Befunden scheint immer wieder ein uralter Streit zwischen zwei Hypothesen zur Fortbewegung aufzubrechen: Hielten sich „Lucy“ und ihre Kumpanen tatsächlich länger und gewohnheitsmäßig auf Bäumen auf oder haben sie diese affenähnlichen Merkmale nur als „Andenken“ an ihre Vorfahrenschaft mit sich herumgetragen, ohne sie zu benötigen? Für letztere Position gibt es jedoch keine empirische Basis. Die arboreale Lebensweise ermöglichte dieser Art, nächtliche Quartiere im Baum aufzusuchen, Räubern zu entkommen und Fruchtbäume zu plündern; das Merkmalsmosaik bezüglich der Fortbewegungsweise ist dadurch plausibel erklärbar. Der neue Hominide hat die erste Hypothese zusätzlich unterstützt.

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Gehirnentwicklung – menschlich verlangsamt?

Dik 1-1 hat mit seinen 3 Lebensjahren ein geschätztes Gehirnschädelvolumen von maximal 330 ccm (275-330 ccm) und damit möglicherweise erst 65-88% des erwachsenen Gehirnvolumens erreicht (es werden für weibliche erwachsene A. afarensis-Formen 375-425 ccm veranschlagt). 3-jährige Schimpansen besitzen schon 90% der Größe der Erwachsenen. Aus diesem unterschiedlichen Verhältnis will man eine gewisse Verlangsamung der Entwicklung ablesen, was eine Tendenz in Richtung menschenartig langsame Entwicklung bedeuten könnte. Im Originalartikel jedoch wird betont, dass im Alter von 3 Jahren keine klare Unterscheidung zwischen Affen und Menschen möglich ist, da die Überlappungen der beiden Formen zu groß sind (eine gute Unterscheidung ist nur bei noch jüngeren Formen möglich). In einem Kommentar wird als mögliche Alternative für das kleine Gehirn auch ein schlechter Ernährungszustand angeführt (Gibbons 2006).

Über den Gehirnabdruck, der sich in der Sandsteinmatrix erhalten hat, wurde noch nichts veröffentlicht – er könnte interessante Aufschlüsse über die Position typischer Oberflächenstrukturen des Gehirns ergeben, die Affe und Mensch unterscheiden.

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Ein affenähnliches Zungenbein

Sehr interessant ist das erhaltene Zungenbein (Hyoid), ein fragiler Knochen des Stimmapparates, der in Fossilfunden nur sehr selten erhalten ist. (Das älteste bekannte Zungenbein stammt von einem Neandertaler.)

Die Morphologie des Dikika-Zungenbeins ist den afrikanischen Menschenaffen sehr ähnlich. Auch wenn man den Zusammenhang von Morphologie und Funktion beim Hyoid noch nicht gut kennt, vermutet man aufgrund der Ähnlichkeit mit den Afrikanischen Menschenaffen luftgefüllte Kehlsäcke im Schlund. Eine artikulierte Sprachfähigkeit wie beim Menschen ist damit recht unwahrscheinlich.

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Fazit

Insgesamt bestätigen die Merkmale des neuen Australopithecus-Fund eine spezielle nichtmenschliche Morphologie. Die weithin verbreitete Vorstellung, die Gattung Australopithecus passe recht gut in ein Übergangsfeld zwischen ausgestorbenen Menschenaffen und dem Menschen, wird durch diesen neuen Fund weiter in Frage gestellt.

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Literatur

Alemseged Z, Spoor F, Kimbel WH, Bobe R, Geraads D, Reed D & Wynn JG (2006)
A juvenile early hominin skeleton from Dikika, Ethiopia. Nature 443, 296-301.
Gibbons A (2006)
Lucy’s „Child“ offers rare glimpse of an ancient toddler. Science 313, 1716.
Wood B (2006)
Palaeoanthropology: A precious little bundle. Nature 443, 278-281.
Wynn JG, Alemseged Z, Bobe R, Geraads D, Reed D & Roman DC (2006)
Geological and palaeontological context of a Pliocene juvenile hominin at Dikika, Ethiopia, Nature 443, 332.

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