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von Reinhard Haupt & Werner Lachmann
Interdisziplinarität, der Blick über die eigenen Fachgrenzen hinaus, führt in den Wissenschaften, auch in der Ökonomie, oft zu überraschenden Einsichten und Erkenntnisdurchbrüchen - man denke etwa an Analogien zum Kreislaufgeschehen der Physiologie in der Makroökonomie oder zum Systemdenken der Kybernetik in der Unternehmenspolitik.
Einen ähnlich wichtigen Rang nimmt das Paradigma der Evolution in einzel- und gesamtwirtschaftlicher Perspektive ein. Die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion um Stabilität und Flexibilität, um Optimierung und Transformation, um Ordnung und Erneuerung und viele andere Schlüsselthemen greift häufig auf dieses biologische Deutungsmuster zurück.
Mit diesem Band liegen Beiträge einer Tagung vor, die von der Fachgruppe Wirtschaft der Studiengemeinschaft WORT und WISSEN in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft zur Förderung von Wirtschaftswissenschaften und Ethik e. V. (GWE) im Herbst 1993 im Evangelischen Stift Reinhardsbrunn (Friedrichroda/Thüringen) veranstaltet wurde. Diese Tagung beschäftigte sich mit der Übertragbarkeit des evolutionären Denkens auf wirtschaftliche Anpassungsvorgänge.
Im einzelnen sollte herausgearbeitet werden,
- welche Evolutionsaussagen für die Erkenntnisfindung in der Volks- und Betriebswirtschaftslehre fruchtbar sind,
- in welchen Zusammenhängen die Begriffe Evolution und Selbstorganisation für wirtschaftliche Anpassungs- und Veränderungsprozesse angemessen sind,
- in welchem Ausmaß unausgesprochen außerfachliche Menschen- und Weltbilder von einer evolutionären Wirtschaftslehre vermittelt werden u. a.
Wandel, Anpassung, Innovation, Transformation, Selbstorganisation usw. sind vielzitierte Prioritäten, Programme und Paradigmen in aktuellen technischen, ökonomischen und sozialen Systemen und Ansätzen, wie die folgenden Beispiele zeigen:
- Die Chaosforschung macht deutlich, daß sehr komplexe und unüberschaubare Abläufe und Reaktionen in technischen Systemen unter bestimmten Bedingungen günstiger mit unscharfen Steuerungsprinzipien der Fuzzy-Logik als mit starren Lösungsmustern bewältigt werden können. Hier werden "lineare" Kausalitätsstrukturen zugunsten von "lateralen" Denkprozessen aufgegeben.
- Evolutionäre Verfahren der technischen oder ablauforganisatorischen Optimierung betonen zufallsgestützte, mutationsähnliche, aber plausible trial-and-error-Schritte einer Lösungsverbesserung.
- Das freie Spiel von Angebots- und Nachfragekräften über den Markt führt aus einer volkswirtschaftlichen Sicht zu einer erstaunlichen Ordnung, die sich scheinbar selbst organisiert, wenn sie auch aufgrund von unabhängigen Entscheidungen einer Vielzahl von Individuen zustandekommt.
- In wirtschaftsgeschichtlicher Betrachtung lassen Volkswirtschaften, die durch einen auffälligen Mangel an Naturvorkommen (Bodenschätze, Klima usw.) charakterisiert sind, erstaunliche Lernprozesse und innovatorische Potentiale an Erfindungsreichtum oder Ausbildungsqualifikationen erkennen, die die natürlichen Restriktionen mehr als kompeniseren.
- Moderne personalwirtschaftliche Konzepte betonen die Motivationsfähigkeit von teilautonomen Gruppen, von dezentralen Entscheidungskompetenzen, von selbstorganisierter Teamarbeit u. a.
Die Mechanismen der biologischen Evolution sind Variation und Selektion. Variation bedeutet das Entstehen neuer Lebensformen, Selektion bedeutet das Überleben derjenigen Lebensformen, die am besten an die Umwelt angepaßt sind.
Evolutionäre Prozesse in der Biologie sind im Rahmen enger, definierter Schritte beobachtbar und bestätigt. Dabei handelt es sich um Veränderungen innerhalb vorgegebener Organisationsmerkmale, z. B. um quantitative Veränderungen bereits vorhandener Organe, Strukturen oder Baupläne. In diesem Zusammenhang ist auch von Mikro-, infraspezifischer oder gradueller Evolution die Rede. Diese hebt sich ab von einem Begriff einer Makro-, transspezifischen, prinzipiellen Evolution, nach der die Entstehung neuer bisher nicht vorhandener Organe, Strukturen oder Bauplantypen gedacht wird, d. h. die Entstehung qualitativ neuen Materials. Nach dieser Unterscheidung ist z. B. die Entstehung verschiedener Hunderassen aus einer Urform ein Beispiel für Mikroevolution im Gegensatz zu der Entwicklung der Säugetiere aus Reptilien, die ein Beispiel für Makroevolution darstellen würde. Im ersten Fall geht es um die Variation bereits vorhandener Strukturen (Eigenschaften des Fells, Form der Schnauze usw.), im zweiten Fall um die Bildung neuer Strukturen (Haare, Milchdrüsen usw.).
In ökonomischen und sozialen Systemen läßt sich diese Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroevolution kaum nachvollziehen: Die Idee einer Evolution im Sinne einer Höherentwicklung ist für ökonomische Zusammenhänge fremd und unsachgemäß; jedenfalls ist eine Stützung makroevolutiver Vorgänge durch die Ökonomie kaum möglich. Dennoch findet man hier und da im ökonomischen Schrifttum eine weltanschaulich fundierte makroevolutionäre Übertragung von mikroevolutionär fundierten Erkenntnissen auf wirtschaftliche Zusammenhänge - man denke nur an viele Äußerungen der New-Age-Managementliteratur.
Eine weitere Unterscheidung zwischen biologischen und ökonomischen Systemen scheint darin zu liegen, daß Variationen vielfach geplante und nicht zufällige Entscheidungen voraussetzen (z. B. Produktvariationen, Eintritte in neue Marktsegemente, Produkteliminationen usw.), wenn auch durchaus ungeplante Veränderungen (z. B. Zufallserfindungen im FuE-Prozeß) hinzutreten können. Das Ergebnis der Variationen ist selbstverständlich ungewiß, die Variationen selbst sind aber oft das Ergebnis rationaler Planungen.
Die veranstaltenden Organisationen, die Studiengemeinschaft WORT und WISSEN und die Gesellschaft zur Förderung von Wirtschaftswissenschaften und Ethik e. V. (GWE), stellen sich den Herausforderungen des christlichen Glaubens durch die Erkenntniswelt der wissenschaftlichen Fachdisziplinen. In der Studiengemeinschaft WORT und WISSEN finden sich Christen aus natur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachrichtungen zusammen, die Denkansätze im Spannungsfeld von Glauben und Wissenschaften unter einer schöpfungsorientierten Perspektive erörtern wollen. Die Gesellschaft zur Förderung von Wirtschaftswissenschaften und Ethik e. V. widmet sich der Förderung von Forschung und Lehre in den Wirtschaftswissenschaften auf der Grundlage einer Ethik, die auf dem biblischen Welt- und Menschenbild beruht. Ihre besonderen Brennpunktthemen konzentrieren sich auf den Fragenkreis der Wirtschaftsethik, der Entwicklungspolitik und der ökologischen Wirtschaftspolitik. Die gemeinsamen Arbeitstagungen beider Organisationen im Bereich der Wirtschaftswissenschaften richten sich an Experten, die durch ihre Tätigkeit in Forschung, Lehre, Ausbildung und Praxis an einer biblischen Aufarbeitung von grundsätzlichen und aktuellen volks-, betriebs- und sozialwirtschaftlichen Fragen interessiert sind.
Die vorliegenden Beiträge unter dem Generalthema "Selbstorganisation in Markt und Management?" verfolgen evolutionäre Prinzipien in volkswirtschaftlichen, betriebswirtschaftlichen und technisch-ingenieurwissenschaftlichen Zusammenhängen. Frank Mehrens untersucht in seinem Beitrag "Mit Darwin zum Optimum? Optimierung in Biologie und Betriebswirtschaftslehre" Verfahren des Operations Research, also der mathematisch gestützten Betriebswirtschaft, die heuristische, intuitiv plausible Schritte von Lösungsverbesserungen mit zufälligen Lösungsgenerierungen verbinden. Im Vergleich mit Ergebnissen von Optimalverfahren und anderen Näherungsverfahren können solche "Genetischen Algorithmen" durchaus bestehen.
Günter Hesse beschäftigt sich unter dem Thema "Wirtschaftswissenschaftliche Evolutionstheorie. Gründe und Beispiele" mit einer der elementaren Fragestellungen der ökonomischen Disziplin, nämlich mit der Erklärung der Veränderung der Handlungsgrundlagen der Menschen in der geschichtlichen Zeit. Obgleich die Bedeutung dieser Fragestellung immer dringlicher geworden ist, nimmt sie in der Nationalökonomie ein Nischendasein ein. In der evolutorischen Ökonomik wird ein zeitgemäßer Ansatz gesehen, der dieser Frage gerecht wird, wie am Beispiel der Entstehung modernen Wirtschaftswachstums gezeigt wird.
Werner Lachmann geht mit dem Thema "Interdependenzen von marktwirtschaftlichem und demokratischem System" der oberflächlichen Gleichsetzung von Marktwirtschaft mit Demokratie nach. Er zeigt auf, daß die Funktionsfähigkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung durch ein unbeschränktes demokratisches System gefährdet ist. Eine verfassungsstaatliche Begrenzung der Demokratie, z. B. die Ausgliederung von wichtigen ökonomischen Entscheidungen aus dem demokratischen Prozeß, sichert hingegen wirtschaftlichen Wohlstand und damit auch das politische System.
Spiridon Paraskewopoulos behandelt "Probleme bei der Transformation von Wirtschaftssystemen". Dabei betrachtet er den mit dem Fall des Sozialismus verbundenen säkularen Umgestaltungsprozeß der ehemaligen planwirtschaftlichen in marktwirtschaftliche Ordnungen. Das Gelingen dieses Transformationsvorgangs hängt von der gleichzeitigen Lösung einer Vielzahl miteinander verbundener Herausforderungen ab, wie der plötzlich aufbrechende Anspruchskonsum, das politische Vakuum, die anpassungsbedingte hohe Arbeitslosigkeit, die Finanzierungslast u. a. Wird der Übergang nicht spürbar als entschlossene Perspektive in eine vertrauenswürdige Zukunft erlebt, drohen globale soziale und wirtschaftliche Krisenbewegungen.
Karl Farmer beschäftigt sich unter dem Thema "Umweltverschmutzung, Unternehmerverhalten und die 'Evolution' des Marktsystems" mit dem klassischen Anschauungsfall, das das öffentliche Bewußtsein mit Marktversagen assoziiert, nämlich dem Umweltproblem. Umweltverschmutzung entsteht darnach durch Marktpreise, die nicht die tatsächlichen Kosten der Umweltnutzung angeben. Dagegen betonen evolutorische Ökonomen die Bedeutung innovativer Unternehmer, die solche "Irrtümer" des Marktsystems erkennen und dessen "Evolution" durch das Aufspüren umweltfreundlicher Potentiale einleiten.
Reinhard Haupt befaßt sich unter dem Thema "Management zwischen Spontanität und Zielorientierung" mit dem Spannungsfeld zwischen Rationalitäts- und Nicht-Rationalitäts-Ausprägungen in der Betriebswirtschaftslehre. Unternehmensführung wird seit jeher mit dem Rationalprinzip identifiziert. Gleichwohl sind manche nicht-rationalen Managemententscheidungen im Unternehmensalltag zu beobachten. Während die traditionelle Managementlehre solche Phänomene begrenzter Rationalität eher am Rande behandelt, scheinen neuere Ansätze diese deutlicher ins Zentrum des ökonomischen Interesses zu rücken - ganz abgesehen von modischen, kurzlebigen Consulting-Entwürfen der Managementesoterik im Rahmen des New Age.
Evolution im Sinne der Anpassung und Erneuerung läßt schließlich auch die Stellung der Kirche zwischen gestern und morgen, zwischen der Überlebenskrise unter dem sozialistischen Materialismus und der Orientierungskrise unter dem liberalen Postmaterialismus, anklingen. Das Referat von Roland Hoffmann, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Thüringens, unter dem Thema "Anpassung oder Erneuerung? Kirche der Reformation - Reformation der Kirche", bezeichnenderweise am Reformationstag 1993 gehalten, widmet sich der zeitlosen und doch zeitnahen Verantwortung der Kirche für die Gesellschaft: Die Kirche hat alte Fragen neu zu beantworten. Statt sich anzupassen und Profil zu verlieren oder zu erstarren und Beweglichkeit zu verlieren, lebt sie von der Erneuerung.
Die Herausgeber danken den Autoren für ihre Vorträge und deren Überarbeitung zur vorliegenden schriftlichen Fassung. Ihr Dank gilt ferner den Gutachtern der einzelnen Beiträge, die die Manuskripte sachverständig und fachkritisch beurteilt und durch ihre konstruktiven Anregungen mitgeprägt haben. Schließlich gebührt Herrn Dipl.-Ök. Frank Mehrens Dank für die zuverlässige und kompetente organisatorische Vorbereitung der Fachtagung sowie für die sorgfältige und verantwortungsvolle redaktionelle Unterstützung der Herausgeber.
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