von Reinhard Haupt & Werner Lachmann
Die Fülle von Publikationen und Bekenntnissen zur Wirtschaftsethik
vermittelt den Eindruck, als sei der Graben zwischen Markt und Moral, zwischen
Geschäft und Glaube, kurz: zwischen Wirtschaft und Ethik, überwunden.
Besonders die verschiedenen Führungsgrundsätze, Verhaltenskodizes
und Firmenleitsätze bekannter Großunternehmen geben Anlaß
zur Frage: Haben solche Ethik-Bekenntnisse mehr als nur deklaratorischen
Charakter? Zugleich ist nicht zu bestreiten, daß Wettbewerbsvorteile
nicht nur durch Erfolg, sondern auch durch Ethik, nicht nur durch Macht,
sondern auch durch Moral, errungen werden.
"Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alles gedacht!" Diese Äußerung
in einer kürzlichen Bundestagsdebatte sollte das Eigeninteresse als
Antrieb der marktwirtschaftlichen Ordnung karikieren. In der Tat erweckt
bereits Adam Smith den Eindruck, als mache der Eigennutz eine besondere
Ethikbetonung im Wirtschaftsleben entbehrlich, wenn er in einem berühmt
gewordenen Zitat ausführt: "Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers
oder Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern
davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns
nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen
nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil."
Zwar wird nicht bestritten, daß ein Minimum an Sekundärtugenden
(wie Vertragstreue und Zuverlässigkeit) für die Funktionsfähigkeit
der Marktwirtschaft nötig ist. Aber nach der Meinung manches Experten
sorgt der Wettbewerb für beides, für Erfolg und Ethik, für
Gewinn und Gewissen.
Man kann einer solchen Position immerhin auch etwas abgewinnen, nämlich
die Einsicht: Ohne einen Ausgleich zwischen ökonomischen Voraussetzungen
und ethischen Überzeugungen wird es keine wirtschaftsethisch stabilen
Ordnungen geben. Idealisierte Maximalforderungen und normative Utopien,
ohne Rücksicht auf wirtschaftlich fundierte Zusammenhänge, werden
keine Überzeugungskraft und Akzeptanz entfalten können, sondern
im Gegenteil mit konjunkturellen Tiefs ins Abseits geraten. Wenn ethische
Ansprüche für die Wirtschaftsteilnehmer nicht einen gewissen
"appeal" haben, werden sie sich auch durch einen moralischen "Appell" kein
Gehör verschaffen.
Längerfristig mag der Graben zwischen marktwirtschaftlichen Gesetzen
und ethischen Prinzipien durch Unternehmensphilosophien auch tatsächlich
weniger gravierend erscheinen, nämlich durch "Unternehmensleitsätze",
"Ethikkodizes", "Handlungsmaximen" oder "Codes of Conduct", die Großunternehmen
quasi als ihr Grundgesetz publik machen (vgl. Lenk/Maring 1992). Sie stehen
damit in besonderem Öffentlichkeitsinteresse und können sich
nicht so ohne weiteres über gewisse Basisprinzipien hinwegsetzen.
Dieser Prozeß von Ansehen und Kontrolle kann im gewissen Maß
gewohnheitsprägend und meinungsbildend wirken.
Aber es wäre kurzsichtig, nicht auch die Konfliktlagen zwischen
beiden Welten, zwischen der Ökonomie und der Ethik, zwischen dem Management
und der Moral, zu berühren. Neben den glücklichen Fällen
des Gleichlaufs der Interessen beider Bereiche kann man unschwer auch Beispiele
für geschäftlichen Mißerfolg durch Beachtung ethischer
Prinzipien (z. B. Verzicht auf illegale Untertarif-Beschäftigung von
ausländischen Arbeitnehmern) aufführen. Nicht nur die Kongruenz,
sondern auch die Konkurrenz zwischen unternehmerischen Ansprüchen
und ethischen Maßstäben muß thematisiert werden. Die Redewendung
"Geschäft ist Geschäft" läßt dies erkennen: Im Geschäftsleben
gelten eigene Gesetze und nicht unbedingt Ethikprinzipien. Noch drastischer
wird der Konflikt zwischen Gewinn und Gewissen von Gabriel Laub karikiert:
"Streng nach ethischen Kriterien können nur Menschen außerhalb
der ökonomischen Zwänge leben: sehr Junge, sehr Alte, sehr Reiche,
sehr Arme, Außenstehende und Verrückte - und Philosophen, die
mit Ethik Geld verdienen" (Lenk/Maring 1992, 25).
Auf welche Weise kann auf ein stärker ethikkonformes Managementverhalten
Einfluß genommen werden? In einer marktwirtschaftlichen Ordnung liegt
es nahe, marktnahe Instrumente einzusetzen, die wirtschaftliche Anreize
für moralisches Verhalten hervorbringen. Man denke hier an Abgaben
und Sanktionen für unerwünschtes Verhalten oder Prämien
und Vergütungen für erwünschtes Verhalten. Wo marktwirtschaftliche
Instrumente versagen, ist das Recht durch Auflagen und Restriktionen gefragt.
Aber auch damit kann wirtschaftsethisches Fehlverhalten nicht gänzlich
verhindert werden. Es muß eine Überzeugung aus Einsicht und
Akzeptanz und eine Autorität von Werten und Maßstäben hinzutreten.
Markt, Macht und Moral bzw. Gewinn, Gesetz und Gewissen verkörpern
die drei Instrumentbereiche zur Förderung der Unternehmensethik.
An diese dritte Einflußvariable, die gewissensmäßige
Prägung, knüpfen Einsichten auf der Grundlage eines christlichen
Menschenbildes an. Mit anderen normativen Ansätzen hat die christliche
Glaubensüberzeugung das Wissen um eine Werte- neben einer Wertorientierung
im Management gemeinsam, also eine Ethikverantwortung jenseits von Wirtschaft
und Recht, von Abgaben und Auflagen bzw. von Anreizen und Vorschriften.
Aber anders als Konzeptionen einer dialogischen oder diskursiven Letztbegründung
von solchen wertbezogenen Einsichten lebt eine biblisch-christliche Managementphilosophie
von absoluten Normen: von der Herrschaft Gottes in der Welt, nämlich
von dem Maßstab der Person Jesu Christi, des Sohnes Gottes, von dem
Wissen um seinen stellvertretenden Tod und seine Auferstehung und schließlich
von der Erwartung seiner Wiederkunft (vgl. Kreikebaum 1996, 118 f.). Dieser
personale Bezug hebt auch die Ethikprägung des christlichen Glaubens
von Moralbindungen anderer Religionen ab: "Christus verkündet kein
christliches Programm. Er sagt nicht: Das ist die Wahrheit. Er sagt vielmehr:
Ich bin die Wahrheit. Er meint damit kein abstraktes Gesetz, sondern ein
konkretes Verhalten: handelnde Liebe" (v. Weizsäcker 1983, 112).
Die Beiträge dieses Bandes sind aus Vorträgen hervorgegangen,
die auf einer Tagung der Studiengemeinschaft WORT und WISSEN (W+W) sowie
der Gesellschaft zur Förderung von Wirtschaftswissenschaften und Ethik
e.V. (GWE) über "Ethik-Bekenntnisse in Unternehmensleitsätzen
und Firmenphilosophien" vom 07. bis 10. 11. 1996 in Friedrichroda (Thüringen)
gehalten worden sind.
Beide veranstaltenden Organisationen stellen sich den Herausforderungen
des christlichen Glaubens durch die Erkenntniswelt der wissenschaftlichen
Fachdisziplinen. In der Studiengemeinschaft WORT und WISSEN finden sich
Christen aus natur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachrichtungen
zusammen, die Denkansätze im Spannungsfeld von Glauben und Wissenschaften
unter einer schöpfungsorientierten Perspektive erörtern wollen.
Die Gesellschaft zur Förderung von Wirtschaftswissenschaften und Ethik
e.V. widmet sich der Förderung von Forschung und Lehre in den Wirtschaftswissenschaften
auf der Grundlage einer Ethik, die auf dem biblischen Welt- und Menschenbild
beruht. Ihre besonderen Brennpunktthemen konzentrieren sich auf den Fragenkreis
der Wirtschaftsethik, der Entwicklungspolitik und der ökologischen
Wirtschaftspolitik. Die gemeinsamen Arbeitstagungen beider Organisationen
im Bereich der Wirtschaftswissenschaften richten sich an Experten, die
durch ihre Tätigkeit in Forschung, Lehre, Ausbildung und Praxis an
einer biblischen Aufarbeitung von grundsätzlichen und aktuellen volks-,
betriebs- und sozialwirtschaftlichen Fragen interessiert sind.
Die vorliegenden Beiträge unter dem Generalthema "Unternehmensethik
- Wahre Lehre oder leere Ware?" behandeln Anspruch und Wirklichkeit, Begründung
und Bewährung sowie erfreuliche und enttäuschende Beobachtungen
von Moral im Wirtschaftsleben.
Dirk Matten befaßt sich unter dem Thema "Moral im Unternehmen:
Philosophische Zierleiste oder knappe Ressource?" mit Management-Konzeptionen
im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen Herausforderungen und gesellschaftlichen
Ansprüchen. Mehr und mehr sehen sich Unternehmen nicht nur unmittelbaren
Rentabilitäts-Erwartungen der Anteilseigner (shareholder), sondern
auch mittelbaren Verantwortungs-Erwartungen der Anspruchsgruppen im öffentlichen
Umfeld des Unternehmens (stakeholder) gegenüber. Der Beitrag vergleicht
heute stark diskutierte Begründungen für integrierte wert- und
wertebezogene Ansätze. Abschließend erörtert er biblische
Normen in ihrer Bedeutung für die Unternehmensführung in einer
pluralistischen, nicht-christlichen Umgebung.
Christine Lieberknecht beschäftigt sich unter dem Thema "Ethikkrise
im Management und Vertrauensverlust der Marktwirtschaft in den Neuen Ländern"
mit der rückläufigen Akzeptanz der Marktwirtschaft in Ostdeutschland.
Zu diesen Vorbehalten gegenüber der Leistungsfähigkeit unserer
Wirtschaftsordnung trägt neben verklärenden Illusionen über
die vergangene Ära des Sozialismus und neben der Betroffenheits-Erfahrung
des unerwarteten Ausmaßes an Beschäftigungsabbau auch der Vertrauensverlust
aufgrund von Enttäuschungen über offensichtliches Management-Fehlverhalten
(nutzlose Beratungsleistungen, sinnlose Versicherungen, unsolide Kreditverträge
usw.) beim "Aufbau Ost" bei.
Robert Wolff beschreibt unter dem Thema "Marktwirtschaft im Unternehmen:
Der Arbeitnehmer als Kunde" in einem Fallbeispiel, das vom engagierten
Profil dieser Unternehmer-Persönlichkeit lebt, ein langjährig
erfolgreiches Modell einer Erfolgsbeteiligung der Mitarbeiter in einem
mittelständischen Unternehmen. Aber die Gewinnausschüttung ist
nur die zahlenmäßig sichtbare Oberfläche eines mitarbeiterorientierten
Führungsstils, der die Arbeitnehmer-Bedürfnisse nach Anerkennung
und Sicherheit ernst nimmt. Diese Kundenorientierung, nicht nur auf dem
Absatz-, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt, ist Ausdruck einer konsequenten
Umsetzung marktwirtschaftlichen Denkens des Unternehmens nach außen
und innen.
Werner Lachmann geht in seinem Thema "Verantwortung zwischen Eigen-,
Gruppen- und Gesamtinteresse" auf den Eigennutz im Spannungsfeld zwischen
Selbstsucht und Gemeinwohl ein. Das Eigeninteresse, eingebunden in institutionelle
Regeln fairen Wettbewerbs, kann mehr zum Gesamtinteresse beitragen als
Appelle und Utopien der Nächstenliebe. Egoismus wird nicht durch intakte
Marktbedingungen hervorgebracht, sondern durch defekte Rahmenbedingungen
gefördert. Aber auch die überzeugendste Institutionenethik kommt
nicht ohne Individualethik aus. Hier liegt die Bewährungschance der
Neuschöpfung der Persönlichkeit nach dem biblischen Menschenbild.
Zusammenfassend thematisiert der Band Fragen der Unternehmensethik,
und zwar sowohl grundsätzliche, konzeptionelle Entwürfe als auch
Probleme der realen Erfahrungswelt. Wirtschaftsethik wird damit im Spektrum
zwischen den Extremen "wahre Lehre" und "leere Ware" diskutiert.
Die Herausgeber danken den Autoren für ihre Vorträge und deren
Überarbeitung zur vorliegenden schriftlichen Fassung. Ihr Dank gilt
ferner den Gutachtern der einzelnen Beiträge, die die Manuskripte
sachverständig und fachkritisch beurteilt und durch ihre konstruktiven
Anregungen mitgeprägt haben. Schließlich gebührt Herrn
Dipl.-Ök. Frank Mehrens Dank für die zuverlässige und kompetente
organisatorische Vorbereitung der Fachtagung sowie für die sorgfältige
und verantwortungsvolle redaktionelle Unterstützung der Herausgeber.