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Stichlinge: Evolution oder Allelfrequenzverschiebung?

von Niko Winkler

Studium Integrale Journal
12. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2005
Seite 76 - 77


Zusammenfassung: Marine Stichlinge tragen eine Panzerung aus Knochenplatten, die Süßwasserarten fehlt. Hauptverantwortlich dafür sind Unterschiede im Ectodysplasin-Gen. Es zeigte sich, daß dieses Gen in zwei Varianten (Allele) existiert und daß das Allel „ungepanzert“ auch in marinen Stichlingen – mit geringer Häufigkeit – bereits vorkommt. Die fehlende Panzerung der Süßwasser-Stichlinge (die aus marinen Arten entstanden sind) ist daher eher ein Selektions-, aber kein Evolutionsereignis.


Inhalt
•  Einführung
•  Neue Befunde
•  Deutungen
•  Fragen
•  Literatur


Einführung
Abb. 1: Oben mariner Stichling mit kompletter Panzerung (Meer vor Japan), unten Süßwasserstichling aus dem Paxton Lake, Ohio. (Foto: W. Cresko, University of Oregon, Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

In der letzten Ausgabe von Studium Integrale journal wurde bereits über Stichlinge und die Veränderungen der Panzerung und Bestachelung von Süßwasserarten gegenüber marinen (im Meer lebenden) Arten berichtet (Winkler 2005). Marine Stichlinge sind mit einer kompletten Panzerung ausgestattet und besitzen ebenfalls Beckenstacheln – beides vermutlich ein Schutz gegen Fraßfeinde im Meer. Die Stichlinge besitzen aber auch das Potential, sich an Süßwasser anzupassen, doch in den dortigen Lebensräumen sind die Fische nahezu ungepanzert und ohne Beckenstacheln (Abb. 1). Die äußeren Ursachen dafür sind unklar (fehlende Feinde, fehlendes Calcium oder ähnliches?). Bekannt ist jedoch, daß diese Veränderung in der Hauptsache von einem bestimmtem Genort gesteuert wird.

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Neue Befunde

Als hauptverantwortlicher Genort wurde kürzlich das Gen für Ectodysplasin (EDA) ausgemacht. EDA-Mutationen treten auch bei anderen Wirbeltieren auf und verursachen dort z.B. den Verlust oder die Fehlentwicklung von Haaren, Zähnen und Schweißdrüsen.

Die Autoren der neuen Stichlingsstudie verglichen nun die EDA-Gene von komplett gepanzerten marinen Tieren mit ungepanzerten Süßwasser-Arten und fanden bis zu vier Mutationen im EDA-Gen. Diesen Veränderungen im EDA-Gen wird der Wegfall der Panzerung zugeschrieben. Diese Mutationen sind überraschenderweise bei allen untersuchten Süßwasserarten (mit einer Ausnahme aus Japan) dieselben, obwohl die untersuchten Stichlinge über den ganzen Globus verteilt gefangen wurden. Desweiteren konnte festgestellt werden, daß die EDA-Variante (=Allel) für „ungepanzert“ auch in marinen Fischpopulationen in geringer Anzahl (=Frequenz) vorkommt. Ca. 0,2-3,8% der marinen Stichlinge (je nach Population) besitzen diese Variante wenigstens in einer Kopie.

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Deutungen

Wie kann man nun die untersuchten evolutiven Prozesse (d.h. gepanzerte marine Arten gegenüber ungepanzerten Süßwasserarten) aufgrund der neuen Daten bewerten? Es gäbe drei Möglichkeiten:

  1. Das Gen, das eine Reduktion in der Anzahl der Panzerplatten verursacht, ist möglicherweise in geringer Frequenz in der Ausgangspopulation bereits vorhanden. In diesem Fall würden lediglich bereits bestehende genetische Unterschiede durch die Umweltbedingungen ausgewählt (Selektion) und dadurch eine Evolution vorgetäuscht.
  2. Manche Gene – hier das EDA-Gen – sind für Mutationen besonders empfänglich, sei es durch ihre Größe, Struktur der regulierenden Anteile oder die Anwesenheit von „hotspots“ für die Umlagerung, Einfügung oder Verlust von Genteilen. Das würde bedeuten, daß bestimmte Mutationen des EDA-Gens, welche die ungepanzerte Form hervorbringen, aus unbekannten Gründen bevorzugt sind.
  3. Nur eine sehr begrenzte Anzahl von Änderungen (Mutationen) erlaubt die Entstehung einer bestimmten Struktur (hier: Anzahl und Art der Panzerung), ohne nachteilig für die Überlebensrate der Nachkommen zu sein.
Die erstmalige Entstehung
der Panzerplatten und Beckenstacheln
der marinen Arten bleibt ungeklärt.

Colosimo und Kollegen (2005) kommen aufgrund ihrer Daten zum folgenden Schluß: „Die Anwesenheit gleichartiger Veränderungen des EDA-Gens in weltweit verteilten Populationen drängt die Vermutung auf, daß die Selektion bestehender Varianten den vorherrschenden Mechanismus darstellt“ (Übertragung vom Autor, Hervorhebung nicht im Orinigal). Mit anderen Worten: Vom EDA-Gen existieren mindestens zwei Varianten, also Allele, eines für „gepanzert“ und eines für „nicht-gepanzert“. Das Allel „nicht-gepanzert“ kommt in geringer Anzahl in marinen Fischen vor.

Wanderten diese marinen Tiere in Süßwasser ein, so wird die Variante „ungepanzert“ selektiert. Bei der „Evolution“ von Süßwasser-Stichlingen handelt es sich also eher um eine Verschiebung der Häufigkeit einer bestimmten Genvariante, eine Allelfrequenzverschiebung.

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Fragen

Warum kommt aber das EDA-Allel für „ungepanzert“ in dieser Form überhaupt in marinen Populationen vor? Die Antwort auf diese Frage bleibt spekulativ. Die Autoren vermuten, daß marine Fische, die Träger der „ungepanzerten“ Version des EDA-Gens sind, unter bestimmten Umständen einen Vorteil haben könnten, der dafür sorgt, daß diese Genvariante nicht verloren geht. Oder es kommt eventuell zu Paarungen mit ins Meer gespülten Süßwasserstichlingen.

Unklar bleibt auch, warum das EDA-Gen nur in den beiden beobachteten Allelformen auftritt. Sind andere Mutanten (also andere Allele) nicht „erlaubt“, weil selektionsnachteilig (siehe 3. Punkt weiter oben)? Einzig eine japanische Süßwasser-Population bot eine weitere Variante von ungepanzerten Fischen. Ihr EDA-Gen ist allerdings unverändert gegenüber den marinen Arten; die Veränderungen, die dort zum Verlust der Panzerung führten, müssen an anderen Stellen im Genom liegen.

Zusammenfassend kann man sagen, daß die „Evolution“ von ungepanzerten Stichlingen aus gepanzerten Vorfahren in der Hauptsache eine Allelfrequenzverschiebung darstellen dürfte. Da das EDA-Allel „ungepanzert“ durch Mutationen aus dem Allel „gepanzert“ in der Vergangenheit (vielleicht auch noch gegenwärtig ablaufend) entstanden sein könnte, kann man bestenfalls von mikroevolutiven Ereignissen sprechen. Mit Evolution ist eigentlich die Entwicklung von neuen Strukturen gemeint. Die erstmalige Entstehung der Panzerplatten und Beckenstacheln der marinen Arten bleibt ungeklärt, der Verlust der Panzerung ist auf einen Funktionsverlust des EDA-Gens zurückzuführen.

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Literatur

Winkler N (2005)
Über genetische Schalter bei Stichlingen. Stud. Int. J. 12, 32-34.
Colosimo PF, Hosemann KE, Balabhadra S, Villarreal G Jr, Dickson M, Grimwood J, Schmutz J, Myers RM, Schluter D & Kingsley DM (2005)
Widespread parallel evolution in sticklebacks by repeated fixation of Ectodysplasin alleles. Science 307, 1928-1933.

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